Das Begehren der Pilzpasteten
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Auch Bree veränderte sich nicht. Noch immer ist das vom Staub des Sommers graue Pflaster der Straßen kaum zu sehen unten den regen Schritten, die von Ort zu Ort und von Geschäft zu Geschäft eilen. Händler, spielende Kinder, flanierende Edeldamen, Bauern mit ihren Pferdekarren. Krämerinnen, deren Bauchläden von wunderschönen Dingen förmlich überquellen. Vielfarbige Bänder, Haarspangen aus kostbarem Silber und einfachem aber umso kunstfertiger geschnitztem Holz, nach Mandeln duftende Süßwaren, bunte Bonbons, belegte Brote und Spielzeug. Hastig ist alles. Laut und eng. Ungewohnt nach den Wochen umgeben von beschaulicher Natur, in der lediglich singende Vögel, zirpende Grillen oder durch das Dickicht von kleinen Wäldern brechende Tiere die idyllische Stille bereicherten. Einige der Vorbeihastenden sehen uns an und aus ihren Gesichter sprechen die Gedanken, dass sie uns kennen mögen, aber nicht mehr genau wissen woher.
Das Gasthaus, in das wir einst einkehrten, ist ebenso unverändert von der vergangenen Zeit geblieben und ich glaube, selbst in 92 oder 169* Jahren wird es noch genauso aussehen, wie jetzt. Drinnen ist es verraucht und stickig und oh, es duftet so herrlich nach Eintopf, dass mein Bauch anfängt zu grummeln, nur bei der Mutmaßung über seinen Geschmack. Umso eindringlicher, da wir die letzten Tage lediglich etwas Brot und einige kleine Hasen zu essen hatten. Aber, zu glaube ich nicht nur meinem Verdruss, vergibt Thorin einem späten Mittagessen keinerlei hohe Priorität. Sehr viel wichtiger ist ihm, einem im Schankraum anscheinend bereits wartenden Gast zu begrüßen, der uns, kaum dass er das Eintreten bemerkte, aufgeregt zu sich winkt. Bruni. Wie groß ist die Freude ihn wiederzusehen. Jedoch ein fahler Schatten betrübt diese sogleich, als ich bemerke, wie sich Schmerz auf sein Angesicht legt, als ihm gewahr wird, dass wir weiterhin zu fünft nun heimwärts reisen. Er erhebt sich respektvoll, während wir näherkommen und sein Blick an Thorin aussagt mehr als es Tausende bedauernde Worte können.
Viel haben wir ihm nun doch bei einer stärkenden Mahlzeit und herben Bier zu berichten und kein Detail lässt Thorin dabei aus. Selbst die Grauen Dol Guldurs beschreibt er in all ihrer Schrecklichkeit. Zum ersten Mal höre ich aus seiner Sicht, was geschah. Erneut wird mir bewusst, welch Glück ich hatte, dass die illusionierende Macht die dieser Schatten, wer oder was auch immer es war, nur bis zur grabentiefen Umgrenzung seines Versteckes reichte. Jedoch verschweigt Thorin, ob nun zu meinem Schutz oder zu seinem, dass die Sorge um mich und die anderen, der eigentliche Grund war, warum wir ohne Thráin zu retten, umkehrten. Die Aussichtslosigkeit einer Bergung aus den dunklen, nun verschütteten Verliesen ist dagegen sein Argument und dieses wird es wohl auch sein, dass er bald dem Rat und vermutlich auch seiner Schwester vorbringen wird. Besser ist es so.
Bruni lässt es erneut nicht zu, dass wir Quartier im ‚Tänzelnden Pony' nehmen und insgeheim bin ich froh darüber. Vermisste ich doch all die Monate die warmen, hellen Stuben seiner Hobbit-Zwergen-Höhle. In ihr ist Wohligkeit nicht nur ein unfassliches Gefühl, sondern lässt sich in jeder Ritze der gewölbten Wände, in jedem Lächeln von Luisanne, in jeder wohlduftenden Pastete und in vertrauten Gesprächen vor prasselnden Kaminfeuern finden.
