Scarlett ~ Anzug
Es war ein Donnerstag, als der Alarm losging.
Der Tag hatte nicht schlecht angefangen.
Ich saß auf einem der blauen Drehstühle des Physikraums, auf meinem Einzelplatz in der zweiten Reihe fröhlich hin- und herschwenkend. Das Fenster neben mir stand weit offen, und da es erst halb Acht in der Früh war, hatten wir noch angenehme dreizehn Grad. Das war zwar nicht optimal, aber zumindest erträglich, und ich war demnach recht gut gelaunt.
Eigentlich.
Dann vibrierte mein Starkphone.
Kurz, lang, lang. Unauffällig und so leise, dass ich es nur bemerkte, weil meine Ohren jahrelang darauf trainiert worden waren...
Meine Augen waren plötzlich starr auf eine Stelle irgendwo im Hefter vor mir gerichtet, doch meine Aufmerksamkeit lag in meinem Inneren. Der Funken Euphorie überraschte mich – normalerweise löste das Signal keine Freudenschreie in mir aus. Ein Alarm war immer speziell, wenn man aus einer Superheldenfamilie kam... Aber es ging hier nicht um die Avengers, ausnahmsweise. Ein leichtes Lächeln umspielte meine Lippen.
Der Physiklehrer hatte mich von seinem Platz auf dem Lehrertisch – und ja, das ist keine schöne Aussicht, wenn der Typ über sechzig ist – gut im Blick, sodass ich nach meinem Taschenrechner griff und die Reflektion des Displays nach dem üblichen Typen am anderen Ende des Raumes absuchte.
Dann runzelte ich die Stirn, als Chad keine Regung zeigte, vertieft in das Handy hinter seiner Federmappe. Hatte der Idiot den Alarm deaktiviert?!
Ganz toll. Wir hätten die perfekte Ausrede bringen können – ihm ging es nicht gut, Umzug, bla bla, und ich als seine Cousine ging nach ihm schauen. Idiot, und ja, die Wortwiederholung war mir egal.
Mit einem verärgerten Blitzen in den Augen meldete ich einen Gang zur Toilette an, zog aber noch auf dem Flur mein Starkphone.
‚Bist du dämlich oder so?! Watch out', tippte ich rasch.
Wenigstens kam die Antwort von Mistmieze beinahe sofort: ‚Keep cool, Kit. Und... LaNgUaGe!'
Ich schnaubte und rief wieder die Tastatur auf, doch bevor mir ein kreativer Konter einfallen konnte, öffnete sich die Tür zu meiner Rechten.
T'Chadas wölfisches Grinsen ignorierend eilte ich die Haupttreppe hinunter, die direkt an den Physikflur anschloss.
„Du hast den Alarm nicht ernsthaft ausgestellt, oder?", fragte ich ihn unwillig, als er an meine Seite trat.
„In Wakanda konnte ich doch eh nichts ausrichten", zuckte mein Cousin mit den Schultern, „Da habe ich halt vergessen, ihn zu reaktivieren. Ist ja nicht so, als ob's wichtig wäre."
Dazu sagte ich einfach gar nichts mehr. Sollte Morgan sich mit ihm herumärgern.
Wenigstens dachte T'Chada etwas mit, indem er auf dem mittleren Flur den längeren Weg über das Treppenhaus des Neubaus wählte, sodass wir nicht am Lehrerzimmer vorbeikamen. So begegneten wir keiner Menschenseele, und unsere hastigen Schritte hallten von den hohen weißen Wänden wider.
Doch selbstverständlich war es dann trotzdem nicht Morgan, die sich ärgerte, sondern ich selbst.
Durch die Verzögerung kamen Chad und ich natürlich als letzte am Auto an – und ich musste hinter meinem Bruder platznehmen. Neben meinem Cousin.
Der Tag hatte so gut angefangen!
