10| Wille zu Leben
Gebannt starrte Hector auf die Nadel in seiner Haut. Ein brennender Schmerz durchzuckte seinen gesamten Körper wie der Schlag eines Blitzes. Hector war aufgesprungen, noch bevor Dr. Holland hatte die Spritze aus seinem Arm ziehen können.
Nun hing sie wie ein schlaffer Parasit an ihm. Schweratmend stolperte er durch den Raum. In einiger Ferne hörte er die Ärztin zu ihm sprechen. Oder? Sprach sie in einen Telefonhörer? Er konnte es nicht sagen.
Seine Zunge war taub und fühlte sich an, wie ein vollgesaugtes Stück Watte, das er im Mund mit sich herumtrug.
Vor seinen Augen verschwamm das Untersuchungszimmer. Er blinzelte ein paar Mal kräftig, doch keine Bewegung klärte seine Sicht. Panik stieg in seinen Gedanken auf und vernebelte ihm zusätzlich die Sinne.
Nur eine Eingebung dominierte alles, was in ihm vorging: Raus!
Stöhnend tastete er sich an der Wand entlang zur Tür. Immer wieder schallte sein Name hinter ihm her, die verzerrte Silhouette Dr. Hollands folgte ihm wie ein Geist. Wieder kniff er die Augen zusammen, während er verzweifelt nach der Türklinke griff und sie immer wieder verfehlte.
Eine Hand packte ihn an der Schulter.
"Hector, alles ist gut, setz dich bitte hin."
Er versuchte den Kopf zu schütteln, was ihm nur in einem Zeitlupentempo gelang. Als stünde er auf einer Schaukel, schwang das Bild vor seinen Augen versetzt zu seinen Bewegungen. Sein Blick rahmte Spritzen und Pflaster ein, die auf einem Sideboard gelagert waren, umgeben von allerlei Werkzeug, das er nicht kannte. Ein Ruck fuhr durch seinen Körper und schleuderte ihn kurz weg von diesem Höllenspielplatz, zurück in sein Zimmer, wo er auf dem Bett saß und sich mit seinen Eltern unterhielt.
"Du scheinst den Impfstoff nicht zu vertragen, du musst jetzt ruhig bleiben, Hector! Versuch, zu atmen."
Er runzelte die Stirn, was auf eine ähnlich langsamen Art und Weise geschah, wie das Ertasten der Türklinke. Blut rauschte in seinen Ohren, wie auch Dr. Hollands ernsthaft besorgt erscheinende Stimme.
"Hector!"
Endlich hatte er den kühlen Griff zu fassen bekommen. Mit aller Mühe stemmte er sich gegen die Tür, bis ihm auffiel, dass sie sich nach innen öffnete. "Weg", murmelte er und versuchte, zu ziehen, ohne dabei das Gleichgewicht zu verlieren.
Wo ist eigentlich Alyssa?
Konstant spürte er die Hand der Ärztin auf seiner Schulter, warf kurz einen Blick in ihre Augen, die überfordert den Raum durchsuchten.
Dann geschah etwas, womit er nicht gerechnet hatte. Die Tür schwang auf, federleicht, ohne, dass er auch nur einen Muskel angestrengt hätte. Keuchend fiel er durch den Rahmen in den dunklen Flur.
Schicksalsergeben begann Hector, den glatten Boden entlangzukriechen. Er war sich der Albernheit seiner Flucht sehr bewusst. Doch er würde nichts unversucht lassen, bevor...ja, bevor was?
Wovor hatte er solche Angst? Halluzinierte er?
"Komm, schnell", hörte er ein Flüstern über sich. Zunehmend fiel es ihm schwerer die Augen offen zu halten, da riss ihn jemand hoch. Aus dem Augenwinkel sah er die Tür des Untersuchungszimmers zufallen, den letzten Lichtstreifen seiner Vision erlöschen.
"Alyssa?", flüsterte er zurück. Nicht, weil er so wenig Aufmerksamkeit wie möglich erreichen wollte, sondern weil seine Stimme versagte.
"Nein." Hectors Knie gaben nach. In dem Armen seiner Rettung brach er zusammen. Mittlerweile glich seine Sicht derjenigen, eines Raftingfahrers. Kaum eine Silhouette war mehr auszumachen.