Wohl keine Ahnung von unserer Rückkehr hatte seine Frau, denn als wir eintreten, ist ihr die Überraschung darüber deutlich anzusehen. Selten habe ich sie sprachlos erlebt, aber wie bei ihm, verkünden die Tränen in ihren Augen die tief empfundenen Gefühle. Allerdings Freude anstatt Trauer ist es, war ihre Sorge um uns doch größer als die um einen König, den sie nicht kannte und womöglich nur ob Erzählungen schätzte. Genauso herzlich, wie ich mich ihrer erinnere, sind ihre Umarmungen, in die sie jeden einzelnen von uns schließt. Selbst Thorin und Dwalin können sich ihrer nicht erwehren.
Zwei ganze Wochen bleiben wir in Bree. Erholen uns von der bisher langen Reise, schöpfen neue Kräfte für den letzten Marsch, bereiten uns vor auf die Heimkehr und dass zu erwartende Ungewisse. Allerdings kaum Ruhe finde ich derweil. Immerzu muss ich mich selber beschäftigen, wenn Thorin keine Aufgaben vorhält. Zusammen mit Luisanne und ihren Töchtern besuche ich Verwandte und Freunde, die ich bereits vor einem Jahr kennenlernte, koche, lese und tätige sogar Handarbeiten, die mir deutlich schwerfallen, da meine Hände solch feine Arbeiten nicht mehr gewohnt sind.
Zwei Tage vor unserer Abreise bereite ich mich gerade, um mit Luisanne zum Markt aufzubrechen, auf dem sie etliches für das große Abschiedsessen besorgen möchte. „Soll ich euch begleiten?" Dwalins Frage erreicht uns dabei unerwartet, aber gerne nehmen wir sein Angebot an, denn unbestreitbar schwer zu tragen werden wir auf dem Rückweg haben.
Voll ist der Marktplatz an diesem sonnigen Tag. Von überall her kamen Händler mit ihren Waren, um sie hier anzupreisen. Da sehe ich Damast aus Gondor, fein gewebt mit eingearbeiteten Goldfäden, die filigrane Muster bilden. Beinahe schwarz wirkender Wein aus dem südöstlichen Dorwinion, jenseits des Nebelgebirges gelegen. Pfeifenkraut aus dem Südviertel des Auenlandes, das nicht nur bei den Hobbits beliebt ist, denn einige Bündel davon soll ich für Thorin und Balin erwerben und auch Dwalin kauft sich etliche. Stark duftende Kräuter aus den umliegenden Wäldern und Heiden, zur Heilung oder als Gewürz geeignet. Gewänder in den schillerndsten Farben und aus edelsten Stoffen.
Allgegenwärtig wabert der Geruch von rohem Fisch, gebratenen Fleisch, gebrannten Mandeln und klebrigen Zuckerwerk umher. Überall lässt sich bestaunen, wie Handwerker mit ihrer Kunstfertigkeit die wundervollsten Dinge erschaffen. Weberinnen mit surrenden Spinnrädern, deren Mechanik mich über alle Maßen fasziniert. Für kurzem erst wurden sie von Angehörigen unseres Volkes in den Eisenbergen erfunden. Den aufwendigen und langwierigen Prozess des Verspinnens, der sonst mit einer herabhängenden Spindel per Hand erledigt werden müsste, erleichtern sie ungemein. Schmiede beschlagen an ihren heißen Öfen Pferde, schärfen Waffen oder einfache Küchenmesser. Spielzeugmacher basteln an Hampelmännern und blondegelockten Puppen, die von Kindern mit großen Augen betrachtet werden. Frisches Obst und Gemüse, abgehangenes Fleisch und unreife, noch grüne Walnüsse, die man dennoch für allerhand verwenden kann, werden lautstark angepriesen.
