Kapitel IV
Der Mond und das regelmäßige Krächzen einer Eule im Gebüsch begleiten uns, als wir weiter Richtung Westen ziehen, bis wir wieder auf Janae und Xanthio treffen. Janaes erstickte Schluchzer, als sie von Magrettas Tod erfährt, lassen mich kalt. Ebenso Xanthios müdes Gesicht. Doch als Clarices nachdenklicher Blick den meinen streift, kann ich nicht anders, als mich zu fragen, woran sie denkt. Ob sie bereut, mein Leben gerettet und die Gestaltenwandler freigelassen zu haben? Sie hätte ihren Auftrag erfüllen können, sie hätte zurück in ihr altes Leben kehren können. Mir wird übel bei dem Gedanken, in ihrer Schuld zu stehen. Es macht sentimental und lässt einen in dem Glauben, die Schuld begleichen zu müssen. Ich frage mich, was der Preis sein wird. Mein Preis.
Clarice tut es mir nach, als ich mich im Tempo zurückfallen lasse und ans Ende unserer kleinen Truppe setze. Wir gehen weiter, immer weiter, und folgen dem Fluss Gudana, der sich durch das ebene Land schlängelt. Mein Blick fällt auf das sich kräuselnde Wasser, in dem sich das Mondlicht spiegelt und funkelt wie tausende Diamanten. Beinahe verlockend sieht es aus, doch ich gebe Acht und halte Abstand zur pechschwarzen Tiefe. Richtung Süden verdecken dunkle Schatten den Nachthimmel; es ist das Gebirge mit dem Berg Alsim, auf dem die zwölf Göttinnen leben sollen. Die meisten Bewohner Duniyas sind gläubig, aber ich halte Glauben nur für eine Rechtfertigung der Menschen, ihr eigenes Leben aus der Hand zu geben. Wer dumm ist, muss glauben. Mein Gesicht verdüstert sich.
Ich merke, wie Clarice mich von der Seite mustert. Ihre Augen sind groß und glänzen wie grünschillernde Käfer. Sie scheint sich wieder gefasst zu haben; ich weiß, wie das ist. Noch pumpt das Adrenalin durch ihren Körper und sie hört nichts außer das Pochen ihres Herzens hinter den Rippen. Doch lange wird es nicht mehr dauern, da wird der Schock, der noch tief in ihren Gliedern sitzt, verblassen und die Realität preisgeben. Einer von uns ist gestorben. Und sie wird sich fragen, ob es Schicksal war, dass die Pfeilspitze Magrettas Brust durchbohrt hat und nicht ihre.
~~~~
„Lasst uns eine Pause einlegen", schlägt Janae nach einer Ewigkeit vor, „Wenn wir jetzt ein bisschen schlafen, sind wir morgen wieder gestärkt, um weiterzuziehen."
Ich bin nicht sonderlich begeistert von dem Vorschlag, aber lehne ihn auch nicht ab. Wir alle sind müde und hungrig und benötigen etwas Schlaf. Wir kämpfen uns durch das hohe Schilf bis ans Ufer des Flusses, wo sich eine kleine Schotterbank befindet. An dieser Stelle ist das Wasser relativ ruhig und als meine Finger die Oberfläche durchbrechen, umfasst mich eisige Kälte. Ich fülle meine hohle Hand damit und trinke. Die andere Handfläche habe ich sicher auf den Schotteruntergrund gelegt. Ich gebe es nicht gerne zu, doch selbst nach all den Jahren jagt mir die unentrinnbare Tiefe des Wassers immer noch Schauer über den Rücken.
Als ich eine Bewegung hinter mir vernehme und mir jemand eine Hand auf die Schulter legt, zucke ich zusammen und fahre herum. Doch es ist nur Clarice, die sich ächzend neben mir niederlässt, um ihre blutverkrusteten Hände zu waschen. Sie keucht auf, als das eisige Wasser ihre Haut berührt.
