23.
Die Verhandlung zog sich bereits seit Stunden, Lexa wollte nur noch heim in ihre Fraktion.
Seitdem sie damals zu den Ferox gewechselt war, hatte sie keinen Fuß mehr in ihre Geburtsfraktion gesetzt.
Jetzt, wo sie wieder hier war - wurde ihr erst richtig bewusst, wie richtig ihre Entscheidung damals gewesen war.
Das riesige, alte Gerichtsgebäude engte sie trotz seiner enormen Größe und Weite ein. Hell und übersichtlich sollte es eigentlich sein, mit unzähligen Glastüren und Fenstern, die die Klarheit und Transparenz der Candorfraktion veranschaulichen sollte.
Doch in Lexa befand sich momentan nur Dunkelheit und eine Beklemmung, die sie nicht in Worte fassen konnte.
Wie ferngesteuert hatte sie bisher den Prozess verfolgt. Nur eine teilnahmslose Hülle ihrer Selbst saß auf der hölzernen Bank und starrte in Gedanken versunken in den vollbesetzten Raum.
Raphael, neben ihr, hielt sich wacker. Er redete kaum und saß die meiste Zeit mit versteinertem Gesichtsausdruck neben ihr. Starrte wie sie selbst, ins Leere.
Er war als Erster von Eric in den Zeugenstand gerufen worden, danach war Lexa an der Reihe gewesen.
So sachlich wie es ihr möglich gewesen war, hatte sie Rede und Antwort gestanden, ließ die peinlich genaue Befragung über sich ergehen.
Die Verhandlung gegen Levin war bereits abgeschlossen. Er wurde ohne Widerspruch von den Candor nach den Gesetzen der Ferox zum Tode durch Erschießen verurteilt.
Wie ein geprügelter Hund war dieser anschließend von mehreren Wachen abgeführt worden. Mit gesenktem Haupt und ohne seinen Blick auch nur einmal zu heben.
Lexa vermutete, dass er inzwischen bereits auf den Weg zurück in seine Zelle im Hauptquartier war.
Noch nie zuvor sah sie so viel Wachpersonal auf einem Haufen, überall standen schwer bewaffnete Ferox mit ernstem Gesichtsausdruck - jede Regung der Häftlinge stets im Blick behaltend.
Auch Raphael und sie wurden zu jeder Zeit intensiv von ihnen bewacht. Keinen Schritt konnten sie tun, ohne dass sie von den einschüchternden Ferox mit den roten Abnähern auf ihren Uniformen, im Auge behalten wurden.
Momentan war Verhandlungspause.
Miras Prozess war der nächste, dann würde das Verfahren gegen Aiden folgen. Ein langer Tag stand ihnen bevor - Lexa wünschte sich nichts sehnlicher, als dass sie die Zeit würde vorspulen können. Dann wäre all das hier, endlich vorbei.
Lexa stand mit Eric zusammen an einem Tresen, eine Candor brachte ihnen gerade den verlangten Kaffee.
Raphael war kurz vor die Tür gegangen, er wollte an die frische Luft - niemand konnte es ihm verdenken.
Hier in dem separaten Teil des Gebäudes, war keine Presse zugelassen. Sie konnten sich wenigstens für die Zeit der Pause unterhalten und frei bewegen, ohne dass die Aasgeier der Candor ständig ihre Augen und Ohren nach Informationen offenhielten. Die Vorkommnisse der letzten Tage machten in der Stadt schnell die Runde. Dementsprechend groß war die Neugierde aller darauf, was passiert war und welche Neuigkeiten es wohl gab.
Dass gerade Eric Coulter im Mittelpunkt dieser Verschwörung stand, ließ sämtliche Fraktionen regelrecht nach dem neuesten Klatsch geifern.
Lexa wollte den vier Augen Moment mit Eric nutzen und sprach ihn auf das Video an, in dem ihrer Einschätzung nach, Passagen entfernt worden waren. Aber wie sie es nicht anders von Eric kannte, hatte er sofort eine passende Erklärung parat.
„Ich habe die Aufzeichnung lediglich gekürzt. Eigentlich hätte ich sie euch überhaupt nicht zeigen dürfen, aber so konnte ich eure unweigerlich aufkommende Fragerei umgehen.“
Lexa wusste, dass er ihr mit dieser Antwort wieder einmal auswich und genau diese Tatsache nervte sie unfassbar.
„Du machst es dir leicht, Eric. Wirst du mir sagen, was du aus den Videos geschnitten hast? Was Mira wirklich zu dir sagte, ihre ganzen, ungekürzten Sätze?“
Eric sah ihr fest in die Augen, als er ihr unterkühlt antwortete. „Nein. Wir müssen wieder rein, hol Raphael.“
Dann ließ er sie stehen und ging mit festem Schritt und erhobenen Haupt durch die Tür, die den pressefreien Raum mit dem öffentlichen Teil des Gebäudes verband.