Ein Stand, an dem wir bereits vollgepackt vorbeischlendern, wirkt unscheinbar, aber Bezauberndes lässt sich darauf finden. Schmuckstücke aus Leder und Holz und vereinzelt auch Silber. Ketten, Ringe, Armbänder, wunderschöne Haarspangen mit aufwendigen, ziselierten Mustern, die wir Zwerge so sehr lieben. Eine von ihnen fällt mir sogar aus der Distanz ins Auge und unvermittelt bleibe ich stehen, um sie genauer zu betrachten. Aus einem gebogenen, breit gefächerten, schwarzen Lederstück besteht sie, an dessen Rändern sich zwei Löcher befinden, durch die man einen Holzstab zur Befestigung schieben kann. Auf der Oberseite wurden geschwungene Linien eingeprägt und ein goldener Beschlag in der Form einer Rosenblüte aufgebracht.
„Eindrucksvoll gearbeitet", sagt Dwalin, der mit mir an den Stand herantrat. Auch wenn man es ihm nicht zumutet, ein äußerst gutes Auge hat er für solcherlei filigrane Dinge, kann sie sogar selber fertigen, wenn auch ungern. Das Schmieden von Waffen und Werkzeugen liegt ihm mehr, auch am Herzen. „Ja", antworte ich und viel Beherrschung vermag die Vernunft aufzubringen, damit ich sie nicht zur Hand nehme. Der Händler, ein älterer Herr, dessen langer Bart beinahe den Anschein erweckt, er wäre ein zu groß geratener Angehöriger unseres Volkes, bemerkt dennoch das Interesse. „Es ehrt mich, dass Zwerge meine Ware bestaunen", verkündet er übertrieben höfflich und kaum, dass ich protestieren kann, überreicht er mir die Haarspange zur genaueren Begutachtung. Noch viel herrlicher wirkt sie von Nahem, offenbart der präzisere Blick außerhalb des Schattens des überdachten Standes doch weitere Feinheiten. Kleine Glassteine, die Tautropfen auf den Rosenblättern imitieren sollen und das Sonnenlicht zu klitzekleinen Regenbögen brechen. Dass der schwarze, sich verjüngende Holzstab zum Verschließen gedreht ist und einen helleren Kern besitzt. Begierde erwacht in meinem Herzen. Oh du brennendes Verlangen nach allerlei Kostbarkeiten, wie bist du doch die größte Schwäche, der wir Zwerge immer wieder drohen zu erliegen.
„Möchtest du sie dir kaufen?" Dwalins Frage beendet die Faszination über so viel Detailreichtum. Nein, ich muss stark sein. Daher schüttle ich den Kopf und lege sie wieder zurück. Wütend schimpft mein Herz mit mir, aber zur Räson rufe ich es mit strenger, innerer Stimme. „Mehr als genug Haarschmuck beherbergt meine Schatulle Zuhause. So viel, dass ich wohl niemals alles tragen kann, selbst wenn Thorin mich auf sämtliche Feste der nächsten Jahrzehnte schleppt." Richtig und vernünftig ist die Aussage, aber dennoch schmerzt es das Verlangen zu bekämpfen. Eine permanente Schlacht ist es, die in uns wütet, allzu oft verloren wird und schon so manches Unglück heraufbeschwor. Eine einfache Haarspange, funkelnde Geschmeide, Waffen, Edelsteine, Gold und Silber gehortet zu Schätzen ... keinen Unterschied macht es aus, wie kostbar der Wert von dem ist, nach was wir uns verzehren. Eine einmal erwachte Leidenschaft schwelt auf ewig. Daher schnell wende ich mich ab und eile, um Luisanne behilflich zu sein, die gerade an einem benachbarten Stand rotbackige Äpfel kauft.
