5. Neuer Anfang, Endstation
"Aufwachen! Komm schon!", dröhnte jemand in mein Ohr.
Ich schreckte auf und konnte vor mir ein verschwommenes Gesicht erkennen. Ich versuchte, was zu sagen, aber meine Zunge war bleischwer und ich brachte nur ein Nuscheln zustande.
"Also bitte, so stark war das Mittel jetzt auch nicht. Was für ein Weichei. Und in so jemanden hab ich mich auch noch verwandelt."
Langsam nahm ich wahr, wo ich war. Meine Lage hatte sich verbessert - ich war nicht mehr angebunden - dafür trug ich jetzt den vollgeschleimten Bademantel des Gestaltwandlers (ich korrigiere - meine Lage war genauso scheiße wie zuvor).
Mit viel Mühe konnte ich mich auf die Knie und Hände kämpfen, der ganze Raum drehte sich um mich. Ich konnte nur hoffen, dass das Medikament sich mit dem Alkohol vertrug, der noch in meinem Blut war.
"Komm, unsere Prinzessin müsste in zwei Minuten da sein", rief mein zweites ich beschwingt und zerrte mich auf die Beine. Ich bemerkte, dass sie in der rechten Hand ein geschwungenes Messer hielt. Zudem war ihr Gesicht jetzt auch dreck- und blutverschmiert. "Und du willst doch für den Ball hübsch aussehen, oder?"
Ohne Vorwarnung klatschte sie mir ein Feuchttuch von Andy ins Gesicht und wischte es sauber, dann schubste sie mich von ihr weg.
Der Boden schwankte unter mir, und der ganze Raum verzerrte sich, ich war kurz davor, zu kotzen. Was auch die andere zu bemerken schien. "Wehe, du kotzt meine Möbel voll."
"Das würde ich mit Freuden tun", murmelte ich wütend genau in dem Moment, bevor die Tür aufgetreten wurde. Die andere sackte wie auf Kommando zu Boden.
Dean kam herein, sein Blick huschte zwischen uns hin und her. Die Pistole in seiner Hand deutete auf eine unbestimmte Stelle zwischen uns.
"Dean!"
Ich wollte zum ihn gehen, aber taumelte zur Wand und stützte mich dort ab, um nicht umzukippen. "Ich bin's. Ich weiß, das würde sie auch sagen, aber ich bin's. Oh, Gott, macht das wenig Sinn. Bring mich bitte nich' um."
"Das ist nicht wahr, Dean!", schluchzte die andere herzergreifend. "Sie will dich umbringen. Und mich. Andy ist schon tot! Ich hab solche Angst."
Nicht schlecht. Wäre ich Dean, würde ich womöglich ihr glauben. Hoffentlich dachte er nicht wie ich.
Ich musste mir was einfallen lassen.
"Hey, Dean. Ich hab dir doch gesagt, ich weiß alles über dich. Deine Mum ist gestorben als du vier warst und dein Bruder ein paar Monate alt. Seitdem bist du ein Jäger. Sorry, das war 'n bisschen unsensibel, aber ist mir als erstes eingefallen."
Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, seine Waffe richtete sich mehr in Richtung der anderen.
"Also bitte. Sie stalkt dich, weil sie es auf dich abgesehen hat. Du warst bis vor wenigen Wochen mit deinem Vater unterwegs. Er fährt 'nen alten Impala. Er hat ihn dir vor vier Jahren geschenkt, aber der ist gerade in Bobbys Werkstatt."
Panik stieg in mir auf. Natürlich. Der Gestaltwandler musste sehr viel über ihn wissen, ich brauchte eine genaue Information, die sie nicht kennen konnte.
Aber mein Hirn war wie leergefegt.
"Dean... Gestaltwandler hassen Silber. Probier's bei uns aus, ich hab nichts dagegen. Aber pass auf, die Alte hat ein Messer."
Er sah mir misstrauisch in die Augen, doch dann nickte er. Ich bemerkte, wie der Gestaltwandler neben mir dich anspannte. Und wirklich: In dem Moment, als Dean sein Silbermesser zog, sprang mein Double auf und verpasste ihm einen starken Tritt, der ihn über die Türschwelle stolpern ließ und zu Boden fallen.
Schon war sie halb auf ihm, er drückte ihr Messer weg, schaffte es aber kaum. Dafür, dass sie meine Gestalt angenommen hatte, war sie verdammt stark. Nicht dass ich unsportlich gewesen wäre, aber gegen jemanden wie Dean standen meine Chancen wohl bei Null.