„Du hast da auch noch etwas Blut", teile ich ihr mit und deute auf ihr Kinn, ihre Nasenspitze und eine Stelle oberhalb ihrer Augenbraue. Sie muss sich mit den Händen ins Gesicht gegriffen haben.
„Kannst du's wegmachen?", fragt sie mich und ich halte inne, mustere schweigend jede Regung ihrer Miene. Ich will ihr kein Blut aus dem Gesicht wischen, ich will sie nicht berühren und ich will nicht, dass sie mich dabei ansieht.
„Klar."
Ich tauche meine Finger wieder ins Wasser und greife dann nach ihrem Gesicht. Sie zuckt zusammen, als meine Finger vorsichtig ihr Kinn festhalte, um das verkrustete Blut wegzureiben.
„Meinst du, die Gestaltenwandler werden uns bis hierhin folgen?", fragt sie mich. Ihre Stimme ist seltsam locker dafür, dass ich gerade die Haut oberhalb ihrer Augenbraue malträtiere. Scheiße, Blut geht schwerer ab als gedacht.
Ich schüttle den Kopf. „Je weiter sie sich von ihrem Lager entfernen, umso gefährlicher für sie", antworte ich und lasse ihr gesäubertes Gesicht los, „Wie neu."
Sie grinst, bevor im nächsten Moment ein dunkler Schatten in ihren Augen aufblitzt und ihr das Lächeln von den Lippen wischt.
„Was sollen wir jetzt nur tun?", wispert sie, als würde sie erst jetzt das Ausmaß dieses ganzen Schlamassels erkennen. Ich kann es ihr nicht verübeln; selbst ich habe nicht an den Fall gedacht, dass wir den Gestaltenwandler tatsächlich jemals entkommen.
„Jetzt sollten wir erstmal schlafen", schlage ich vor, „Morgen besprechen wir, wie es weitergeht."
Sie sieht mich kurz an, bevor sie nickt und sich erhebt. Gemeinsam gehen wir zurück zu den anderen, die Steine klackern unter unseren Stiefeln.
„Ich schlage vor, dass Xanthio und ich mit der ersten Wache beginnen. In ein paar Stunden tauschen wir."
Niemand widerspricht mir, Clarice und Janae beginnen sofort mit den beiden mitgebrachten Messern Schilf abzuschneiden, um eine Unterlage und eine Art Decke zu basteln. Dann übergeben sie uns die Messer und drängen sich eng zusammen, um sich vor der Kälte zu schützen.
Ich reiche Xanthio ein Messer, auch wenn ich weiß, dass er damit nicht umgehen kann. Obwohl Xanthio und mich nur ein Jahr Altersunterschied trennt, könnten wir nicht unterschiedlicher sein. Er ist schlaksig und ziemlich sentimental, dauernd setzt er eine ängstliche Miene auf und mit dem Messer in seinen Händen sieht er beinahe verloren aus.
Es hatte schon seinen Grund, dass ich mich mit ihm in eine Wachschicht eingeteilt habe und Clarice mit Janae. Zwei Jäger, zwei Nichtjäger. Perfekt aufgeteilt.
„Falls uns jemand angreift, musst du Alarm auslösen und zustechen", sage ich zu ihm und bevor die Worte meine Lippen auch nur verlassen, bemerke ich schon den abschätzigen Ton in meiner Stimme.
„Ich weiß", meint Xanthio, aber es klingt nicht sehr überzeugt.
Doch zu unserem Glück bleibt die Nacht bis auf das melodische Krächzen eines Käuzchens still und als meine Schicht endlich vorüber ist, fallen mir wie auf Kommando die Augen zu.
