2. Eine lehrreiche Pause
,,Was denkst du, welche meiner Ideen hört sich besser an? Ein Engelsmädchen, das sich in einen Teufel verliebt und die anderen Engel vor einem Krieg beschützen muss oder ein Mädchen, das auf magische Naturwesen trifft und an deren Seite die Umwelt vor der Ausrottung beschützen muss?" Ruckartig erwachte Cian aus seiner Gedankenwelt und sah Soraya verwirrt an, die ihn mit einem erwartungsvollen Lächeln musterte. ,,W... was hast du gesagt?", murmelte er zerstreut und nagte verlegen an seiner Unterlippe, während seine Freundin mit den Augen rollte. ,,Du bist mir echt ne' wahnsinnig große Hilfe, Cian.", seufzte sie mit einem sarkastischen Unterton und holte tief Luft. ,,Ich habe wieder zwei Ideen für ein neues Buch, das ich gerne schreiben würde und kann mich einfach nicht entscheiden, welche ich von beiden nehmen soll. Also, was meinst du?" Murrend verdrehte Cian die Augen und lehnte seinen Kopf wieder an dem dicken Baumstamm an, an dem sich die beiden niedergelassen hatten und das Getümmel der anderen Schüler auf dem Schulhof beobachteten. ,,Nimm doch einfach das, was besser klingt.", grummelte er lustlos. ,,Super Vorschlag, genau das frage ich dich doch die ganze Zeit!", gab Soraya genervt zurück und rang die Hände. ,,Warum frag ich dich überhaupt? Kommt doch eh nix bei rum!" ,,Warum sollte ich mich auch mit Büchern auskennen?", sagte Cian missmutig. ,,Sehe ich etwa so aus, als würde ich so eine begeisterte Leseratte sein wie du?" ,,Das habe ich doch gar nicht behauptet! Du müsstest ja nicht mal gerne lesen, du könntest mir aber freundlicherweise einfach nur sagen, was sich von den Ideen her allgemein besser anhört. Dazu musst du nur mal dein Hirn einschalten und drüber nachdenken, das ist gar nicht mal so schwer!" Ohne ihren Freund anzusehen zupfte sie an dem Gummiband ihres Notizbuches, auf dessen Titelseite ein fröhliches, mit Bananen in die Luft werfendes Minion abgebildet war und in geschwungenen, schwarzen Lettern Minions Powerd by Bananas geschrieben stand. Nachdenklich spielte sie mit ihrem rot-weiß gestreiften Kugelschreiber in ihrer Hand und nagte auf ihrer Unterlippe herum. Schließlich seufzte sie.
,,Ach Mann, irgendwie bin ich mit keiner der beiden Ideen richtig zufrieden.", murmelte sie und verzog das Gesicht. ,,Wieso fällt es so vielen Menschen so leicht, sich irgendwas sinnvolles einfallen zu lassen? Die Rowling schreibt einfach mal eben n' paar Weltbestseller, die Erins bringen eine atemberaubende Welt der Katzen zustande und der Riordan macht ne' uralte Religion in nem Buch modern. Und ich sitze hier rum und habe ganze null Ideen! Das ist doch echt nicht fair!" Beleidigt warf sie Stift und Buch neben sich ins Gras und verschränkte wie ein trotziges, kleines Kind die Arme vor der Brust.
Stöhnend rollte Cian mit den Augen. Er hatte für die Fantastereien seiner Freundin gerade nicht im geringsten etwas Interesse übrig. Es kümmerte ihn nicht, dass sie wegen seiner geringen Hilfsbereitschaft enttäuscht von ihm sein mochte, auch wenn er ihre Reaktion insgeheim nachvollziehen konnte. Doch das kürzliche Ereignis mit Neila hatte ihm dermaßen die Welt auf den Kopf gestellt. Er erlebte es zwar nicht selten, dass man ihn öffentlich bloß stellte und ihm drohte, jedoch hatte er sich in solch einer Situation noch nie befunden. Noch nie hatte ihn irgendjemand so kaltblütig und hasserfüllt angesehen, was schon wirklich was heißen musste, wenn er sich an die zornigen Blicke seiner anderen Mitschüler dachte, die sie ihm würdigten, wenn er es wagte, ihnen eine freche Bemerkung zurückzugeben. Der Unterschied zu Neilas Todesblicken lag allerdings darin, dass ihre zweifellos ernst gemeint waren. Eine eisige Gänsehaut jagte dem Jungen über den Rücken, als er sich an ihre kalten Augen erinnerte, aus denen der blanke Hass nur so sprühte. Niemand würde einen Menschen jemals so anstarren, wenn man diese Person nicht wortwörtlich am liebsten töten wollte.
