Kapitel 1
Ich lag unter einem LKW.
Steine drückten mir hart in die Rippen und mein Atem ging stoßweise.
Meine Finger krallten sich angespannt um meinen Rucksack. Das Schwarz der Unterseite des LKWs hing wie eine erdrückende Wolke über mir. Der beißende Gestank nach altem Benzin und Öl ließ meine Lunge bei jedem Atemzug zusammenkrampfen.
Ich dachte daran, wie andere in meinem Alter im Bett liegen würden. Aber das machte die Situation auch nicht besser. Die Kälte drang trotzdem gnadenlos durch meinen schwarzen Pulli und der leuchtend helle Minutenzeiger meiner Uhr bewegte sich quälend langsam. 0:15.
Super.
Mein Herz raste, während ich angespannt auf die Schritte lauschte. Adrenalin durchzog meinen Körper und ein kleines Lächeln erschien auf meinem Gesicht. Ich liebte diese Energie, die wie Feuer durch meine Adern schoss und konnte nicht verhindern, dass ich jeden Moment der Anspannung auskostete.
Die Situation war mehr als dumm. Genau heute hatte ich mich entschlossen Nachts aus dem Haus meiner Tante zu schleichen, die mich nach dem Tod meiner Mutter aufgenommen hatte. Die Nacht war einfach zu perfekt und ich konnte nicht immer Zuhause bleiben. Die letzten Wochen des Wartens lasteten schwer auf mir. Eine leise Erinnerung drängte sich vor. Das Haus meiner Tante. Es war nicht mein Zuhause. In meinem Zuhause hatte ich mit meinen Eltern gelebt. Mit meiner Mutter. Sie war durch einen Ski-Liftabsturz gestorben. Nein! Nicht jetzt! Mit aller Macht drängte ich die Erinnerung zurück.
Wir alle drei saßen in dem Lift. Ich, meine Mutter und mein Vater. Die Erinnerungen an das längst vergangene Unglück ließ eine Leere in mir zurück.
Das Knacken, der kaputten Technik. Das angstvolle Warten, was als Nächstes passieren würde. Die Hilflosigkeit während dem Feststecken. Das ohrenbetäubende Reißen der Stahlseile und dann nur noch dieser schreckliche freie Fall. Nichts als Luft und das wirbelnde Weiß vermischt mit den Schreien meiner Eltern.
Vergeblich hatte ich nach Halt gesucht. Ich hielt die Hand meiner Mutter fest umklammert. Ich spürte, wie die Finger langsam von meiner Hand weggerissen wurden. Sie rutschten unaufhörlich weiter, bis uns nur noch ein einzelner Finger verband. Und dann war ich alleine. Alles vor meinen Augen wirbelte, es gab keine zusammenhaltenden Körper mehr. Dann unendliche Kälte und Schwärze. Meine Sinne hatten sofort stillgelegen. Ich war ins Krankenhaus gekommen. Es war ein Wunder, dass genau unter mir und meinem Vater eine Fichte unseren Fall gebremst hatte.
Meine Mutter hatte kein Glück gehabt. Ich biss die Zähne zusammen, um nicht wieder in Tränen auszubrechen. Mein Vater war am Boden zerstört. Ich hatte ihn ein letztes Mal vor meinem Krankenhausbett gesehen. Seine Augen waren leer und sein Inneres war zerbrochen. Wir waren als Familie so Glücklich gewesen. Er hatte es nicht ausgehalten, mich alleine aufzuziehen. Ich war meiner Mutter zu ähnlich. Er wollte, dass ich eine glückliche Kindheit habe. Ich riss mich mühsam aus den Erinnerungen los.
***
Mein Wecker zeigte 23 Uhr. Ich ließ einen letzten Blick durch mein Zimmer schweifen. Vor mehr als 3 Jahren war ich hier eingezogen und noch immer fühlte es sich nicht an wie meines. Ich liebte das Zimmer, aber ich würde hier nie das Gefühl haben, dass ich hier zuhause war.