~~~~
Ich werde von einem unglaublichen Geruch nach gebratenem Fisch geweckt. Schlaftrunken setze ich mich auf und reibe mir über die Augen, um wach zu werden. Mit den Fingern durchkämme ich meine dunklen Wellen, mein Blick huscht über die Schotterbank am Flussufer, wo wir gestern Nacht das Lager aufgeschlagen haben. Im warmen Licht der Morgendämmerung sieht alles viel freundlicher aus, sogar die blaugrüne Wasseroberfläche des Flusses funkelt mir beinahe verlockend entgegen. Am Ufer erkenne ich die Reste eines Feuers, das schlampig ausgetreten wurde. Janae wäscht ihr Gesicht am Fluss, Xanthio und Clarice sitzen eng beieinander, um sich aufzuwärmen, und unterhalten sich leise, während das Zwitschern der Vögel die Welt aus ihrem tiefen Schlaf holt. Ich krieche unter der Schilfdecke hervor und dehne meine verspannten Muskeln, bevor ich zu den anderen trete.
„Hier, für dich", meint Clarice, als sie mich sieht, und drückt mir einen Stock mit aufgespießtem Fisch in die Hand. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen.
„Wer hat die gefangen?", frage ich und nehme einen Bissen. Das saftige Fleisch zergeht mir beinahe auf der Zunge.
„Ich", meint Janae und trocknet ihr Gesicht mit dem Ärmel ihres Kleids ab, „Irgendeinen Vorteil muss es ja haben, in einem Fischerdorf aufgewachsen zu sein."
Ich danke ihr, als sie mir das Messer zurückgibt.
„Wie sieht der Plan aus?", fragt Clarice, während sich Janae auf den bunten Steinen am Flussufer niederlässt. Duniyas morgendlicher Nebel ist vielleicht grau und trostlos, aber die schillernden Steine in alle Farben an jedem Ufer machen das wieder wett.
Ich nehme einen letzten Bissen, bevor ich mir die Hände an der Hose abwische und meine Überlegungen teile. Immerhin hatte ich die halbe Nacht Zeit, um nachzudenken.
„Ich bin mir sicher, dass Königin Charis inzwischen erfahren hat, dass die Gestaltenwandler geflohen sind. Spätestens als die toten Wachen vor dem Tor in den Schattenwald gefunden wurden, muss sie es erfahren haben. Bestimmt hat sie Suchttrupps aus Reitern und Soldaten gebildet, die nach den Ausreißern suchen und das heißt, sie suchen auch nach uns. Wahrscheinlich lässt Charis besonders gründlich nach Clarice suchen. Wäre ich die Königin, würde ich denken, dass du dich auf die Seite der Gestaltenwandler geschlagen und sie freigelassen hast."
Mein Blick trifft ihren, sie beißt sich auf die Lippe und nickt.
„Was passiert, wenn sie uns in die Finger bekommen?", fragt Xanthio heiser. Die bläulichen Ringe unter seinen Augen sind von stärkerer Färbung als seine Iris selbst.
„Charis wird mit Sicherheit zwischen der Flucht der Gestaltenwandler und Clarices Anwesenheit im Schattenwald einen Zusammenhang herstellen. Und das kann nichts Gutes heißen", antworte ich.
Kurz ist es still, mein Blick gleitet durch Runde. Von einem geschundenen, ängstlichen Gesicht zum nächsten. So sehen keine Helden aus. Aber wir sind auch keine.
„Wir können nach Satied", schlägt Clarice vor, „Meine Eltern würden uns sofort aufnehmen."
„Bist du verrückt?", zischt Janae, „In der Hauptstadt ist die Wahrscheinlichkeit, erkannt zu werden, am größten."
Clarice zarte Finger wandern an ihren Hals und sie zieht die Kette mit dem olivfarbenen Steinchen hervor. Unaufhaltsam schwenken meine Gedanken zurück an den Abend von Clarices Aufnahmezeremonie in den Dunklen Rat der Gestaltenwandler. Ich erinnere mich, wie ich ihr danach den zweiten Geheimraum im Anwesen im Schattenwald zeigte. An diesem Abend war mir erstmals die filigrane Kette um ihren Hals aufgefallen. Ich zucke zusammen, als Clarice mich anstupst. Was meinst du, scheint ihr Blick zu sagen und ich räuspere mich.