Schaudernd schüttelte Cian sich. Er bestand keineswegs Zweifel: Neila war erstens mehr, als andere von ihr zu glauben wagten. Zweitens hütete mit Sicherheit ein großes Geheimnis vor der Allgemeinheit, das sie wie ihr eigenes Kind bewahrte und jedem den Tod schenkte, der den Fehler begann, ihrem Mysterium auf den Grund zu gehen. Und drittens stand Cian höchstpersönlich auf Platz Nummer Eins ihrer Mordesliste, da er offensichtlich beinahe ihr Geheimnis ergründet hätte. Wie auch immer er dies nur angestellt haben sollte. Zumindest traute ihm das Mädchen ab sofort nicht mehr über den Weg, was er umgekehrt selbstverständlich ebenfalls auf keinen Fall tat.
,,Wenn ich doch auch nur so tolle Einfälle hätte." Genervt stöhnte Cian erneut auf. Verstand seine Freundin auch nur ansatzweise etwas davon, einfach mal die Klappe zu halten? Wieso musste sie ihn weiterhin mit Fragen löchern, als ob er ein Schweizerkäse wäre und konnte ihre Probleme nicht ein einziges Mal alleine lösen? Gerade jetzt war ihm eine solche Unterbrechung wenig genehm.
Grimmig warf der Junge ihr einen Seitenblick zu, den diese jedoch kaum zur Kenntnis nahm. Nachdenklich hatte sie ihre Augen auf ihre herangezogenen Knie gerichtet und spielte nebensächlich an der blauen Krawatte ihrer Schuluniform. ,,Nicht das ich gerne so n' berühmter reicher Sack werden möchte, das mein ich ja gar nicht.", murmelte sie, scheinbar mehr mit sich selbst als mit ihrem Freund. ,,Aber man darf doch wohl trotzdem davon träumen, eines Tages mal ein komplett eigenes Buch geschrieben zu haben! Mit ner' komplett eigenen Idee und Welt und allem! Man könnte all seine sehnlichsten Wünsche zum Leben erwecken, wie das Fliegen oder so. Ein einfaches, kleines Werk für sich allein, auf das man stolz sein kann, ohne, dass es irgendwer gelesen hat. Ach, ich wünschte, ich könnte sowas tatsächlich mal vollbringen und ein richtiges Buch beenden! Damit würde überhaupt mein größter Wunsch in Erfüllung gehen, stell dir das nur mal vor!" Mit einem verträumten Lächeln seufzte Soraya himmlisch, wobei Cian hingegen sich mit einem Brummen und verschränkten Armen wieder von ihr abwandte. ,,Ja, ganz toll!", grummelte er. ,,Werd doch gleich ein irisches Fantasiewesen und zaubere dir irgendeine dämliche Idee, anstatt mir weiter auf die Nerven zu..." ,,Das ist es!", unterbrach Soraya ihn plötzlich und wirbelte mit dem Kopf zu dem Jungen herum. Ihre braun-grünen Augen strahlten begeistert und sie grinste über beide Backen. ,,Cian, du bist der Hammer! Durch dich hab ich jetzt eine spitzenmäßige Idee! Wusste doch, dass du mir doch helfen kannst!" Stürmisch lehnte sie sich zu ihm hinüber und schlang ihre Arme so fest um den Hals ihres Freundes, sodass dieser bereits zu würgen begann. Sorayas plötzliche Begeisterung hatte ihn so überrumpelt, dass er kaum Zeit dazu gehabt hatte, sich vor ihrer Umatmung in Sicherheit zu bringen.