Und ausgerechnet heute musste T'Chada gute Laune haben: „He, Peggy, Scar hat ein böses Wort gesagt. Muss sie jetzt in die Schmollecke? Schau sie dir an, das Schmollen hat sie schon übernommen."
Wie alt war er? Jünger als Nia?
Zu meinem – oder ihrem – Glück blieb Peggy ernst und ging nicht auf den unqualifizierten Kommentar ein, sondern stellte den Antrieb ihres Autos auf Arc-Reactor und trat ordentlich auf's Gas. Hunter ließ nun auch sein Starkphone verschwinden. „Wir müssen an die Grenze zu Queens", erklärte er knapp, „Wir haben eines ihrer Lager entdeckt."
Dramatisch.
Ich schnaubte und stemmte meine Füße gegen den Vordersitz – mit sehr kurzen Beinen war das durchaus möglich. Hunter taxierte mich durch den Seitenspiegel und meinte dann mit einem halben Grinsen: „Ach, Schwesterherz... Ich werde nicht sagen, dass Chad recht hat – nur über meine Leiche –, aber..."
Das stufte ich jetzt als persönlichen Verrat ein.
Meine Augen verengten sich, obwohl meine Gedanken hier im warmen Inneren des Autos wieder träge geworden waren.
Peggy ihrerseits seufzte und meinte: „Hört auf, Jungs, wenigstens, bis sie ihren Anzug trägt."
Na vielen Dank auch.
„Bekommen wir noch Verstärkung?", lenkte Caps Tochter das Gespräch nun in eine andere Richtung. Obwohl sie in der Zusammensetzung die Leitposition hatte, war Hunter immer noch unser erster Informant: „Queenie ist unterwegs, aber sie braucht vermutlich ihre Zeit. Schauen wir erstmal, was los ist."
Dieser Kommentar ließ mich aufhorchen. „Wir sollen zu fünft da hin? Was ist denn los?" „Morgan glaubt, dass neben Drogen und Waffen auch eine Bombe im Lager ist. Wir sollen nichts riskieren, daher Queenie. Kann sein, dass es einen Mechanismus zur Zerstörung gibt, wenn wir eindringen – also nichts sonderlich Großes, aber doch so groß, dass es Queens' Polizei nicht hinbekommt."
Das waren weniger beunruhigende Nachrichten, als es den Anschein hatte. Die Polizei hier bekam nicht sonderlich viel hin.
Seufzend lehnte ich meinen Kopf gegen die kühle Autoscheibe und schloss kurz die Augen, da die höher werdenden Gebäude immer schneller an uns vorbeiflitzten – das waren zu viele Eindrücke für mein träges Hirn. Ich war erleichtert, als das regelmäßige Ticken des Blinkers an mein Ohr drang, denn das hieß: Gleich würde es kälter werden.
Meine Cousine hatte den Highway verlassen und parkte ihren Audi nun in einer Seitenstraße, noch relativ nah dran an der Hauptstraße. Wieder mit halbwegs wachem Blick fing ich ihren Blick durch den Rückspiegel auf, den sie achtsam über alle Insassen des Autos schweifen ließ. Wir kannten diese Prozedur und blieben still, sogar T'Chada, bis Peggy ins Handschuhfach griff.
Ich glaube, sie war der einzige Mensch, der tatsächlich Handschuhe darin aufbewahrte... Meine Cousine reichte mir eines der fingerlosen Paare nach hinten, das andere streifte sie sich selbst über.
T'Chada, klugerweise schon in schwarzem Hoodie und Jeans, setzte sich nur noch seine Sonnenbrille auf, mein Bruder blieb gleich so, wie er war. Jeans, grauer Hoodie – die Normalität in Person. Wer's glaubte...
Als wir mit leise zuschlagenden Autotüren unsere Füße auf das feine Kopfsteinpflaster der Straße brachten, war um uns herum noch immer kein anderer Mensch zu sehen. Noch erreichte kaum Tageslicht die Häuserschlucht um uns herum, doch als ich die Gasse nach rechts herunterblickte, erkannte ich hellere Schlieren am östlichen Horizont. Die Sonne würde bald aufgehen... Wir waren besser fertig, bevor sie uns in ihr Rampenlicht stellte. Nach einem letzten knappen Blickwechsel aktivierten Peggy und ich die Nanotechnologie.
