Kapitel 5
Ich hätte es wissen müssen. Nachts in einer fremden Stadt allein unterwegs zu sein, ohne Handy, ohne Jacke war eine beschissene Idee.
Aber zu dem jetzigen Zeitpunkt verfluche ich mich nur für mein mangelndes magisches Talent, weswegen ich hier versuche, barfuß an dem Rankgitter hinunter zu klettern.
Pah, damit hat er nicht gerechnet! Da hilft ihm meine verschlossene Zimmertür auch nicht weiter! Ich kann es immer noch nicht fassen. Ungläubig hatte ich zur Tür gestarrt, als sich ein Schlüssel im Schloss meiner Tür umdrehte. Punkt 10 Uhr! Arschloch. Ich freue mich schon auf die Genugtuung, wenn ich morgen früh ins Haus spaziere, als wäre nichts gewesen.
Endlich unten angekommen, reibe ich meine geschundenen Finger. Nun heißt es nur noch den Zaun zu überwinden. Er ist selbstverständlich magisch aktiv. Sozusagen ein- und ausbruchsicher. Vorsichtig nähere ich mich ihm und taste die verschiedenen Siegel ab. Ich muss grinsen, als mir Askyells Worte wieder in den Sinn kommen: „Sie besitzt ein äußerst geschicktes Gespür für magische Artefakte aller Art."
Zu schade für ihn, dass sein schöner Zaun laut Definition ebenfalls zu diesen gehört. Also lasse ich meine Aura in die der Gatter einfließen, verändere die Symbole und wie durch ein Wunder darf ich passieren. Zufrieden steige ich in meine Pumps. Ich glaube, ich habe sie zuletzt auf der Eröffnungsfeier meines Antiquariats getragen. Meine Füße tun mir jedenfalls jetzt schon weh.
Ich laufe die Straße hinunter und juble innerlich, als ich ein Taxi sehe. Der Zufall ist auf meiner Seite! Ich öffne die Tür und mit einem Mal fällt mir wieder ein, dass ich gar keine Ahnung habe, in welcher Stadt ich mich überhaupt befinde. Also frage ich: „English?" Der Fahrer nickt und zeigt auf den Platz neben sich. Ich schnalle mich an, reiche ihm zwei Scheine und sage: „Any party please." Er schüttelt lachend den Kopf und erwidert mit starkem Akzent: „Alright!"
Ich kurble das Fenster herunter und genieße die Nachtluft. Die Straßen sind hell erleuchtet, Menschen lachen und trinken. Die Freiheit fühlt sich unglaublich gut an! Vor einem schicken Laden mit rotem Teppich hält das Taxi. Ich bedanke mich und stakse auf den Türsteher zu. Nicht einmal anstehen! Heute ist wirklich mein Glückstag. Ich will ihm mein Ausweis zeigen, doch er winkt mich einfach durch. Schwankend zwischen Vorfreude und Skepsis betrete ich den Club.
Ehrlich gesagt, das letzte Mal feiern war ich vielleicht vor zwei Jahren. Irgendwann habe ich es aufgegeben. Zum Tanzen ist eh nie genug Platz und die sabbernden Männer ruinieren einem jeden Spaß. Die Musik ist ohrenbetäubend, aber ich bin positiv überrascht. Die Tanzfläche ist großzügig. Zielstrebig gehe ich auf die Bar zu und bestelle mir einen Vodka O. Ich beobachte die anderen Gäste. Die Stimmung ist wirklich gut. Nach wenigen Schlucken ist mein Drink leer und ich begebe mich auf die Tanzfläche.
Mein Körper bewegt sich ganz von allein im Beat. Ich drehe, singe und schwitze. Eine Frau zieht mich in ihre Gruppe und brüllt mir irgendetwas ins Ohr. Sie zeigt auf einen Mann, der den Kopf schief legt und ich realisiere, dass die Berührungen an meiner Taille doch nicht unbeabsichtigt waren. Ich bedanke mich bei ihr und freue mich über den Anschluss.
Auch wenn wir keinen Satz miteinander wechseln, fühle ich mich so, als würde ich diese Menschen schon seit Ewigkeiten kennen. Wir gehen etwas trinken. Als ich bezahlen möchte, schließt der eine Mann aus der Gruppe meine Hand und reicht dem Barkeeper einen Schein. Verlegen lächle ich ihn an. Er hat tolle braune Locken und süße Grübchen. Er sagt etwas, aber ich kann ihn nicht verstehen. „English?" Er grinst, kommt dichter und fragt mich nach meinem Namen. „Cat! Also eigentlich Cathalea, aber Cat ist mir lieber." Er nickt, zeigt auf sich und brüllt: „Noah!"
Wir unterhalten uns über die Musik, über die Leute und dann gehen wir tanzen. Alles ist so unglaublich elektrisierend. Für diesen Moment vergesse ich die Strapazen der letzten Tage, vergesse meine Sorgen. Noah kommt dichter. Seine Hände berühren meine Hüfte. Ich zucke nicht einmal. Viel zu sehr genieße ich seine Aufmerksamkeit. Dann finden seine Lippen meine. Gott, ich habe noch nie einen Fremden geküsst, aber Noah ist nicht fremd. Seine Berührung ist nicht fremd. Ich verliere mich in ihm. Langsam lösen wir uns voneinander. Ich kann kaum noch atmen.
Er zieht mich mit sich, weiter rein in die Menge. Für einen kurzen Augenblick scheinen seine Augen rot. Das Licht spielt mir einen Streich. Sanft streicht er mit dem Daumen über meine Lippen und zieht mich wieder an sich. Der Schmerz kommt überraschend. Bleigeschmack überdeckt den Augenblick. Aber ich habe keine Angst. Er nimmt meine Hand von seinem Nacken, dreht mein Handgelenk nach oben und bohrt seine Zähne in meine Haut. Die anderen stehen um uns herum. Das Mädchen mit den blauen Augen nimmt meine andere Hand. Auch sie kostet von meinem Blut. Mein Blick irrt umher. Ich sehe überall das gleiche Bild, nur mit anderen Leuten. Ein Mensch umzingelt von Vampiren. Eine leise Stimme in meinem Kopf rät mir zu schreien, aber ich verstehe nicht warum. Ich habe keine Angst.
Ein goldenes Symbol an der Decke erregt meine Aufmerksamkeit. Ich habe es schon unzählige Male gesehen: das Siegel des Rates der Magier. Am liebsten hätte ich über so viel Ironie gelacht. Die Verlobte des Großmagiers stirbt in einem Club, der offensichtlich einem Ratsmitglied gehört. Mir ist kalt und ich versuche, mich dichter an Noah zu drücken, seine Wärme zu spüren. Aber sie lassen mich nicht. In meinem Kopf herrscht Stille. Ich fühle mich schwach, mein Mund ist trocken, mit Blut verkrustet. Erst jetzt spüre ich den Druck an meinem Hals. Mein Herz will mir aus der Brust springen. Es schlägt viel zu schnell.
Und dann ist alles hell. Sie schreien, sie brennen. Ich sacke zusammen. Liege neben leblosen Körpern. Höre dumpf das Brechen von Knochen, sehe wie Stühle durch die Luft wirbeln. Plötzlich ist da ein mir wohlbekannter Duft! Er durchbohrt meinen Kopf. Ich spüre den kalten Lappen, den Druck auf meinem Hals. Eine warme Hand klatscht mir gegen die Wange, versucht mich wieder ins Hier und Jetzt zu holen. „Lady Chastain?" Es sind eher erstickende Laute, aber meine Lippen formen ihren Namen. „Es wird alles wieder gut Herzchen! Du hast uns einen wahnsinnigen Schrecken eingejagt."
Plötzlich durchzuckt ein brennendes Feuer meine Adern. Ich habe diesen Schmerz schon einmal gespürt. Askyell! „Kannst du stehen?" Lady Chastain will mir aufhelfen, doch da werde ich ruckartig hochgerissen. Seine grauen Augen sehen mich nicht einmal an. Seelenruhig pfählt er einen Vampir nach dem anderen, lässt sie in Flammen aufgehen. Seine Magie ist unheimlich. Diese Leichtigkeit zu töten ist unheimlich. Mr. Warden steht neben ihm. Auch er schenkt mir keine Beachtung und ich frage mich, ob mein Tod nur ein kleiner Schandfleck in ihrem geheimen Plan gewesen wäre.
Lady Chastain greift mir unter den Arm. „Stütz dich ruhig an mir ab. Ich bringe dich hier raus." Dankbar versuche ich mich an einem Lächeln, aber es bleibt bei einem kläglichen Versuch. Askyell hat zwar meine Wunden geschlossen, doch der Blutverlust macht mir zu schaffen. Draußen steht eine Limousine. Die Straßen sind leer. Wir steigen ein, warten, bis endlich wieder die Tür aufgeht und die beiden Männer Platz nehmen.
Während der Fahrt spricht niemand. Während wir nach oben gehen, spricht niemand. Während ich meinen Tee trinke, spricht niemand. Lady Chastain nimmt den letzten Zug an ihrer Zigarre. Sie verschränkt die Arme unter der Brust und ich frage mich, wer noch mit Lockenwicklern und Plüschpantoffeln so perfekt aussehen kann? „Das ist alles deine Schuld!" „Meine?" Ich habe Askyell noch nie so fassungslos gesehen. „Wenn du sie nicht eingesperrt hättest, wäre das nicht passiert. Ich habe es dir gleich gesagt!" Unfähig irgendetwas zu sagen, nippe ich wieder an meinem Tee. „Natürlich ist es meine Schuld, wenn sie der Meinung ist sich, mit ein paar Vampiren vergnügen zu müssen!" Ich habe ihn auch noch nie Schreien gehört. „Aber - aber...", versucht Mr. Warden die aufgeheizten Gemüter zu beruhigen. „Du hältst dich da schön raus Freundchen!", faucht Lady Chastain. Ich hätte auch nie gedacht, dass Lady Chastain so biestig werden kann.
Das Jucken der Narben lenkt mich ab. Zwei helle Punkte zeugen von den einstigen Bisswunden. Ich schäme mich und bin wirklich froh, dass ich mich kaum noch an das Passierte erinnern kann. „Raus hier!" Oh Mist, ich habe den Anschluss an das Gespräch verpasst. Wütend saust Lady Chastain davon. „Du auch", wiederholt Askyell und ich bin der festen Überzeugung, dass er mich meint, als plötzlich Mr. Warden zur Tür schlurft. Und dann sind wir allein.
Mit einer Handbewegung vom Großmagier verändert sich das Zimmer. Ich brauche eine Sekunde, um zu begreifen, dass wir nun wohl in seinen persönlichen Räumen sind. Mir wird bei dem Gedanken speiübel. Suchend schaue ich mich um und finde einen Ankerpunkt: die Bücher von Lady Chastain. Ich mache mich bereit für seinen Wutausbruch und die Vorwürfe. „Ich bin schwer enttäuscht von dir." Autsch. Wut ist okay, aber nicht Enttäuschung. Das will niemand hören. „Du hattest eine Regel, an die du dich halten solltest. Eine. Leicht obendrein. Aber was machst du?" Pause. Zitternd starre ich weiter auf die Bücher, präge mir jedes Detail an. Mit einem Mal steht er vor mir. „Du hasst mich. Ist okay. Ich habe zwar keine Ahnung warum, aber es ist nichts neues für mich. Aber ich verlange Respekt!" Seine Stimme bebt. Ich spüre den Druck seiner Finger an meinem Kinn, als er mich zwingt ihn anzusehen.
Er mustert mich eingehend. „Weißt du, was ich jetzt ausbaden muss? Was das für uns, ja, auch für dich bedeutet?" Ich spüre wie mir langsam die Tränen kommen. „Ich weiß, dass ich Mist gebaut habe", flüstere ich und schlage die Augen nieder. „Mist?", wiederholt Askyell leise. „Du hast uns zerstört!" Er lässt mich los, holt aus seiner Tasche ein Handy und zeigt mir den Bildschirm. Eine Textnachricht: „Eure Verlobte?" Dazu ein Video, das mehr sagt, als tausend Worte. Und mit einem Mal verstehe ich, worum es geht. „Es tut mir leid." Ich kann die Tränen nicht länger zurückhalten. „Das hilft uns jetzt auch nicht weiter."
Ich will gehen, doch er hält mich zurück. „Meinst du es war Zufall, dass du in diesem Laden geladen bist? Meinst du es war Zufall, dass ich diese Nachricht bekommen habe? Stell dir vor, was hätte passieren können! Meinst du ich sperre dich hier zum Spaß ein? Falls es dir noch nicht aufgefallen ist, aber die Mitglieder des Rates sind nicht gerade meine besten Freunde. Kennst du Game of Thrones? Du bist jetzt mitten drin, also verhalte dich auch so. Deine Aufgabe ist es jetzt zu überleben! Und dafür brauchst du mindestens einen Verbündeten und glaube mir, ich wäre da keine schlechte Wahl! Und jetzt verschwinde. Ich ertrage deinen jämmerlichen Anblick nicht länger!"
Ich hasse nicht dich, ich hasse mich. Aber der Gedanke bleibt unausgesprochen.
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