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Ich bezweifle arg, ob es in der Höhle genügend Stühle gibt, auf denen die bestimmt unzählbaren Gäste alle Platz nehmen sollen, als ich am nächsten Tag die Küche betrete. Bereits seit den frühen Morgenstunden backt und kocht und schnippelt und rührt und singt Luisanne mit fröhlicher Stimme und fürwahr, noch niemals sah ich so viel an Essen und verzweifle, als sie berichtet, dass lediglich ihre Kinder mit Familien zusätzlich zum Abschiedsfest erwartet werden. Wie bei Mahal soll ich nur morgen bei der Abreise auf Khajmels Rücken klettern, mit solch vollen Magen. Als ich diese Bedenken äußere, zuckt Luisanne nur mit den schmalen Schultern, überlegt dagegen ernsthaft, noch eine Charge Pilzpasteten anzusetzen, weil Thorin, der diese ja so gerne isst, nach ihrer Meinung in den letzten Monaten so erschreckend dünn geworden ist. Hobbits sind wahrlich ein außergewöhnliches Völkchen und wohl niemand besitzt ein größeres Herz.
Natürlich helfe ich ihr bei den weiteren Vorbereitungen. Aus Pflichtgefühl, weil es ihr und mir Freude bereitet, aber auch, um das Rezept für eben genannte Pasteten in Erfahrung zu bringen. Ich schmecke gerade die aus angebratenen Steinpilzen und Speck, Sahne und noch etwas mehr zusammengerührte Masse ab, da betritt Dwalin die Küche. Getrieben wohl von dem Geruch, denn auch ihm mundet so einiges von dem, was Luisanne zaubert. Überrascht scheint er allerdings zu sein, mich hier anzutreffen. Ich tadle ihn mit einem grimmigen Blick für die fragend heraufgezogene Augenbraue. Allzu schnell vergaß er wohl, dass einst auch Küchendienst zu meinen Aufgaben als einfache Magd zählte und noch immer zählt, wenn eines der Mädchen verhindert ist.
„Verdirb bloß nichts, sonst wird dir der schreckliche Zorn eines hungrigen Thorins gewiss sein", höhnt er und umso schneidender wird mein Blick daraufhin. Wenn er nicht Acht gibt, könnte es durchaus sein, dass er gnadenlos von ihm erdolcht wird. „Lass mich probieren, bevor du es versalzt, oder schlimmer noch, anbrennen lässt", fordert er und wartet nicht auf eine Erlaubnis. Gerade noch rechtzeitig kann ich ihm den Holzlöffel, auf dem ein Rest verblieb, entziehen. „Nein", sage ich bestimmt, aber keinen Widerspruch, keine Verwehrung seines Willens, lässt der Krieger zu. Schnell greift er nach meinem Handgelenk. Unerbittlich ist sein Griff. Nichts kann ich ihm entgegenbringen. Und so, mit einem siegreichen Funkeln in den Augen, zieht er mit Leichtigkeit den Löffel näher zu sich. Allerdings verriet gerade er mir, wie ich mich aus solcherlei Situation befreien kann. Flink schlage ich mit den Fingerknöcheln der freien Hand auf die Innenseite seines Armes. Schmerzhaft ist dies, besonders, wenn man die Kraft auf exakt den richtigen Punkt treffen lässt. Dwalin zuckt und ein wenig nur, verblasst die Stärke des Griffes. Aber genau dies nutze ich als Chance, um mich ihm zu entwinden. Triumphierend ist nun mein Lächeln, während er sich mit dunkel-bösem Durinsblick die schmerzende Stelle reibt.
„Du verdirbst dir nur den Appetit", maßregle ich feixend und will mich wieder meiner Aufgabe zuwenden. Oh hätte ich dies doch bloß nicht getan, denn weitaus finsterer wird seine Wut daraufhin. Eine Schnelligkeit an den Tag legend, die weder Freund noch Feind dem bulligen Krieger zutraut, ist er mit einem Schritt bei mir, und anstatt nur ein Handgelenk, ist es nun mein ganzer Körper, der augenblicklich in seinem Griff gebannt wird. Hoch über den Boden hebt er mich zudem, sodass ich keine Chance habe, weitere Gegenangriffe zu tätigen.
„Dwalin, lass mich runter!", schimpfe ich. Winde und wende mich mit aller Kraft, aber unmöglich macht er es mir, zu entkommen. „Du willst mich also disziplinieren!?", grollt er mit steinschroffer Stimme, die jeden in Angst und Schrecken versetzt und sein Angesicht ist so nah, dass der heiße Atem das meine streift. Ich beiße mir auf die Unterlippe, nicht gewillt dies zu revidieren, aber auch wissend, was mir dadurch an Konsequenzen drohen. „Wenn du mich nicht sofort runterlässt, wird das Essen wirklich noch anbrennen", mahne ich stattdessen mit einem Seitenblick auf die Pfanne. Auf seichtem Feuer köchelt die Pastetenfüllung zwar, aber das muss er ja nicht wissen. „Nur, wenn du dich für die Frechheiten entschuldigst, Fräulein." Ich setze einen sturen-schmollenden Blick auf, der selbst Thorins Konkurrenz machen würde. So weit wird es niemals kommen.
„Dann werde ich dich wohl oder übel draußen in die Regenwassertonne stecken müssen, damit der ganze Unfug aus deinem Kopf gespült wird." Das meint er doch nicht wirklich ernst! Er meint es und will es auch sofort beweisen. Ungeachtet der lautstarken Proteste, dem nun noch viel wilderen Hin und Her Winden, schmeißt er mich mit Leichtigkeit über seine Schulter und schickt sich an mich tatsächlich hinaus zu tragen. Hart treffen meine Fäuste auf seinen Rücken, aber wohl einem banalen Mückenstich gleichend, wird er sie fühlen.
„Treibt es nicht ganz zu arg", mahnt da plötzlich eine Stimme und rettet mich wohl vor einem ungewollten Bad, denn Dwalin stockt daraufhin in der Bewegung. „Wir sind hier zwar nicht Zuhause, jedoch solltet ihr euch eine gewisse Erziehung bewahren." Thorin ist es, der, so vermute ich, in der runden Tür zur Wohnstube steht und uns den Weg versperrt. Sofort setzt mich Dwalin ab und entschuldigend senke ich den Blick vor meinen Herren. Dennoch überraschend unernst präsentiert sich uns sein grinsendes Gesicht. Eine durchaus begründete Rüge erteilte er zwar, aber scheint der lockere Umgang ihm eher Freude zu bereiten. Zumindest, solange er ungesehen von neugierigen Augen bleibt, die ihn zu unserem Nachteil gebrauchen könnten. Wenn wir erst wieder in den heimatlichen Hallen dem geregelten Leben nachgehen müssen, gefangen in Verpflichtungen, höfischer Etikette und einzuhaltenden Protokollen, verhindert die ständige Achtsamkeit vor Intrigen, Klatsch und Tratsch so manch unbekümmertes Handeln. Etwas, das beim aufkommenden Gedanken daran in uns allen bereits jetzt Verdruss heraufbeschwört.
Langsam, mit würdevoll auf dem Rücken verschränkten Armen, geht er an uns vorbei zum immer noch gemächlich auf dem Herd vor sich hinschmorenden Pasteteninhalt. Einen tiefen Zug des würzigen Aromas nimmt er in sich auf und dann, schneller als ich reagieren kann, den Holzlöffel zur Hand, um etwas davon zu kosten.
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Kaum ein Fitzelchen der Tischdecke ist noch zu sehen, als Luisanne am Abend all die vorbereiteten Köstlichkeiten auf den großen Tisch im Esszimmer ausbreitet. Da gibt es Pasteten mit deftigen und süßen Füllungen. Aufläufe. Brot und Brötchen, die noch heiß dampfen. Schweinebraten. Fisch. Obst. Gleich zwei Kümmelkuchen, den nicht nur ich so gerne esse. Puddingtaschen. Pfannkuchen mit Apfelmus. Fleischklöße. Lieblicher Wein und herbes Bier und Met und oh noch so vieles anderes, dass es Euch mit der Zeit langweilen oder mit knurrenden Mägen zur Speisekammer treiben würde, wenn ich alles aufzähle.
Ein herrliches, lustiges Fest wird es. Oft erfüllt lautes Lachen den Raum. Aber auch gespanntes Schweigen, wenn Balin, Thorin oder Bruni eine Geschichte erzählen. Es wird reichlich gegessen und noch mehr getrunken. Dwalin verschlingt eine Pilzpastete nach der anderen. Die Kinder spielen unter dem Tisch, während die Erwachsenen über so uninteressante Dinge wie Politik und die letzte Ernte reden. Ab und an kommen sie wieder hervorgekrabbelt und belagern besonders Thorin, eine weitere Geschichte zu erzählen. Bezaubernd ist der Anblick, wie die kleine honigblond gelockte Tochter von Luisannes Ältester auf seinem Schoß sitzt und ihn mit großen Augen ansieht, während er davon berichtet, wie er einst einen garstigen Steintroll besiegte.
Schließlich wird es ruhiger, als die Nacht immer dunkler wurde, das Essen immer weniger und viele der Gäste sich bereits verabschiedeten. Beim Aufräumen helfe ich Luisanne und erstaunlicherweise, kaum etwas Übriggebliebenes müssen wir in der Vorratskammer verstauen. Einiges davon packt sie uns zudem als Reiseproviant zusammen und legt noch zu meinem Bündel ein kleines Rezeptbuch hinzu. Wie ein Schatz werde ich es hüten.
Im Salon haben sich die Männer derweil pfeiferauchend vor dem Kamin versammelt. Gemäß meiner Stellung nicht stören möchte ich sie, aber auch nicht zu Bett gehen. Also beschließe ich, die laue Sommernacht noch etwas zu genießen, vor allem, um den ob der Überlastung grummelnden Bauch zu beruhigen.
Noch immer schwebt der süßliche Geruch der Hortensien über dem Garten, der an der Rückseite des Hügels liegt. An den Sträuchern leuchten die Beeren silber-rot und -blau im Licht des vollen Mondes. Holunder, Kamille und Lavendel, Petersilie, Minze und Melisse duften ungeachtet der Dunkelheit, denn die Wärme des Tages schwächte sich trotz ihrer nur mäßig ab. Es ist so wunderschön hier und wenngleich sich auch langsam Vorfreude auf Zuhause in mein Herz schleicht, wehmütig stimmt es erneut, diesen Ort verlassen zu müssen.
„Willst du nicht lieber zu Bett gehen?" Eine Stimme unweit vor mir schreckt mich plötzlich auf. Unerwartet dringt sie aus der Schwärze, denn düngte ich mich doch alleine hier draußen. Dann aber wird sie durchbrochen von dem Aufflammen solcherlei kleiner Funken, die Zündsteine schlagen. In ihrem und dem Schein des schließlich Feuer fangenden Pfeifenkrauts, erkenne ich Thorin. Wohl die Ruhe des Gartens, die er zum Nachdenken und ebenfalls Atem schöpfen nutzen wollte, störte ich, denn auf der gemütlichen Bank unter dem Kirschbaum hat er sich niedergelassen.
„Ich befürchte, mein übervoller Magen wird mich keinen Schlaf finden lassen", gebe ich zögerlich als Antwort. Ich weiß nicht, ob er meine Anwesenheit begrüßt oder lieber alleine sein möchte. Oft verließ er während der Reise das abendliche Lagerfeuer. Verbrachte Minuten, manchmal Stunden abseits, umgeben von Dunkelheit und Stille und dachte nach. Über unseren weiteren Weg und andere Dinge, die mich nichts angehen. Fällte wichtige Entscheidungen, die uns alle betreffen und schwer auf den Schultern eines Anführers liegen. Unschlüssig ob ich weilen oder lieber wieder hineingehen soll, trete ich von einem Fuß auf den anderen. Thorin nimmt schließlich das Zaudern, in dem er mich zu sich bittet. Vielleicht etwas holen soll ich ihm, ein letztes Glas Wein möglicherweise, aber stattdessen den Platz neben sich einzunehmen, zeigt er mir an. Dennoch weiterhin schwankend, ob ich ihn nicht doch störe, lasse ich mich darauf nieder.
Sanft rauscht der laue Wind durch die Blätter des Kirschbaumes. Späte, dunkelrote Kirschen hängen zuhauf in seiner Krone und die Süße des Kuchens, den Luisanne vor einigen Tagen aus ihnen backte, klebt erinnernd auf der Zunge. „Ich befürchte, etwas anderes wird ihn mir nehmen." Sonderbar klingt seine Stimme. Durch irgendetwas jeglicher Härte beraubt, aber dennoch voller Stärke, obwohl sie in der Tiefe der Brust zittert. Ich vermute, was ihm den wohlverdienten und dringend nötigen Schlaf verwehren wird. Gedanken werden es sein, die er sich bereitet. Fünf Tage, so Mahal will, dass uns derweil nichts Unerwartetes ereilt, werden wird noch benötigen, um die Ered Luin zu erreichen. Fünf Tage, während denen er nur die Verantwortung für uns vier trägt. Fünf Tage, bis er sie wieder übernehmen muss für ein ganzes Volk. Fünf Tage, in denen er sich wie zuvor bereits sorgen wird, welche Konsequenzen unser Scheitern heraufbeschwört. Fünf Tage noch, bis sie unvermeidlich eintreten werden. Er fürchtet sich. Vor dem, was ihn erwartet. Die Trauer seiner Schwester und womöglich Wut des Volkes. Intrigen und Zank und Niederträchtigkeiten, die nur allzu schnell einen Feuersturm entfachen könnten.
Ein schwerer weiterer Weg wird es werden. Hinter jeder Wegbiegung könnten neue, bisher unbekannte Tücken lauern. Hindernisse müssen bezwungen werden, die auf den ersten Blick unüberwindbar erscheinen. Aber schon einmal versicherte ich ihm, dass er diesen nicht alleine gehen muss. Wir an seiner Seite stehen, ihn beschützen und unterstützen wo und bei was wir nur können. Er weiß dies, nahm diese Zusicherung an, aber wohl noch einige Male müssen wir an ihn appellieren, diese auch einzufordern. Balin wird es ihm mit viel Geschick näherbringen. Dwalin ihm die Ermahnung eher mit all seiner Grobheit direkt an den trotzigen Kopf werfen. Aber ich, ich muss darauf hoffen, dass er mich darum bittet ihm beizustehen, denn nicht das Recht habe ich, etwas von ihm zu verlangen. Dennoch achtsam werde ich allzeit sein. Auf jedes Wort, jedes Gerücht, jede in Schlaflosigkeit verbrachte Nacht und jeden sichtbar trübsinnigen Gedankengang reagieren. Auch wenn es wohl nicht viel sein wird, mit dem ich ihn bestärken kann, alles werde ich geben und versuchen. Und so ist es lediglich eine warme Hand, die ich um die seine sehr weit größere und stärkere schließe, die den Beistand bei sämtlichen was da kommen mag nach diesen fünf Tagen symbolisiert. Umgeben nur von dem Duft der Sommerpflanzen, dem Rauschen des Windes und der Dunkelheit der Nacht.
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* Na, wer kann die Begründung für die eigenartigen Jahreszahlen liefern?
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