,,K... Klasse.", krächzte er und hob die Arme. ,,K... kannst... du mich bitte wieder... loslassen?" Gehorsam befreite Soraya ihren Freund aus seiner Umklammerung und Cian keuchte erleichtert. Diese schien davon keine Notiz zu nehmen, denn schon hatte sie das Gummiband von ihrem Buch gerissen und es gegen ihre herangezogenen Beine gelehnt. ,,Ich schreibe einen Roman über die irische Mythologie!", rief sie enthusiastisch und zückte ihren Kugelschreiber, um sich diese Notiz in ihr Buch zu kritzeln. ,,Das war eine super Idee, danke Cian! Du bist der Beste!" Verwirrt zog der Junge die Stirn kraus. Er wusste nicht, ob er von ihrem brandneuen Einfall nun genauso hocherfreut wie sie oder wenig begeistert sein sollte. ,,Aha.", murmelte er ein wenig verwundert. ,,Eben hast du noch gesagt, dass du gerne wie all die anderen Autoren eine richtige Story schreiben willst und jetzt willst du auf einmal ein Geschichtsbuch für die Schule eröffnen oder wie?" ,,Ach nein, so meinte ich das doch gar nicht!", lachte sie kopfschüttelnd. ,,Ich will natürlich schon ne' richtige Geschichte schreiben, aber dazu brauche ich eben die irische Mythologie als Vorlage! Überleg doch mal, was man sich allein damit alles einfallen lassen könnte? So viele Mythen und Naturgeister... oh Mann das ist so toll, das muss ich mir alles sofort notieren!" Voller Tatendrang schrieb das Mädchen sich Stichpunkt nach Stichpunkt in ihr Büchlein, ohne sich um Cians geringe Begeisterung zu kümmern. ,,Und wie willst du das anstellen?" Fragwürdig sah er seine Freundin von der Seite an. ,,Du bist immerhin nicht Jesus, woher willst du alles über diesen Krempel Bescheid wissen?" ,,Erstens stammt Jesus aus einer völlig anderen Religion, der hätte also schon mal null Ahnung davon.", gab Soraya zurück. ,,Zweitens nenn es nicht Krempel! Du hast ja keinen Schimmer, was für ein hochwertiges Thema du beleidigst! Und drittens weiß ich auch ohne Gottes Tochter zu sein einiges über diese Mythologie." Triumphierend grinste sie Cian an und strich sich eine braune Strähne aus ihrem Gesicht. ,,Im Gegensatz zu dir habe ich im Unterricht nämlich aufgepasst, als wir die irische Mythologie durchgegangen sind." Desinteressiert zuckte Cian mit den Schultern. ,,Und wenn schon.", sagte er unbekümmert. ,,Wozu hätte ich da auch aufpassen sollen? Der ganze Quatsch ist doch eh nur erfunden! Wer soll denn heute bitte noch daran glauben?" ,,Wie bitte?", rief Soraya auf einmal zutiefst empört, wodurch Cian erschrocken zusammenzuckte. ,,Nimm das sofort zurück! Du hast hier doch sowieso am allerwenigsten Ahnung! Woher willst ausgerechnet du denn bitte wissen, ob das alles tatsächlich Blödsinn ist?" ,,Ganz einfach!", rechtfertigte sich der Junge. ,,Ich habe in meinem ganzen Leben niemals irgendetwas gesehen, das mit diesem dämlichen Thema zu tun hat! Es existieren weder Elfen noch Kobolde oder generell magische Wesen! Und Magie gibt es genauso wenig!" ,,Aber woher willst du das denn so genau wissen, wenn du es noch nie gesehen hast?", fragte Soraya weiter. ,,Was ist, wenn du sie einfach nie zu Gesicht bekommen hast, weil sie sich dir nicht freiwillig zeigen? Oder würdest du jedem möglichen Fremden von der Straße prompt in den Weg springen und rufen: >Hey, ich bin Cian! Wusstest du schon, ich existiere!<?" ,,Jetzt übertreib doch nicht gleich!" Genervt verdrehte Cian die Augen und verschränkte seine Arme vor der Brust. Er hasste es, sich mit seiner besten Freundin über Dinge zu streiten, die es nicht einmal wert waren, besprochen zu werden. Besonders, da Soraya an manchen Tagen außer ordentlich rechthaberisch sein konnte und erst nachgab, wenn ihr die Situation zu anstrengend wurde. Und das konnte bei ihr dauern.