Meine Beine baumelten bereits aus dem geöffneten Fenster meines Zimmers im 2. Stock und ich zitterte leicht im kalten Herbstwind. Der Mond stand voll am Himmel, ohne von einer Wolke verdeckt zu werden. Die Nacht war perfekt. Ich gab mir einen Ruck. Nichts konnte mich in der Nacht im Haus halten.
Ich lächelte. Die Dose Hundefutter lag beruhigend kalt an meinem Rücken im Rucksack. Mit geübten Griffen hangelte ich mich in die Eiche, die ihre Äste direkt neben meinem Fenster erstreckte. Als ich in Stammnähe war, begann ich gekonnt höher zu klettern.
Ich sah das Dach des Nachbarhauses direkt über mir. Meine behandschuhte Hand streckte sich nach der Dachkante aus und ich zog mich in einer fließenden Bewegung hinauf. Geduckt schlich ich die schrägen Dachziegel bis an die Spitze hinauf. Ich lief immer mit einer Hand auf den kühlen Dachziegeln entlang, bis ich an das angrenzende Haus kam. Die tiefen Abgründe neben mir machten mir nichts aus. Ich liebte es, das ganze Dorf überblicken zu können und im kühlen Nachtwind von Dach zu Dach zu springen.
Okay, das klingt echt, als wäre ich irgendwie verrückt, und das stimmte in seiner Art ja auch. Aber in einem so kleinen Dorf wie Düsterwald, das es nicht einmal auf Google Maps gab, waren wahrscheinlich alle nicht ganz normal. Eigendlich hieß das Dorf Śāpagrasta, das düstere Dorf in Mitten der Weiten Saskatchewan in Kanada.
Die Häuser standen dicht beieinander und über die Dächer war der schnellste Weg. Außerdem gaben die Sprünge mir Adrenalin und ich kam mir so frei vor, als würden alle Sorgen weg sein und in meinem Herzen ein ewiges Feuer brennen.
Eigentlich sollte ich wahrscheinlich Höhenangst haben, wegen meines Kindheitstraumas. Ich war damals 11 Jahre alt und wir waren in Manitoba Skifahren, als der Lift abstürzte. Bis heute, fast fünf Jahre später, hatte ich mich nie wieder in einen Lift gesetzt.
Aber die Dächer liebte ich. Mein altes Haus hatte ein Flachdach. So viele Male waren ich und mein Vater durch das Dachfenster gestiegen, um der Realität und dem Arbeitsstress zu entkommen. Ich hatte ein normales Leben in der Stadt, was ich liebte. Mein Vater war ein erfolgreicher Ingenieur, wodurch wir viel Geld hatten.
Mein Herz hatte schon immer für das Klettern geschlagen. Immer einen neuen Halt suchen, während man einfach nur ein Ziel hatte: Höher. Man dachte nicht an die Vergangenheit, man dachte nicht an die Zukunft. Man konzentrierte sich allein auf sein Ziel, höher zu kommen. Die Energie die mich jedes Mal durchströmte, gab mir Kraft und auf meinem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus.
Meine Bewegungen verschmolzen mit der Umgebung, während ich leise bis an den Rand des Dorfes sprang.
Vorsichtig hangelte ich mich von dem Dach eines still gelegenen Hauses, das fast am Rand des Dorfes lag auf den schwarzen asphaltierten Boden. Ich landete geräuschlos auf meinen Turnschuhen. Ein schwarzer Blitz schoss von hinten gegen mich und ich verlor beinahe den Halt.
»Foxy!« Ich lachte, als der schwarze Hund freudig wedelnd an mir hochsprang. »Du willst dein Essen?« Fragte ich lächelnd, während ich die Hundefutterdose langsam aus meiner Tasche zog.