Als sich die vertrauten Stoff- und Lederschichten um meinen Körper schlossen, konnte ich endlich wieder richtig durchatmen. Das hier war mein Metier... Unsere Anzüge waren beide vollkommen schwarz, hatten Waffengürtel mit Pistolen und Messern und hohe Kragen. Peggys Schulter war mit einem weißen Totenkopf geschmückt, mein Anzug Arc-Reactor-betrieben. Nein, ich konnte nicht fliegen – ich brauchte die Energie für die Klimaanlage, die die Temperatur im Anzug auf unter vier Grad hielt.
Und plötzlich glänzten meine Augen wieder.
Ein leichtes Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus, als ich in unsere Viererrunde blickte. Jolly Rogers hakte ein Messer in den Gürtel ihres Anzugs ein, Hoodwink schob – mir zuzwinkernd – sein präpariertes Starkphone in die Jeanstasche und Black Lion schloss mit einem kräftigen Rucken die Schnallen seiner eigenen Handschuhe. Drei von uns fehlten, aber endlich gab es wieder ein wir.
Ein Team.
Ich würde uns nicht als Helden bezeichnen, aber wir waren doch... Aufpasser. Wächter.
Mein Lächeln wurde tiefer, als ich Peggys Blick auffing, die nach Morgan zweite Anführerin der Watchers war.
Und ja, W.A.T.C.H.E.R.S. war selbstverständlich ein Akronym...
We are the children – Heroes embodying real success.
Wir sind die Kinder – die Helden, die wahren Erfolg verkörpern.
Die offizielle Definition unseres Teams, auf Wikipedia zu finden, erzählte irgendetwas von der Übernahme von Aufgaben, die die Avengers aus Regierungsgründen nicht wahrnehmen konnten. Ansonsten war nicht viel von uns bekannt, abgesehen von den Spitznamen, weshalb wir auf Missionen auch nur die benutzten... aber da hatte ich nun wirklich keinen Grund, mich zu beschweren.
„Immer wieder eine Freude, dich tatsächlich gut aufgelegt zu sehen", grinste meine Cousine mich an, „Du machst deinem Namen alle Ehre, Kit Cool."
Peggy verteilte Ohrhörer an uns und gab dann Instruktionen: „Hoodwink kommt mit mir zur Lagerhalle, die anderen beiden patrouillieren und-"
Sie stockte.
Ich erstarrte.
Für einen winzigen Moment hörte die Welt auf, sich zu drehen.
Okay, so dramatisch vielleicht auch nicht, jedenfalls hielt niemand es für eine gute Idee, T'Chada und mich in ein Team zu stecken. Peggy seufzte. „Okay, Planänderung, auch wenn ich ein wenig Diplomatie gut gebrauchen könnte... Kit, du wärst sowieso zu auffällig mit dem Anzug, wir stürmen das Lager, aber reiß dich am Riemen. Hoodwink geht mit Black Lion, aber bleibt zusammen und versucht, nicht alle Aufmerksamkeit auf euch zu ziehen."
„Wird schwierig, aber wir geben unser Bestes", grinste mein Bruder und zog T'Chada mit sich.
Ich verbiss mir jeglichen weiteren Kommentar und nickte Jolly Rogers zu: „Dann los."
***
Ich glaube, ich habe länger gebraucht, mir diese "Heldennamen" auszudenken, als das Kapitel zu schreiben. Wenn irgendwer noch einen Geistesblitz dazu hat, kann ich die auch noch einmal ändern... obwohl ich vor allem von "Hoodwink" und "Jolly Rogers" recht überzeugt bin. Die anderen beiden haben eine tiefere Bedeutung... also sagt gern, was ihr davon haltet!😉
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