18. Kapitel
Mein Vater wollte mit mir sprechen. Dass er mir diese Botschaft ausgerechnet während dem Religionsunterricht zukommen ließ, war natürlich mal wieder ein schlechter Scherz. Ich war es gewohnt, dass mein Vater wenig darauf achtete, was für Gefühle er in seinem Gegenüber auslöste. Halt, dass stimmte so nicht. Er liebte es, diese Gefühle gegen einen zu verwenden und einen mit ihnen zu quälen. Ich selbst war unzählige Male von ihm gefoltert worden. Sei es physisch oder psychisch, er hatte alles getan, um jedes Stückchen Menschlichkeit, dass ich eventuell durch meine Mutter mitbekommen hatte, gewaltsam aus mir herauszuzwingen. Er hatte mich dazu gezwungen eine grausame Sache nach der anderen zu tun, damit ich irgendwann der Grausamkeit gegenüber gleichgültig werden würde. Man konnte sich selbst an die schrecklichsten Dinge gewöhnen, wenn man ihnen nur lange genug ausgesetzt war.
Obwohl ich umgeben von all diesem Schmerz aufgewachsen war und von ihm geformt wurde, zu dem was ich heute war, gab es Dinge, die mich hin und wieder an den kleinen Jungen erinnerten, der ich mal gewesen war. Es waren immer die Kleinigkeiten, die einen so unerwartet trafen. So wie Roxannes Lachen, als ich diesen Witz von einem Religionslehrer als verrückten Hutmacher bezeichnet hatte. Ich hatte Roxanne bisher zum Erröten gebracht und dazu, dass ihre Augen mit Blitzen schossen und das war auf seine Weise sehr unterhaltsam. Aber Roxanne zum Lachen zu bringen? Das stand eigentlich nicht auf meiner To-Do-Liste. Wieso also wollte ich, dass sie es noch einmal tat? Wieso hatte das schnaubende Geräusch ihres Lachens, irgendwo in meinem verrotteten Herzen etwas erblühen lassen? Ich dachte eigentlich, dass mein Vater vor langer Zeit alles abgetötet hatte, was lebendig in mir war. Aber Roxannes Lachen weckte in mir das Bedürfnis, das Geräusch aufzunehmen und immer wieder abzuspielen, auch wenn mir bewusst war, dass es nicht an das Original herankommen würde. Ich wollte die Lebendigkeit, die in diesem Geräusch lag, einfangen und in mein Herz einpflanzen.
Doch der Zauber hielt nur einen Moment lang, bevor ein bohrender Kopfschmerz eingesetzt hatte und mich daran erinnert hatte, wer ich war und was ich tat. Ich wusste genau, was dieser Kopfschmerz bedeutete. Mein Vater verlangte mich zu sehen, weshalb ich nach der Stunde auch fluchtartig den Raum verließ, anstatt dafür zu sorgen, dass Raphael die Aqualibrita noch weiter mit seinem Charme einwickelte.
Wenig später fand ich mich erneut vor dem Spiegel in der Jungstoilette vor und beugte mich den Befehlen meines Vaters. Kaum hatte ich die letzte 6 auf den Spiegel gezeichnet, erschien bereits mein Vater, wobei er sich dieses Mal die ganze Dramatik sparte. Jetzt, da ich mich dem Willen meines Vaters gebeugt hatte, ließen die stechenden Kopfschmerzen etwas nach. Sie ließen gerade so viel nach, dass ich wieder denken konnte, blieben aber gleichzeitig so präsent, dass ich die Warnung verstand, die dahintersteckte. Vergiss nicht, wer du bist. Ich bin derjenige, der die Macht innehat! Mein Vater war ein großer Fan von solchen unterschwelligen Machtdemonstrationen. Wahrscheinlich hing es damit zusammen, dass seine Macht auf der Angst von Menschen gründete. Ängste, denen man sich stellte und mit denen man sich konfrontierte, ließen mit der Zeit nach. Doch diejenigen, die man tief in sich vergrub und versuchte aus allen Gedanken zu verdrängen, das waren die Ängste die am meisten Macht über einen hatten. Und das waren auch diejenigen, die meinem Vater Macht über sie gaben.