Lexa konnte das Stimmengewirr hören, das ihn augenblicklich empfing.
Er war erneut nicht ehrlich zu ihr gewesen. Er würde es bestimmt damit begründen, dass er sie nur schützen wollte, aber sie musste von ihm nicht in Watte gepackt werden. Lexa wollte wissen, was Mira in diesem Video gesagt hatte - und zwar alles.
*
Lucien ließ den Gefängnistrakt hinter sich, sein Ziel war Erics Büro. Er vermutete, dass der Blonde sich gerade dort aufhielt, denn die letzten Tage über, war es nicht anders gewesen.
Lucien ahnte, unter welchem Druck Eric momentan stand und wollte ihm ein Angebot unterbreiten.
Außerdem ließen ihm Miras Worte bei deren Vernehmung keine Ruhe.
Eric war nach dieser wortlos an ihm vorbeigestürmt und Lucien wusste auch genau warum.
Mira konfrontierte ihn ohne jede Scheu mit seiner größten Schwäche.
Wahrscheinlich war es Eric davor noch gar nicht bewusst gewesen, aber spätestens nach den ehrlichen Worten Miras, musste es ihm doch klar geworden sein.
Er konnte es verstecken, vertuschen und ignorieren, aber trotzdem waren sie vorhanden. Diese kleinen miesen Dinger, die sich irgendwann in jedes noch so kalte Herz einfraßen.
Sogar in ein solch Betonhartes wie das von Coulter.
Diesem war von der kleinen Krankenschwester vor Augen geführt worden, dass er aufgeflogen war. Er einen wunden Punkt entwickelte, den Mira, Levin und allen voran Aiden auszunutzen wussten.
Lucien klopfte an dessen Tür, trat nach Aufforderung ein und setzte sich.
„Die Drei sitzen in ihren Zellen. Hast du schon einen Termin für die Hinrichtung?“
Eric sah kurz von seinem Computerbildschirm zu Lucien, schüttelte den Kopf.
„Levin und Mira werden zusammen hingerichtet. Aiden bekommt eine Sonderbehandlung, da bei ihm noch Hochverrat dazu kommt.“
Lucien nickte, „wer übernimmt die Beiden?“
Eric tippte weiterhin auf seiner Tastatur herum, antwortete dennoch.
„Der Mechaniker hat verweigert, also werde ich beide übernehmen.“
Lucien war es leid seinem Vorgesetzten jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen zu müssen, „und Aiden? Was ist mit ihm?“
„Für ihn denke ich mir schon was aus, keine Angst. Er bekommt, was er verdient. Vermutlich werde ich die Hinrichtungen für das kommende Wochenende ansetzen. Dann wissen die Initianten wenigstens gleich, was ihnen blüht, wenn sie Scheiße bauen.“
Lucien dachte nach, jetzt durfte ihn nicht der Mut verlassen.
Er hatte sich fest vorgenommen, ihn zu fragen, also galt die Devise Augen zu und durch.
„Eric, ich habe noch ein paar Fragen zu dem Ganzen. Besonders was Mira betrifft.“
Eric hielt inne, drehte sich ihm zu und legte seine Arme auf der Tischplatte ab. Er neigte sich ein kleines Stück nach vorne, sein falsches Lächeln zeigte Lucien, dass er sich gerade auf ganz dünnes Eis begab.
Eric hatte Lunte gerochen und scheinbar nur auf diesen Moment gewartet. Lucien war absolut klar, dass er jetzt vorsichtig sein musste.
„Eric, ich will dir keinesfalls zu nahe treten … aber meinst du nicht auch, dass du eventuell das Gespräch mit Lexa suchen solltest?“
„Weshalb sollte ich das tun, Lucien?“
Erics Stimmfarbe verhieß nichts Gutes.
„Mir ist es schon vor Wochen aufgefallen. Mira und den anderen ganz offensichtlich auch. Die Fraktion zerreißt sich ebenfalls das Maul und so weiter. Ich weiß nicht, wenn Lexa es durch andere erfährt, wird es umso unangenehmer.“
„Was andere denken, interessiert mich nicht. Da bist du miteingeschlossen. Es gibt nichts zu bereden.“
Lucien wagte noch einen letzten Versuch.
„Eric, Mira wollte Lexa nur aus einem einzigen Grund töten. Und dieser war, dir maximal weh zu tun. Dich, wie sie sagte zu zerstören. Dir solch emotionalen Schmerzen zuzufügen, wie du es mit dem Tod ihrer Mutter bei ihr getan hast.
Ich bin nicht blind Eric und dumm auch nicht. Du würdest in den Krieg ziehen, nur um Lexa zu beschützen! Sieh es ein, du empfindest etwas für sie und das versuchst du mit allen Mitteln zu verdrängen. Glaub mir, das wird nicht funktionieren!“
Erics Gesichtszüge verhärteten sich gefährlich. Lucien wusste, dass er gerade sämtliche rote Linien seines Vorgesetzten mit wehenden Fahnen überrannte, wartete aber trotzig auf dessen Reaktion.