Immernoch lächelnd beobachtete ich den jungen Hund, wie er das Hundefutter hinunterschlang. Ich hatte ihn vor ein paar Monaten gefunden. Er war ein Welpe gewesen, den irgendein Arschloch an der Landstraße ausgesetzt hatte. Ich hatte ihn mit in mein Zimmer genommen und ihn versteckt. Aber als Foxy älter und stärker wurde, musste ich ihn doch aus dem Haus bringen, weil es sonst wahrscheinlich aufgefallen wäre.
Die Lagerhalle, die schon längst still stand war ein perfekter Ort, um ihn zu verstecken.
Erst jetzt bemerkte ich, wie erwartungsvoll Foxy mich anblickte. Ich warf kurz einen Blick auf die Stadt in meinem Rücken, dann lief ich los. Der Wind spielte mit meinen langen schwarzen Haaren und mein Herz fühlte sich so leicht wie lange nicht mehr.
Endlich war ich wieder hier. Ich joggte an der Lagerhalle vorbei, die wie ein großes verwundetes Tier neben dem LKW-Parkplatz lag. Die Szenerie wirkte unnatürlich. Die alte Fabrik mit den grauen stählernen Wänden und den tiefschwarzen Löchern der Fenster, neben einem rießigen, erleuchtetem Parkplatz der Autobahnriesen. Die Fabrik hatte jedes Leben verloren, die Wände waren voll mit Graffiti und das Dach an den meisten Stellen eingebrochen.
Nicht umsonst war das Gelände abgesperrt und der Zutritt verboten.
Das trostlose Gebäude war das direkte Gegenteil des Parkplatzes, der selbst in dem kleinen Kaff Düsterwald zu hell und voll wirkte.
Ich blieb stehen und warf einen prüfenden Blick über die LKWs. Alles still.
Ich ließ meine Tasche auf den Boden fallen und musterte die Rückwand der Lagerhalle. Hier hatten meine ersten Graffitieversuche begonnen.
Ich ging langsam an der Wand entlang. Der Fortschritt war deutlich zu sehen. Vom geflügelten Totenkopf, meinem ersten Versuch, bis zu meinem neuesten, dem Tigerkopf mit den Adlerflügeln im Hintergrund . Bei jedem meiner Graffities hatte ich mit Lex unterschrieben. Ich hieß Alexandra. Aber für mich war Lex mein richtiger Name geworden.
Plötzlich erfüllte eine schrille Sirene die Nacht. Sofort wirbelte ich herum. Eine Schreckenssekunde verharrte ich so, aber das Bellen von Foxy riss mich in die Realität zurück. Alle Alarmklocken schrillten in meinem Kopf. Eine Polizeisirene! Ich warf die Sprühflasche in meinen Rucksack und packte ihn. Meine Beine regierten sofort und ich sprintete zu den Parkplätzen.
All das hatte nur wenige Momente gedauert, aber ich konnte die blauen Lichter schon sehen, die wie ein Zunami unaufhaltsam größer wurden. Der Weg hinter die Fabrik wäre zu weit gewesen. Jetzt stand ich hier wie ein Reh mitten auf der Autobahn. Die Motoren der Polizeiautos setzten mich unter Druck.
Mein Blick huschte gehetzt hin und her. Außer LKWs gab es keine Deckung. Reflexartig ließ ich mich auf den Boden fallen, als das blaue Licht fast meinen Standort erreichte. Blitzschnell und ohne zu Zögern rollte ich mich unter einen LKW.
Mein Rucksack fest an mich gepresst und voller neuer Energie lag ich jetzt unter diesem LKW.
Unter dem vollkommene Schatten des Lastwagens fühlte ich mich halb blind. heftig atmend zuckte ich zusammen, als plötzlich ein ohrenbetäubender Motor überall um mich herum aufheulte.
Reflexartig krallten sich meine Finger um die Rohre und Stangen an der Unterseite des LKWs. Ich zog meinen Körper vom Boden. Mein Gehirn war noch immer wie erstarrt.
Aber jetzt hatte ich ein Problem. Der Lastwagen begann langsam aber sicher zu fahren.
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