"Alyssa!" Und dann verstand er, dass sein Körper ihm nicht mehr gehorchte. Seine Augenlider flatterten ein letztes Mal, bevor sie den Zugang zu seiner Umgebung endgültig verschlossen.
Der dumpfe Druck auf sein Hirn machte ihn wahnsinnig. Er hätte geschrien, wäre er dazu im Stande gewesen, auch nur einen Ton von sich zu geben. Unter sich spürte er den Boden vorbeiziehen. Jemand hatte ihm unter die Arme gegriffen und zerrte ihn nun mit sich durch die Flure des Krankenhauses.
In Gedanken war Hector längst bei Lyn und Peter. "Heute wurde ich entführt. Ist das nicht ein absurder Satz? Man hat mich filmreif unter Drogen gesetzt und dann über den schimmernden Boden deiner ehemaligen Arbeit gezogen, Dad!"
Hatte man das? Womöglich hatte Dr. Holland Recht. Vermutlich bildete er sich jede einzelne Bewegung ein. Eine allergische Reaktion auf die Impfung, ganz plötzlich. Das passierte...oder?
Ein weiterer Ruck jagte durch seinen Körper. Erschrocken fuhr er hoch, bevor er sich wieder sinken ließ.
"Sorry, sorry, sorry, nicht mehr lange, dann kann ich dir helfen. Ganz ruhig!", hörte er die sanfte Stimme. "Scheiße!"
Hector wollte nicht wissen, was passiert war. Ob Retter oder Entführer, die Person stellte sich recht ungeschickt an. Ein Knall ließ ihn erneut zusammenzucken.
"Verzeihung", murmelte er, woraus die Außenwelt jedoch nur ein wirres Gemurmel und Gestöhne lesen konnte.
Der Untergrund, über den man ihn schliff wurde wieder weicher. Eine Hand strich ihm die Haare von der verschwitzten Stirn.
"Wer ist denn...oh damn, das...ist krass", sagte eine neue Stimme, die sich in das Geschehen seiner Halluzination einmischte.
"Hector!"
Hector versuchte, zu nicken, doch seine Muskeln gehorchten ihm weiterhin nicht.
"Gott, die werden mich umbringen."
"Du hast das richtige getan, sie werden es nie erfahren."
"Nein, nein, nein, die erschießen mich."
"Ist ja jetzt nicht so, als hättest du Familie, die auf dich wartet."
"Das nicht, aber einen Willen zu leben!?"
Hector hatte Mühe, dem Gespräch zu folgen. Wer wurde erschossen, weil er was getan hat? Wille zu Leben? Den hatte er auch.
"Gib mir was davon", grummelte die andere Stimme. "Und jetzt verpiss dich, bevor die dich noch finden. Ärzte werden sauer, wenn ihnen die Patienten weglaufen."
"Sehe ich für dich wie ein Patient aus?"
"Jeder Mensch, der freiwillig einen Fuß in diese Einrichtung setzt, ist für mich ein Patient."
"Ich bin nicht freiwillig gekommen."
Die darauffolgende Stille ließ Hector fast ertauben, so laut hörte er das Blut durch seinen Körper fließen. Er versuchte erneut, die Augen zu öffnen. Wieder blieb er erfolglos. Auch in seiner Mission, herauszufinden, wer sich über seinen bewegungsunfähigen Leib hinweg unterhielt.
"Was ist denn los mit dem Typen? Das ist doch nicht normal?"
Eine Tür fiel ins Schloss, jemand zog ihn weiter. Doch diesmal dauerte die Reise nur knapp zwei Sekunden. Dann fühlte er etwas unter sich, das sowohl eine Decke, als auch ein Haufen Erde hätte sein können.
"Alyssa", murmelte er fragend. "Wo...?"
Die neue Stimme, von der Hector sich noch immer kein Bild machen konnte, beugte sich über ihn. Hier, wo man ihn hingebracht hatte, war es seltsam warm. Gleichzeitig fühlte er sich erfroren.
"Mach dir keine Sorgen, Hector. Ich kenne mich mit dir aus. Jetzt schlaf erstmal."
Nach kurzem Überlegen fügte sie hinzu: "Du bist jetzt in Sicherheit...für's Erste."
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