„Ich wüsste nicht, dass ich dich um deine Meinung zu dem Ganzen gebeten habe, Lucien. Genaugenommen geht dich das alles einen feuchten Scheißdreck an. Lexa ist mir unterstellt, es ist meine Pflicht sie zu schützen. Das hat nichts mit Gefühlen zu tun. Und jetzt sieh zu, dass du verschwindest. Ich will von dir nichts mehr zu diesem Thema hören!“
Lucien nickte, sah aber nicht ein, klein beizugeben.
„Du magst sie. Und zwar mehr als für einen Ausbilder erforderlich wäre. Das weiß ich, das wusste Mira und du weißt es selbst auch. Klär das, sonst fliegt es dir früher oder später um die Ohren. Das ist mein privater Rat als Freund für dich. Lexa ist eine tolle Frau und sie weiß scheinbar, wie man mit dir umgeht, ohne dabei draufzugehen. Setz das nicht in den Sand, nur wegen deinem beschissenen Ego.“
Lucien stand auf und wollte gehen, aber drehte sich ihm dann doch noch einmal zu.
„Ach ja, ich biete dir an, dass mein Assistent dir zu Hand gehen kann, wenn du ihn brauchst. Morgen startet ja die Initiation. Er kann zumindest einen Teil abarbeiten, während du bei den Neuen bist.“
Eric nickte, seine angespannte Mimik wies allerdings darauf hin, dass er innerlich kochte.
„Schick ihn morgen früh zu mir.“
Es klopfte an der Tür, nach einer Geste Erics öffnete Lucien dessen Bürotür.
Lexa trat herein, sah erst fragend zu Lucien, mit dem sie wohl nicht gerechnet hatte und dann zu Eric der sie mit angespannter Mine anwies, Platz zu nehmen.
Lucien sah ein letztes Mal wissend zu Eric, bevor er dessen Büro endgültig verließ.
Hoffentlich verbockte dieser Gefühlslegastheniker es nicht. Noch nie hatte er einen solch sturen Bock wie Eric erlebt.
Das Lexa so gut mit ihm klar kam, grenzte sowieso schon an ein Wunder.
Aber vielleicht hatte sie ihm auch schon unmissverständlich klar gemacht, dass er bei ihr keine Chance hatte.
Natürlich, diese Möglichkeit kam in Betracht, so musste es sein. Anders konnte er sich Erics Verhalten nicht erklären.
Lucien knurrte der Magen, also führte ihn sein Weg zur Kantine. Die beiden würden das schon klären. Irgendwann. Hoffentlich.
*
Endlich war Lucien verschwunden. Sein Glück, dass Lexa kam, sonst hätten sie noch einen Anführer weniger.
Seinen privaten Rat als Freund konnte er sich dahin stecken, wo auch tagsüber keine Sonne schien! Er wusste, was er fühlte und das war im Moment Wut und alles andere würde vergehen.
Es dauerte ihm zwar schon viel zu lange, aber er war sich sicher - alles, was kam, verging auch wieder, es war nur eine Frage der Zeit.
Doch jetzt war nicht der passende Augenblick, um schon wieder über diesen nebensächlichen Mist nachzudenken. Lexa war da, also widmete er sich ihr.
„Du wolltest mich sehen, Eric? Geht es um morgen?“
„Ja. Amar geht zur Zeremonie, behält da alles im Auge. Du und ich werden die Neuen auf dem Dach in Empfang nehmen und Four sammelt die Kinder anschließend aus dem Netz. Wenn sie überhaupt die Eier haben, zu springen.“
Eric registrierte ein schiefes Grinsen auf Lexas Gesicht, sah sie erwartend an.
„Stimmt es, dass du mal einen Initianten, der nicht springen wollte, vom Dach gestoßen hast?“
Bei der Erinnerung musste auch er schmunzeln.
„Ich habe ihn nicht gestoßen, er ist gestolpert.“
Lexas Grinsen wurde breiter, „gestolpert? Natürlich. Hab’ ich mich bestimmt verhört.“
„Mit Sicherheit.“
Eric nahm den Blick nicht von ihr. Sie nach all dem Tumulten der letzten Wochen endlich wieder einmal lächeln zu sehen, ließ ihn seinen Groll gegen Lucien fast schon wieder vergessen.
„Die Initianten werden gegen Mittag hier eintreffen. Amar wird uns informieren, wenn sie auf dem Weg sind.“
Lexa war schon auf dem Weg zur Tür, bevor sie sich noch einmal zu ihm umdrehte.
„Ich gehe zur Kantine, kommst du mit?“
Er hatte Hunger, aber er würde nicht mit ihr zusammen durch die Gänge spazieren.
Er musste Abstand zu ihr wahren, auch weiterhin.
„Nein, ich habe zu tun.“
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