Bemüht versuchte der Junge, seinen Ärger Luft zu machen und stieß ein tiefes Seufzten aus. Er beschloss, nicht dauerhaft so streng mit Soraya zu sein und um ihren Tag nicht auch noch wie seinen eigenen zu versauen tat er so, als würde ihn dieses Thema doch irgendwie interessieren. ,,Wie genau funktioniert diese Mythologie eigentlich?", fragte er seine Freundin betont neugierig und zwang sich zu einem Lächeln. ,,Ich meine, wie fängt sie überhaupt an und so?" Seine Frage schien Soraya tatsächlich wieder in bessere Stimmung zu versetzten, denn ihre Miene hellte sich augenblicklich wieder wie die Sonne auf und voller Tatendrang begann sie damit, ihn mit einer langen Liste von Informationen durchzufüttern. ,,Das ist alles gar nicht so schwer zu verstehen.", erzählte sie fröhlich. ,,Hast du schon mal was von den sogenannten Fomoraig gehört?" Verwundet hob Cian die Augenbraun. Fomowas? Doch noch ehe er seine Ahnungslosigkeit in Worte ausdrücken konnte, unterbrach Soraya ihn bereits wieder. ,,Wohl kaum.", stellte sie fest, bevor sie ihre Rede auch schon fortsetzte. ,,Sie wurden oftmals auch Fomori oder Fomoren genannt. Jedenfalls waren das eine Art riesige Meeresdämonen mit großen Hörnern, die nach der Sintflut nach Irland gekommen sind. Sie haben dort die Macht an sich gerissen und die Einheimischen unterdrückt." ,,Und was hat das bitte mit meiner Frage zu tun?", unterbrach Cian sie auf einmal mit einem stöhnenden Unterton und sah sie aus zusammengezogenen Augen skeptisch an. Er verstand nicht, wo in Sorayas Aussage die Antwort auf seine Frage liegen sollte. Er wollte schließlich von ihr wissen, womit der ganze Blödsinn von Mythen begonnen hatte und nicht, wie irgendwelche Wassermonster das Schwimmen gelernt hatten und sich an Land von Irland retten mussten, weil ihre Schwimmflügelchen geplatzt waren.
Seufzend gab seine Freundin ihm einen genervten Gesichtsausdruck zurück. ,,Das sollte eigentlich die Lösung auf deine Frage werden.", stöhnte sie. ,,Halt doch ausnahmsweise mal für kurze fünf Minuten die Klappe und lass mich gefälligst ausreden!" Beleidigt brummte Cian etwas undeutliches zur Antwort, schwieg jedoch darauf. Er beschloss, ihrer Bitte Gefolge zu leisten und sah ihr erwartungsvoll in die Augen, darauf wartend, dass sie ihn mit ihrer Rede weiter langweilte. ,,Also,", holte Soraya tief Luft und fuhr hochmotiviert ihre Erklärung fort. ,,Das gefiel den irischen Göttern natürlich gar nicht. Die oberste Göttin Dana, die Mutter der meisten Götter, erschuf also ein Volk von magischen Wesen, denen sie den Namen Tuatha de Dannan gab. Sie zählten zu den dutzenden Naturgeistern der Iren und wurden von ihrer Mutter dazu berufen, in eine Schlacht gegen die Fomori zu ziehen. Was sie dann schließlich auch getan haben. Es wütete anschließend ein brutaler Krieg zwischen beiden Seiten, den die Tuatha de Dannan jedoch letztendlich gewannen und die Fomoren in die finstersten Ecken der Insel vertrieben. Und um nochmal auf deine Frage zu kommen; das war ein Teil des Beginns der irischen Mythologie." Offensichtlich stolz darüber, über so viele Informationen Bescheid zu wissen grinste sie ihren Freund an und schien eine begeisterte Reaktion von ihm abzuwarten. Doch Cian war immer noch viel zu sehr damit beschäftigt, all das, was Soraya ihm gerade berichtet hatte, einigermaßen vernünftig zu verarbeiten. Klasse, dachte er wenig erfreut. Als ob ich nicht schon mies genug in der Schule wäre muss ich mir jetzt auch noch dämliche Fantastereien längst abgekrazter Typen anhören. Als ob ich nicht schon mies genug in der Schule wäre. Oh Mann, warum hab ich sie nur gefragt?