„Wir könnten es wagen", überlege ich, alle drei Augenpaare mustern mich. Ohne es zu wollen, wurde ich zum Strategen und Plänemacher der Gruppe auserkoren.
Janae verdreht die Augen.
„Hast du etwa eine bessere Idee?", frage ich sie giftig und Clarice wirft mir einen tadelnden Blick zu, den ich ignoriere.
„Definitiv", meint Janae, „Wir verstecken uns irgendwo, wo sie uns niemals finden und warten, bis dieser ganze Mist endlich vorbei ist. Ein Kampf zwischen Königin Charis und Zinariya ist sowieso unvermeidbar. Wer sagt schon, dass wir uns unbedingt einmischen müssen?"
Ich schüttle den Kopf. „Wir haben weder Vorräte noch gute Waffen und ausreichend Kleidung für die kälteren Nächte."
Xanthio räuspert sich kurz. „Und was, wenn wir nicht bei Clarices Eltern Unterschlupf suchen, sondern bei meinen oder euren?" Er blickt Janae und mich an.
„Ich komme aus Tekuna. Der Weg dorthin ist fast doppelt so lange wie nach Satied. Außerdem bin ich die Älteste von euch. Ich habe keine Ahnung, was aus meinen Eltern geworden ist oder meinen drei Brüdern", meint Janae. Ihre Stimme bricht und Clarice schlingt ihre Arme um sie.
„Ich bin aus Dasos", wirft Xanthio ein, „Wenn wir dem Fluss folgen, kommen wir dorthin. Und außerdem liegt es am Weg nach Satied, falls wir es uns anders überlegen sollten."
„Ein kleiner Umweg besteht schon", wende ich ein, aber Clarice unterbricht mich mit genervtem Augenverdrehen. Ich beiße mir auf die Zunge und erwähne auch nicht, dass Dasos ein kleines Städtchen – ja, beinahe nur ein Dorf – ist und damit noch gefährlicher als das große, anonyme Satied.
„Dann ist es also beschlossene Sache", bestimmt Clarice, „Wir gehen nach Dasos."
Ächzend erheben wir uns, packen zusammen und kämpfen uns durchs Schilf, das so hoch ist, dass es uns am Hals und im Gesicht schneidet. Clarice lässt sich zurückfallen, um neben mir zu gehen. Ihre Unterlippe ist leicht geschwollen und über die Hälfte ihrer bläulichen Stirn erstreckt sich eine Kruste. Irgendetwas in mir zieht sich schmerzerfüllt zusammen.
„Auf dass wir einen Weg finden, Arkyn", sagt sie leise und ihre Stimme klingt so zart, dass ich Angst habe, sie könnte einfach zerbrechen.
Ich ringe mit mir, die Worte liegen mir auf der Zunge. Es wäre ein Leichtes, sie zu wiederholen, wie damals vor jedem Ausflug in den Schattenwald, doch ich bringe nur ein Nicken zustande. Vielleicht ist es an der Zeit, alte Gewohnheiten zu brechen. Nichts ist mehr so wie bei den Gestaltenwandlern im Schattenwald.
Ich würde lügen, wenn ich sage, dass ich mir nie eine heile Zukunft ausgemalt habe. Ich würde lügen, wenn ich sage, dass ich mir nie vorgestellt habe, wie es wäre, wenn Clarice und ich normale Bürger Duniyas wären. Was wohl passiert wäre, wenn wir uns in Satied über den Weg gelaufen wären. Vor der Bibliothek am Hauptplatz vielleicht, sie mit einem Stapel Büchern unterm Arm und ich mit grimmiger Miene und in den Manteltaschen vergrabenen Fäusten. Manchmal, wenn ich nachts aus einem Alptraum hochschreckte, tat ich es. Es war ein Spiel und jetzt ist es zur verzerrten Wirklichkeit geworden. Wir leben beide noch und wir sind frei, aber alles ist so anders. Wir sind voller Reue, Sorge und Ungewissheit.
Aber es ist noch nicht vorbei. Das Spiel geht weiter.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro