- 01 -
Neil Schneider war auf dem Weg zur Wache. Er hatte Spätschicht. Gekonnt balancierte er die Kaffeebecher und einen Karton mit Streuselkuchen in der einen Hand und kramte mit der anderen seine Schlüsselkarte aus der Tasche. Gerade als er nach der Tür hangeln wollte, kam ihm ein Kollege entgegen und hielt ihm die Tür auf. Neil bedankte sich mit einem Nicken und wünschte einen guten Abend. Summend folgte er seinem gewohnten Weg in die zweite Etage. So schlimm waren Freitagabende im Büro nicht. Es war ruhig, die Zeit wurde ihm gutgeschrieben und die Kollegen auf Streife hatten meistens alles im Griff, so mussten sie selten zur Verstärkung ausrücken. Perfekte Voraussetzungen, um sich um lange liegen gebliebenen Papierkram kümmern.
Seine Partnerin Tanja war meistens schon vor ihm im Büro. Auch heute hing ihre Jacke bereits an der Garderobe, als er eintrat.
«Ich hab dir deinen Mocca Frappuccino mitgebracht!» Seine Stimme hallte durch den Flur, er bekam jedoch keine Antwort.
Neil schob den Karton und die Becher auf eine nahegelegene Ablage, schlüpfte aus Jacke und Mütze und mit Kaffee und Gebäck bog er um die Ecke ins Gemeinschaftsbüro. Er wollte nochmal einen Versuch starten, seine Kollegin anzusprechen, aber auch hier war niemand. Der Schichtwechsel war schon durch, bis auf Tanjas Schreibtisch waren alle verweist.
Er stellte also seine Habseligkeiten ab und fuhr den Computer hoch. Aus einem angrenzenden Besprechungszimmer war ein Murmeln zuhören. Die Türe war noch halb offen. Neugierig linste Neil in den Raum.
«Tanja?»
Tatsächlich saß seine Kollegin am Tisch. Sie sah mit ernstem Gesichtsausdruck auf, schenkte ihm aber ein flüchtiges Lächeln. Ihr gegenüber saß ein junger Mann.
«Oh, Entschuldigung. Ich wollte nicht ... »
Nun sah auch der Mann auf.
Neil schätzte ihn auf etwa dreißig. Er machte einen etwas verlorenen Eindruck wie er da saß, etwas verstrubbelt, gerötete Augen und einen Gesichtsausdruck, als wäre jemand gestorben.
Nicht, dass die üblichen Kunden eines Polizeipostens normalerweise Frohnaturen wären.
«Neil, bitte komm herein. Wir haben auf dich gewartet. », Tanja winkte ihn zu sich. Sie wendete sich mit freundlichem Blick dem Gast zu. «Das ist mein Kollege, Herr Schneider. »
Etwas war nicht in Ordnung.
«Könnten Sie ihm ihr Anliegen nochmals schildern? Ich hole uns kurz etwas zu trinken. Möchten Sie Wasser, einen Kaffee vielleicht? »
Tanja gab sich Mühe, sachte zu sprechen. Es musste was Ernstes sein.
Der Fremde räusperte sich kurz, ehe er ein kratziges 'einen Kaffee, bitte' herausbekam. Und damit war Tanja verschwunden.
«Guten Abend.» Neil setzte sich. Auch er bemühte sich um einen freundlichen Ton. «Mit wem habe ich das Vergnügen? »
Seinem Gegenüber war sichtlich unwohl. Dem Mann fiel es schwer, Augenkontakt zu halten. Sein Blick wanderte immer wieder im Raum umher. «Martin. Martin Ebrecht.», sagte er schließlich.
«Was führt Sie zu uns, Herr Ebrecht? »
« Ich ...», er räusperte sich, «ich vermisse meine Freundin. »
Neil ließ ihm die Zeit, weiterzusprechen.
«Sie war gestern Abend aus. Sie wollte erst gar nicht, es war aber wichtig. Ein Firmenanlass ... Für irgendeinen ein Projektabschluss» Herr Ebrecht hielt den Blick während des Sprechens starr auf seine zitternden Finger gerichtet.
«Es würde spät werden. Das wusste ich. Aber heute Morgen war sie immer noch nicht da. Ich hab gewartet ...» Er fuhr sich durch die Haare und zucke mit den Schultern.
«Ich meine, vielleicht ist sie bei einer Freundin oder ihren Eltern ... Ich habe ihr geschrieben, sie angerufen, aber kein Lebenszeichen.» Er unterbrach, um seine Stimme wieder kontrollieren zu können, sie zitterte bedenklich.
«Ich verstehe. »
In diesem Moment kam Tanja wieder. In ihren Händen drei dampfende Becher Kaffee aus dem Pausenraum-Automaten. Eine reichte sie Herrn Erbrecht, einen weiteren schob sie mit einem beschuldigenden Blick ihm zu. Ihren stellte sie beiseite und nahm einen Notizblock zur Hand. Bevor sie sich setzte, schob sie dem aufgelösten Elend vor ihnen noch eine Packung Taschentücher zu, die Ebrecht dankend annahm.
Etwas miss mutig beäugte Neil die braune Brühe, nahm einen vorsichtigen Schluck und bemühte sich das Gesicht nicht zu vierzehn. Für den Rest des Gesprächs würde er das Gesöff links liegen lassen. Zurück zum wichtigen ...