Er bemühte sich um eine interessierte Miene und lächelte sie gezwungen an. ,,Wow!", versuchte er so beeindruckt wie nur möglich hervor zu bringen. ,,Das... das klingt ja wirklich wahnsinnig toll!" ,,Ja, nicht?" Soraya schien seinen Sarkasmus nicht zu bemerken. Ihre Augen leuchteten vor Freude, während sie wieder voller Tatendrang in ihr Notizbuch kritzelte. ,,Ich kann dir auch gerne noch mehr erzählen, wenn es dich auch so sehr interessiert wie mich. Soll ich dir vielleicht mal all die Götter..." ,,Nein!", rief Cian hastig, bemühte sich kurz darauf jedoch um einen wesentlich sanfteren Ton. ,,Ich meine, nein danke natürlich! Aber das reicht glaube ich fürs erste!" Besser gesagt, das reicht für IMMER!
Das Mädchen zuckte mit den Schultern. ,,Wie du willst!", meinte sie gutmütig. ,,Aber wenn du doch irgendwann mal mehr darüber wissen willst..." ,,Ja ja, schon kapiert, dann frag ich dich, versprochen, jetzt halt aber endlich die Klappe!", rief er harsch und wandte sich erneut von ihr ab. Bereits im nächsten Moment bereute er es, seine beste Freundin mit einem solch harten Ton unterbrochen zu haben und nagte verlegen auf seiner Unterlippe, ehe er aus den Augenwinkeln auch schon bemerkte, wie seine scharfen Worte bei ihr Wirkung zeigten. ,,Schön!", gab sie mit einer plötzlich patzigen Stimme zurück, die Cian abrupt zusammen zucken ließ und sie verzog beleidigt das Gesicht. ,,Dann bin ich jetzt eben still! Hättest du aber auch ruhig netter sagen können, immerhin habe ich verhindert, dass du dich vor Mrs Gallaghers Augen mit Neila aus dem Fußboden kloppst!" Damit widmete sie ihre Aufmerksamkeit wieder ihrer Schreibarbeit und starrte mürrisch auf die Seiten, während Cian mit aller Macht gegen die rote Farbe in seinem Gesicht ankämpfte. Er wollte weder sich selbst, noch Soraya eingestehen, dass er das erste Mal an diesem miesen Tag ein schlechtes Gewissen hegte. Er hatte sich oftmals bemüht, seine schlechte Laune nicht ausgerechnet an seiner besten Freundin auszulassen, die ihn ständig vor Katastrophen bewahrte und ihm auf Schritt und Tritt zur Seite stand, ohne darum gebeten zu werden. Und anstatt ihr wenigstens ein bisschen von ihrer Güte zurückzugeben, verletzte er zu allem Überfluss auch noch ihre Gefühle.
Unangenehmes Schweigen machte sich zwischen den beiden breit, die jeweils versuchten, den anderen zu ignorieren und so zu tuen, als wäre alles beim besten. Cian hatte wieder die Arme vor der Brust verschränkt, um nicht vor lauter Verlegenheit mit den Händen zu kneten und Soraya auf seinen Scham aufmerksam zu machen. Wie gern hätte er ihr doch erläutert, wie leid es ihm doch tat, doch sein Stolz und seine Miesepetrigkeit gestatteten es ihm nicht. Er versuchte, sich mit dem Treiben auf dem Schulhof abzulenken und beobachtete desinteressiert, wie einige Fünftklässler ausgelassen über den Hof tollten, einige etwas ältere Mädchen heimlich auf ihren Smartphones tippten und einige Jungen in Pärchen auf dem steinigen Boden hockten und miteinander ihre Pokémon-Karten austauschten. Auf der Suche nach etwas, dass ihn mehr ablenkte als die alltägliche Atmosphäre auf dem Schulhof ließ er seine Augen weiter streifen, bis ihm auf einmal Neila ins Blickfeld fiel. Interessiert blieb sein Blick an ihr hängen und Cian beobachtete, wie seine Mitschülerin allein auf einer Bank auf der anderen Seite des Hofes mit gekreuzten Beinen hockte und die Umgebung genau wie er mit reiner Langeweile musterte. Als ob sie spürte, dass Cian sie anstarrte wandte sie ihren Kopf in seine Richtung und erwiderte seinen Blick mit dem kalten Glanz in ihren Augen. Grimmig verengte sie diese zu Schlitzen und starrte ihn so an, als ob sie ihn am liebsten an Ort und Stelle eine reingesemmelt hätte. Warte nur, dich bring ich schon noch um! oder so schienen ihre Gedanken zu sein, von denen der Junge allein bei deren bloßen Vorstellung nervös schlucken musste. Hastig wandte er sich von ihr ab und suchte eine andere Ablenkungsmöglichkeit, die weitaus weniger unheimlich als seine seltsame Klassenkameradin war.
Mit einem Male erstarrte Cian. Etwas weiter abseits von seiner misslaunigen Mitschülerin verharrte eine Gruppe von Jugendlichen, die sich zusammengescharrt hatten und herzhaft darüber lachten, wie ein groß gewachsener Junge breit grinsend ein kleines Buch in die Höhe reckte und spöttisch auf das kleine Mädchen hinabsah, das andauernd verzweifelt an ihm hoch sprang. Mit ihren schmächtigen, ausgestreckten Armen versuchte sie nach dem Buch zu greifen; an ihrer Miene war selbst von weitem zu erkennen, dass sie die Situation, in der sie sich befand, im Gegensatz zu den älteren Schülern alles andere als witzig empfand.
Bei ihrem kläglichen Anblick spürte Cian, wie er seine Hände vor lauter Wut zu Fäusten ballte. Er hatte den Jungen erkannt, welcher dem kleinen Mädchen ihren persönlichen Gegenstand weggenommen hatte und sie damit nun aufzog. Es war niemand anderes als sein altbekannter Schulkollege Logan.
Auch wenn sein Mitschüler sich ausnahmsweise ein anderes Opfer anstatt Cian selbst auserkort hatte, schwoll der Zorn in dem zusehenden Jungen mehr und mehr an. Er wusste nur zu gut darüber Bescheid, wie schrecklich man sich doch fühlte, wenn man von mehreren und stärkeren Typen wie irgendein dreckiges Mistvieh behandelt wurde.
Sein Verstand versuchte mit aller Macht, sein kommendes Handeln zurückzuhalten, doch Cians Zorn war viel zu enorm, als dass er die Szene weiter tatenlos verfolgen konnte. Entschlossen sprang er auf, worauf er geradewegs auf Logan zusteuerte. ,,Cian!", hörte er Sorayas überraschte Stimme. ,,Was hast du vor? Wo gehst du hin?" Doch der Junge ignorierte seine Freundin schier. So gut er innerlich auch wusste, dass er sich lieber mit einem hungrigen Löwen als diesem Mistkerl anlegen sollte, allerdings tat ihm der verzweifelte Anblick des Mädchen mindestens genauso weh, als wenn er sich an ihrer Stelle befände.
Wenige Schritte hinter Logan kam der Junge zum Stehen und reckte das Kinn, um die Situation besser beobachten zu können.
,,Komm schon!", drang die flehende Stimme des kleinen Mädchen an Cians Ohren, während sie weitere erfolglose Versuche startete, Logan das Buch aus der Hand zu reißen. ,,Gib es mir endlich wieder! Ich... ich sage es sonst meiner Mama!" Ihre Stimme zitterte; sie machte gänzlich den Eindruck, als ob sie jeden Moment zu weinen anfangen würde. Logan grinste schief. ,,Oh, wie niedlich.", spottete er und lachte, was ihm seine Freunde gleichtaten. ,,Hört euch das nur an. Ich dachte eigentlich immer, dass Fünftklässlerinnen aus dem Alter raus wären, sich wie kleine Babys bei ihrer geliebten Mami auszuheulen, aber wie ich sehe, habe ich mich wohl geirrt." Beklommen hielt das Mädchen mit ihren Sprüngen ein. Seine Aussage musste sie schwer getroffen haben, denn sie senkte schüchtern den Blick und versuchte, ihre zitternden Lippen zu verbergen. ,,Ihr... ihr seid so... gemein!" Ihre Stimme versagte; ein Schluchzten ihrerseits folgte, was die Älteren bloß noch mehr amüsierte. ,,Oje, Logan, was hast du nur getan?", warf seine Freundin Amber mit gespieltem Mitleid sarkastisch ein und boxte ihrem Freund mit einem breiten Grinsen im Gesicht spielerisch in die Seite. ,,Du hast ja eine kleine elfjährige zum weinen gebracht, schämst du dich etwa nicht?" Die anderen lachten zustimmend und Logan grinste ebenfalls umso breiter. ,,Also echt,", feixte er, Ambers ironische Bemerkung ignorierend und starrte voller Spot auf die blonde Schülerin herab, die sichtbar stark gegen die Tränen ankämpfte, und sich dennoch nicht von der Stelle rührte. Andere Kinder hätten heulend das Weite gesucht und irgendeinem Lehrer Bescheid gegeben, doch sie schien sich vor lauter Angst und Demütigung kaum bewegen zu können. ,,Da war ja dieser Hayes schon damals tapferer gewesen, und der war ja schon damals ne' glatte Null." Voller Wut ballte Cian so fest seine Hände zu Fäusten, dass seine Fingerkruppen weiß hervor traten. War ja irgendwie klar, dass Logan es mal wieder nicht lassen konnte und ihn voller Abneigung zitieren musste. Am liebsten hätte er sich an Ort und Stelle auf den Jungen gestürzt, doch ehe er dies hätte tun können, ertönte auf einmal Sorayas Stimme zu seiner Linken.