Zusätzlich kamen viele Ängste in Menschen Hand in Hand mit Schuldgefühlen, was es meinem Vater wesentlich erleichterte, für jeden die individuelle Folter zusammenzustellen. Diese Ängste brauchte er, um die Seelen von den gefolterten Menschen unter Kontrolle zu halten. Ich war durch die zweite Stimme sowieso an seine Befehle gebunden und konnte mich ihnen nicht widersetzen. Aber bei den Menschen musste mein Vater den Umweg über ihre tiefsten Ängste gehen, um Kontrolle über sie zu erlangen. Je mehr Dunkelheit und Angst ein Mensch in sich trug, desto leichter war es für meinen Vater ihn zu kontrollieren.
Deshalb wusste ich einfach, dass er Roxanne lieben würde. Ich mochte zwar nicht in der Lage sein, ihre Gedanken zu lesen, aber dass hieß nicht, dass jede Fähigkeit von mir bei ihr komplett nutzlos war. Wann immer ich Roxanne in die Augen sah, sah ich ein tiefreichendes Netz aus Schatten in ihnen liegen, das von einer nicht gerade rosigen Vergangenheit erzählte. Da sie meine Fähigkeiten größtenteils blockte, konnte ich ihre Ängste und deren Ursprünge nicht genauer bestimmen, aber ich bräuchte wahrscheinlich nicht einmal meine Fähigkeiten, um zu sehen, dass Roxanne Geister ihrer Vergangenheit verfolgten. Wenn sie nicht gerade Funken mit ihren Augen sprühte oder mit ihren Freunden sprach, hatte sie oft diesen gehetzten Ausdruck eines Tieres, das erwartete jeden Moment wieder vom Jäger verfolgt zu werden.
"Lucifer". Die eisige Stimme meines Vaters, in den er nur einen Hauch seiner Autorität hineingelegt hatte, riss mich aus meinen Gedanken. Es fühlte sich seltsam an, wieder bei meinem vollen Namen genannt zu werden. Auch wenn es nur eine relativ kurze Zeitspanne war, in der ich als Luca auf dieser Erde wandelte, hatte ich mich bereits daran gewöhnt. Und jetzt mit meinem vollen Namen angesprochen zu werden, erinnerte mich daran, welche Verantwortung damit zusammenhing. Ich war Lucifer der Zweite – ja natürlich war mein Vater egozentrisch genug, mich nach sich selbst zu benennen -, Sohn des Teufels höchstpersönlich und dazu designiert, eines Tages selbst den Höllenthron zu übernehmen. Dafür war ich geboren und geformt worden. Warum also fühlte es sich an, als würde ein Stein langsam in meinen Magen herabsinken, bei der Erinnerung?
"Du bist seit über einer Woche auf der Erde. Welche Fortschritte hast du vorzuweisen?", kam mein Vater direkt auf den Punkt. Seine Stimme war vollkommen ruhig und gab nicht den geringsten Hinweis darauf, dass er verärgert war. Doch ich kannte meinen Vater. Seine Wut zeigte sich in der Ruhe. Etwas musste passiert sein, was ihn aufgebracht hatte. Ich wusste, ich sollte es nicht noch verschlimmern und ihm einfach von Roxanne erzählen, aber etwas in mir sträubte sich dagegen. Der Gedanke Roxannes Namen an meinen Vater weiterzugeben und sie ihm damit auszuliefern, ließ aus irgendeinem Grund Übelkeit in mir hochsteigen. Technisch gesehen konnte mein Vater nur diejenigen foltern, die ihr irdisches Leben bereits hinter sich gelassen hatte. Aber der Teufel hielt sich nicht an Regeln. Ich hatte schon einmal erlebt, dass er mehr als in der Lage war, um dieses ungeschriebene Gesetz herumzuarbeiten.
Anwens Gesicht flackerte vor meinem inneren Auge auf. Manchmal sah ich ihr strahlendes Lächeln noch in meinen Träumen. Doch dann wurde es immer wieder ersetzt durch den gebrochenen, leeren Blick mit dem sie auf ihre blutigen Hände niederstarrte und dem Wissen, dass es alleine meine Schuld war, weil ich mein Vertrauen in die falsche Person gesetzt hatte. Anwen war die exakte Verkörperung dessen gewesen, was ihr Name verhieß. Sie war eine wunderschöne, gerechte, reine Seele gewesen. Und ich hatte zugelassen, dass diese Seele gebrochen wurde. War hilflos in meinem Kopf gefangen gewesen, während mein Vater mich selbst zu ihrem Foltermeister machte.
Was niemand einem über den Teufel verriet, war dass auch dieser Schmerz empfinden konnte. Nur wer wusste was wahrer Schmerz war, konnte diesen auch in anderen Menschen wecken. Nur wessen Saiten schon tausendfach zerrissen und notdürftig wieder zusammengeflickt wurden, wusste genau wie er die Saiten zum Klingen brachten, dass sie eine Melodie des Schmerzes spielten, die einem die Seele zerfraß. Mein Vater mochte der Teufel sein, aber meine Mutter war ein Mensch gewesen, was hieß, dass er mich letztendlich auf genau die Weise brechen konnte, wie jeden anderen Menschen auch.
Vielleicht war es der menschliche Teil in mir, der mich dazu brachte die folgenden Worte auszusprechen: "Es ist erstaunlich schwierig eine Aqualibrita aus einer uralten prophezeiung zu finden, über die du mir praktisch nichts verraten hast, während gleichzeitig ein arroganter Erzengel seine Nase in meine Angelegenheiten hineinsteckt". Der Kopfschmerz nahm nach meinen sarkastischen Worten schlagartig wieder zu und ich musste mich bemühen keinen einzigen Muskel zu bewegen und ihm nicht die Zufriedenheit einer Reaktion zu gönnen. Mein Vater grub sich, wie mit glühenden Fingern in meinen Kopf hinein und ich wusste, wenn ich nicht aufpasste, würde er meine Lüge entdecken. Es war ein gefährliches Spiel, das ich dort spielte. Gerade so großspurig aufzutreten, dass mein Vater mir die Lüge abkaufte und ihn gleichzeitig mit meinem respektlosen Verhalten nicht so sehr zu verärgern, dass er beschloss, mich mit meinen schlimmsten Erinnerungen zu foltern, wobei er unweigerlich meine Lüge aufdecken würde.
"Deine Zeit unter den Menschen hat dich wohl vergessen lassen, mit wem du sprichst. Muss ich dich daran erinnern, wer dein Leben in der Hand hält? Willst du vielleicht, dass ich deine Flügel verbrenne? Du weißt wie gerne ich mit dem Feuer spiele", sagte mein Vater mit einer eisigen Ruhe in der Stimme. Er war so vollkommen reglos, während er die Drohung überlieferte, dass mir ein Schauer über den Rücken lief, als die Worte bei mir ankamen. Mein Hals wurde trocken und ich hatte Mühe, ein Schlucken zu verbergen. Mein Vater hatte mir meine Flügel vor langer Zeit abgeschnitten. Doch auch wenn sie nicht mehr direkt mit meinem Körper verbunden waren, spürte ich immer noch ihre tiefe Verwurzelung in mir. Alleine schon die Berührung von fremden Händen konnte extrem schmerzhaft für mich sein. Aber meine Flügel zu verbrennen, das wäre als würde mein Vater meine innerste Essenz aus mir herausbrennen. Ich war mir nicht einmal sicher, ob ich das überleben konnte. Die Androhung einem Engel oder eben gefallen Engeln und Halbengeln die Flügel zu verbrennen, war eine schlimmere Drohung, als die mit dem Tod. Es war das Schlimmste, was du einem Flügelwesen antun konntest und als ich nicht auf seine Frage antwortete, erschien ein grausames Lächeln auf seinem Gesicht, während er sich vorlehnte und verlangte: "Antworte mir!". Er befahl es mir mit seiner normalen Stimme, was wieder ein weiteres Machtspiel darstellte. Er wollte mir beweisen, dass er mich auch so in der Hand hatte und es nicht nötig hatte, mich mithilfe seiner zweiten Stimme dazu zu zwingen. Zwischen zusammengebissenen Zähnen presste ich hervor: "Nein, Vater. Du brauchst es mir nicht zu beweisen. Ich kenne meinen Platz". Mein Vater hielt mich noch einen Augenblick mit seinem Blick gefangen, bevor er sich fürs Erste zufriedengestellt, wieder zurücklehnte.
"Nun, dann erwarte ich einen vollständigen Bericht darüber, was du bereits herausgefunden hast!", forderte er. Ich beugte mich dem Befehl meines Vaters und lieferte ihm einen Bericht, bei dem ich die Details die Roxanne betrafen, jedoch geflissentlich ausließ. Als ich geendet hatte, schwieg er für eine Weile und studierte mich mit seinem messerscharfen Blick, als könnte er jede Halbwahrheit, die ich von mir gegeben hatte durchschauen. Seine Hand ruhte auf der rotglühenden Kugel seines Stabs, in der sich die wirbelnden Schatten zu einem Engelsgesicht verdichteten. Doch in der Kugel verformte sich die klassische Schönheit zu einem grotesken Bild, das einfach falsch wirkte. Das Gesicht schien mich für einen Moment böse anzugrinsen, bevor die Schatten wieder auseinanderstoben. "Sieh an. Er hat also Raphael auf die Erde geschickt", äußerte er schließlich nachdenklich. "Raphael solltest du doch händeln können. Immerhin war er einmal derjenige, den du deinen besten Freund genannt hast, nicht wahr?", fügte er dann hinzu und der grausame Zug um seinen Mund vertiefte sich.
Das erste Mal in diesem Gespräch, schaffte mein Vater es, mir eine Reaktion zu entlocken. Ich konnte es bei bestem Willen nicht verhindern, dass meine Hände sich zu Fäusten ballten, als die heiße Wut und das bittere Gefühl des Verrats in mir hochkochten. Es war lange her, dass ich geglaubt hatte, dass Raphael und ich Freunde waren. Und trotzdem reichten die paar Worte, um den bitteren Geschmack des Verrats direkt wieder auf der Zunge zu schmecken. Himmel und Hölle waren nicht dazu geschaffen im Frieden miteinander zu stehen. So viel hatte ich damals gelernt. Genauso wie ich gelernt hatte, dass das Strahlen von dem man geblendet wurde, manchmal nur die dahinterliegende Dunkelheit verbarg. Niemand war wirklich gut. Manche waren nur wirklich gut darin ihre Dunkelheit zu verbergen. Und mein Vater wusste genau, was er tat, indem er dieses Thema wieder aufbrachte.
"Bist du etwa immer noch wütend wegen diesem Mädchen? Anwen war ihr Name, nicht? Da fällt mir ein, es ist sehr lange her, dass ich ihr den letzten Besuch abgestattet habe...", sinnierte mein Vater und ließ den letzten Satz mit Absicht in der Luft hängen. Er verfehlte seine Wirkung nicht. Schatten explodierten vor meinem inneren Auge und ich wusste ohne hinzusehen, dass meine Augen tiefschwarz geworden war und die Dunkelheit sich in jeder Ader meines Körpers ausgebreitet hatte. "Fass. Sie. Nicht. An!", zischte ich, während ich versuchte das Beben meines Körpers unter Kontrolle zu kriegen. In mir staute sich meine durch die starken Emotionen hervorgerufene Macht und suchte nach einem Weg sich zu entladen.
"Wenn du immer noch so emotional, wegen diesem jämmerlichen Menschenmädchen reagierst, wird es erst recht nochmal Zeit ihr einen Besuch abzustatten. In zwei Wochen sprechen wir uns erneut und bis dahin hast du besser die Aqualibrita gefunden oder es wird Zeit einen neuen Foltermeister für Anwen zu finden". Mit diesen letzten Worten verschwand das Bild meines Vaters und er ließ mich alleine zurück.
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Dam. Dam. Dam. Nach langer Zeit nochmal Lucas Sicht.
Roxanne scheint doch Eindruck bei ihm hinterlassen zu haben oder gibt es etwa doch einen anderen Grund warum er sie nicht verrät?
Na, irgendwelche Vermutungen was Raphaels und Lucas Freundschaft wohl zerstört hat und wie Anwen da mit drinhängt? Bevor übrigens Verwirrung aufkommt - Nein ich habe nicht Elenas Namen vergessen und meinen Charakter umbenannt. Es handelt sich um zwei verschiedene Charaktere 😅
So und wir haben einen kleinen Einblick bekommen, wie es ist als Sohn des Teufels aufzuwachsen. Was sagt ihr dazu?
Ich hoffe euch hat das Kapitel gefallen. Bis in zwei Wochen ♥️
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