«Wie heißt ihre Freundin, Herr Ebrecht? »
«Charlotte Kaufmann. »
«Verstehe ich sie richtig, dass Sie Frau Kaufmann als vermisst melden möchten? »
Martin Ebrecht nickte. «Ich nehme an, sie können noch nichts tun ... Ichh... Es sind noch keine 48 h... Ich wollte nur sichergehen, wissen sie? Falls, Falls ...» Er verhaspelte sich und geriet in einen schier unaufhaltsamen Redefluss. Tanja gelang es jedoch, ihn zu beruhigen. «Machen Sie sich darüber keine Sorgen. Wenn ernsthafter Grund zur Sorge um Frau Kaufmanns Sicherheit besteht, dann spielt die Dauer ihres Verschwindens keine Rolle. » Ebrecht nickte.
«Wann haben sie Frau Kaufmann gestern das letzte Mal gesehen, Herr Ebrecht? »
«Gestern Nachmittag. Es muss zwischen fünf und sechs gewesen sein. Sie hat sich zu Hause für die Feier fertig gemacht und verließ das Haus wenig später, um zur Bahn zu gehen.» Er klammerte sich an den Kaffeebecher. «Es ist nicht Lottes Art, sich nicht zu melden, wissen Sie? »
«War das der letzte Kontakt zu ihr? »
Er schüttelte den Kopf und fischte sein Mobiltelefon aus der Hosentasche, entsperrte es und schob es über den Tisch zu den Kommissaren.
Neil nahm es entgegen.
‹ Wir sind fertig. Meine Füße bringen mich um. Sehe dich zu Hause :* ›
- 1:53
«Sie meldet sich immer. Damit ich mir keine Sorgen mache ...«, meinte Ebrecht. «Ich hab ihre beste Freundin und ihre Eltern angerufen. Auch auf der Arbeit. Niemand weiß etwas. Niemand konnte mir etwas sagen. «
Neil zog seine Stirn in Falten. Es war zwar ungewöhnlich, aber es wäre nicht der erste Fall, bei dem sich eine junge Frau ohne Wort verschwindet.
«Haben sie ein Foto von ihr dabei? «, erkundigte sich Neil weiter.
Ebrecht nickte. Er nahm das Gerät erneut in die Hand, tippte einige Male und reichte es wieder zurück.
Eine brünette schlanke junge Frau mit strahlenden grünen Augen sah Neil entgegen. Sie lachte in die Kamera. Der Mann hatte Glück.
«Das war vor einigen Tagen, an dem Tag, an dem wir uns verlobt haben.« Der Mann lächelte bitter. «Sie hat sich so gefreut. «
Bei diesen Worten glitzerten Tanjas Augen verräterisch. Sie wurde immer schon schnell sentimental, etwas, was sich mit ihrem Job biss. Neil übernahm das Ruder und ließ Tanja die Zeit ihre Tränen wegzublinzeln.
«Wie sieht es mit ihrer Gesundheit aus? Nimmt sie Medikamente? «
«Nein. «
«Hat sie sich in letzte Zeit vielleicht anders verhalten? Hat sie suizidale Gedanken geäußert? «
«Nein ... Nein, es war alles normal. Na ja, sie hatte Stress bei der Arbeit und ihr Vater ist krank ... Sie denken, sie könnte sich etwas angetan haben?« Er klang aufrichtig überrascht.
«Es ist nur eine Standardfrage, Herr Ebrecht ...«, versuchte Tanja ihn zu beruhigen. «Wir müssen wissen, womit wir rechnen müssen.« Er atmete tief durch.
«Sie sagten, sie hätten bei ihren Angehörigen schon nachgefragt? Haben sie Kontaktdaten? «
Ebrecht nickte wieder. Tanja notierte eifrig die Adressen, Telefonnummern und Namen, welche er ihnen gab.
Ihre Eltern, wohnhaft in einem der Vororte, etwas außerhalb. Ihre besten Freunde, Kate, Hannah und David. Ihre Arbeitsstelle, Marketing Bluhme.
Am Tag ihres Verschwindens trug sie ein schwarzes Kleid, schwarze Highheels und eine kleine grüne Handtasche. Ein passend grüner Herbstmantel und Schmuck. Ihren Verlobungsring, die Kette ihres ersten Jahrestags und ihre Lieblingsohrringe, scheinbar ein Erbstück ihrer Großmutter.
Neil fischte zum Schluss der Vernehmung eine seiner Visitenkarten aus der Tasche. Mit Tanjas Stift schrieb er seine Nummer an den Rand und schob sie Herrn Ebrecht hinüber. «Das ist meine Direktwahl, falls sie noch irgendetwas brauchen zu melden Sie sich. »
Herr Ebrecht bedankte sich.
«Die meisten Vermisstenfälle klären sich schnell auf. Wir werden Frau Kaufmann finden.», Tanja gab nochmals ihr wärmstes Lächeln zum Besten und begleitete ihn zur Türe.
Als Martin Ebrecht das Revier verlassen hatte, wendete sich Neil zu Tanja. « Dein Latte ist dann wohl kalt ... »
Entgeistert schlug sie ihm auf den Arm. « Neil! Es wird eine Frau vermisst! »
Er zuckte mit den Schultern, « und unser Kaffee ist kalt. »
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