,,Oh Gott!", murmelte sie leise und schaute ihren Freund alarmiert von der Seite an. ,,Komm, wir sollten einem Lehrer Bescheid sagen, bevor Logan mal wieder handgreiflich wird." Widerwillig zuckte Cian mit den Schultern, ohne seine Augen von seinem Klassenkameraden zu wenden. Raya hat Recht., dachte er missmutig. Das wäre die vernünftigste Variante. Doch kurz bevor er sich abwenden und mit seiner Freundin Hilfe suchen gehen konnte, bewahrheite sich bereits Sorayas Mutmaßung und das Mädchen wurde von Logan grob gegen die Brust geschubst, sodass sie den Halt verlor und in der Länge auf den harten Pflasterstein stürzte. Voller Schmerz schrie sie auf und krampfte sich zusammen, wobei ihr Fluten von Tränen über die Wangen rannen. Geschockt sog Cian scharf die Luft ein, während er beobachtete, wie Logan und seine Freunde sich nur noch mehr über die Kleine lustig machten. ,,Oh, das tut mir jetzt aber furchtbar leid!", heuchelte er und beugte sich ihr hinab. ,,Na los, heul doch, ruf doch nach deiner geliebten Mami! Vielleicht bringt sie dir ja auch deinen Teddy mit." Das reichte! Ohne überhaupt vernünftig zu realisieren, was er gerade tat, schritt er Logan entschlossen entgegen und schubste ihn voller Zorn zur Seite. ,,Hör auf!", rief er wütend. ,,Lass sie in Ruhe!" Das Gelächter der anderen verstummte augenblicklich und all dessen Augen richteten sich überrascht auf ihn, als Logan einige Schritte zur Seite getaumelt war und aus lauter Unvorbereitung das Buch fallen ließ. Ohne zu zögern nutze das Mädchen seine Unaufmerksamkeit aus, rappelte sich auf und schnappte es sich hastig, ehe sie blitzartig auf dem Schulhof das Weite suchte. Im selben Moment wurde Cian schließlich bewusst, welch eine große Dummheit er begonnen hatte. Zaghaft wich er einen Schritt zurück, als Logan sich auch zu ihm herum wandte und mit einem abfälligen Grinsen auf ihn herab sah.
,,Na sieh mal einer an!", sprach er ohne große Überraschung. ,,Wir haben gerade über dich gesprochen, Hayes!" ,,Ja.", murmelte Cian. ,,War nicht zu überhören." ,,Und da dachtest du dir vermutlich soeben, die kleine Lady Heulsuse aus den Fängen des bösen Drachen Logan zu befreien?", feixte Logan gelassen und trat mit den Händen in den Hosentaschen gemächlich auf Cian zu, der wiederum dieselbe Anzahl von Schritten zurück machte. ,,War ja ein netter Schachzug. Und was willst du als nächstes tun, jetzt, wo du dem bösen Drachen Auge in Auge gegenüber stehst? Na los, fang doch genauso wie die Kleine an zu heulen, worauf wartest du?" Wie bei dem Mädchen zuvor verpasste der Junge Cian einen kräftigen Schlag gegen die Brust, sodass er taumelte, konnte sich jedoch im Gegenzug weiter auf den Beinen halten. Logans Freunde verfielen wieder in dasselbe abfällige Gelächter und verfolgten mit lässig verschränkten Armen, wie Cian von Logan in Kürze zur Schnecke gemacht werden würde.
Spöttisch grinste Logan und legte den Kopf schief. ,,Ach, immer noch nicht genug?", sprach er selbstgefällig und wollte gerade einen weiteren Schritt auf ihn zu machen, als Soraya sich schützend zu Cians Seite stellte. ,,Logan!", rief sie empört und fasste ihren Freund schützend am Handgelenk. ,,Das reicht jetzt!" Damit wollte sie sich von ihm abwenden und Cian quer über den Schulhof weg von seinem Klassenkameraden zerren, doch der dachte nicht im Geringsten daran, ihrem Befehl Folge zu leisten. ,,Ohh seht euch das an!", sagte er spöttisch und löste bei seinen Freunden wieder Gelächter aus. ,,Unser kleines Versagerpäärchen möchte allein sein und sich weiter knutschen, is ja süß!" Erneut staute sich Wut in Cians Inneren an und riss sich abrupt von seiner Freundin los. ,,Halt einfach die Klappe!", fauchte er. ,,Wir haben uns noch nie geküsst! Und gerade du musst dich natürlich mal wieder über alle lustig machen, bei denen es nur so aussieht als ob. Wo du doch selbst deine Amber hast!" ,,Immerhin pflege ich einer Affäre dazu, mein gutes Aussehen beizubehalten, im Gegensatz zu deiner lächerlichen Schlampe da!", mischte sich Logans feste Freundin Amber in das Gespräch ein und trat an seine Seite, wobei Soraya fixierte und anmutig ihr brünettes Haar über die Schultern warf. ,,Nicht wahr, Sheehan? Solltest dir vielleicht auch mal wieder mit ein bisschen Schminke das Gesicht auffrischen... obwohl, du hast ja eh keine Erfahrung darin, wie es ist, zu den Schönen zu gehören." Ungläubig huschte Cians Augen von Amber zu Soraya, die von deren Provokation jedoch nicht besonders gekränkt zu sein schien. Sie war es scheinbar längst gewöhnt, dass all die hohlen Zicken ihrer Klasse ständig darüber lästerten, dass sie das einzige Mädchen im neunten Schuljahr war, das keine Schminke trug.
,,Damit verdeckt man doch nur sein wahres Aussehen.", pflegte Soraya sonst stets zu sagen, wenn sie jemand darauf ansprach. ,,Ich bin doch noch keine schrumpelige, alte Frau, warum sollte ich dieses Zeug also tragen? Fühlt sich doch total klebrig an und man muss extra früher aufstehen. Die Mädels wollen doch nur cool sein, dabei benehmen sie sich ständig wie aufgeblasene Hennen.
Diesmal ließ sie Ambers Aussage allerdings kalt und verdrehte nur mit den Augen. ,,Komm schon, Cian!", zischte sie ihm zu. ,,Lass uns einfach gehen!" Cian war dadurch, dass Amber seine beste Freundin schier beleidigt hatte, umso zorniger geworden. ,,Hey!", fuhr er sie an. ,,Lass Soraya gefälligst in Ruhe!" ,,Und du Amber, kapiert?" Bedrohlich baute sich Logan vor Cian in voller Größe auf und sah drohend auf ihn herab. ,,Denn sonst..." Anstatt seinen Satz zu beenden hob der Junge stattdessen den Bein und rammte sein Knie mit voller Wut in Cians Magengrube. Entsetzt schnappte dieser nach Luft. Logan hatte ihm den gesamten Sauerstoff aus seiner Lunge gepresst, sodass er sich schmerzhaft den Bauch hielt und in die Knie sank, wobei er hilflos nach Atem rang. ,,Cian!", schrie Soraya entsetzt und ging neben ihrem Freund ruckartig in die Hocke. Beruhigend legte sie ihm beide Hände auf seine Schultern und sah ihn besorgt von der Seite an. ,,Ganz ruhig, entspann dich!" ,,Du dich am besten auch!", raunte ihr Carlson ins Ohr, Logans bester Freund, der grinsend an ihre Seite getreten war. Im nächsten Moment schlang er seine Arme um die Hüfte des Mädchens und zerrte sie von ihrem Freund fort. Wütend wand sich in seinem Griff und versuchte hoffnungslos, sich zu befreien, während Logan sich in aller Ruhe zu dem ächzenden Cian hinunter bückte. ,,Das soll dir eine Lehre sein!", höhnte er. ,,Dafür, dass du dich besser nicht mit den falschen Leuten anlegst." Damit ballte er seine Hand zur Faust und schlug Cian somit mit voller Wucht ins Gesicht.
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