Trotzdem. Egal wie stark dieses Wesen war, ich musste Dean helfen, sonst würde es uns alle umbringen. Vielleicht sogar Eva! Immer noch zugedröhnt schwankte ich zu ihnen hinüber und tat das erste, was mir einfiel. Ich biss fest in ihr Bein. Besser gesagt, ich biss mir fest ins Bein. Wie auch immer.
Sie schrie und verpasste mir einen Schlag, aber Dean konnte die Zeit nutzen und schubste sie von sich herunter. Das Messer schlitterte weg.
Unglaublich schnell krabbelte sie ihm hinterher und drückte mit dem linken Knie auf seinen Hals. Er schnappte nach Luft und versuchte sie abzuwehren, aber auch seine Arme wurden eingeklemmt.
Ich rappelte mich auf und kroch in ihre Richtung, seltsame, discomässige Geräusche in meinem Kopf übertönten die ihres Kampfes.
Vor meinen Augen begannen violette Flecken herumzutanzen, aber ich riss mich zusammen und schaffte es schließlich zu ihnen rüber. Der Gestaltwandler hatte mir den Rücken zugewandt, wodurch der Überraschungseffekt auf meiner Seite war.
Mit einem schrillen Kampfschrei warf ich mich auf ihren Rücken und riss sie von Dean runter. Einander umklammernd, knallten wir hinter ihm auf den Boden. Alle Luft wurde mir aus den Lungen gepresst, und auch die andere schnappte nach Luft. Dann setzte sie sich auf, mich hasserfüllt anstarrend. Ich versuchte, dasselbe zu tun, aber mein Kopf fühlte sich bleischwer an.
Auf Dean konnte ich nicht zählen, denn den hatte sie beinah bewusstlos gewürgt. Aber in mir war kein Platz, Panik zu schieben, ich hatte gar keine Zeit, die Situation zu überdenken.
Das Wesen stürzte sich auf mich, seine Augen leuchteten silberweiß. Es setzte sich rittlings auf mich, seine Knie zerquetschten meine Handgelenke.
Dann fing es an, auf mich einzuprügeln. Zuerst drehte ich den Kopf zur Seite, aber das schadete mehr als es mir nutzte. Ich versuchte, mich mit den Beinen aus seinem Griff zu befreien, hatte aber keine Chance.
Nach einigen Schlägen spürte ich, wie meine Haut aufplatzte.
Die Knöchel des Gestaltwandlers waren blutverschmiert.
Ich habe keine Ahnung, wie oft sie auf mich einschlug, bis die Schüsse ertönten.
Dann hörte es plötzlich auf, ich wurde mit etwas Nassen und Warmen bespritzt und der Gestaltwandler kippte von mir herunter. Ich schlug die Augen, oder vielmehr das Auge, denn mein linkes konnte ich nicht mehr öffnen, auf.
Einige Minuten herrschte Stille, der Knall der Schüsse hallte immer noch in meinen Ohren nach. Dann näherten sich Schritte.
"Dean! Mary!", rief eine raue Stimme durch den Raum, und irgendjemand quietschte, aber ich hatte nicht die Kraft, mich umzusehen, ich konnte nur an die Decke starren.
Schritte klapperten auf dem Boden, Evas Kopf tauchte über mir auf.
"Marie! Alles ok?", fragte sie etwas panisch. Ich lächelte. So hatte sie mich genannt, als sie noch in der Grundschule gewesen war. Das war immer so süß gewesen. "Marie!"
Ich wollte antworten, musste aber husten und schmeckte den metallischen Geschmack von Blut. Schließlich brachte ich ein raues "ja" heraus.
Eva half mir hoch.
Dean war immer noch am gleichen Platz wie vorhin, nur dass er halb saß und die Pistole in der Hand hatte, mit der er das Ding erledigt hatte, Bobby, dessen Stimme ich gehört hatte, war jedoch nirgends zu sehen.
"Danke."
"Kein Problem", meinte Dean lässig, sah aber ziemlich erschöpft dabei aus.
"Wo ist Bobby?"
Meine Frage bedurfte keiner Antwort, da dieser mit Andy im Schlepptau aus einer Tür, die ich gar nicht bemerkt hatte, kam. Sie sah ziemlich erledigt aus, hatte aber keine äußerlichen Verletzungen, soweit ich sehen konnte.
Mir fiel ein Stein vom Herzen, aber alles, was ich machte, war ein schwaches Grinsen in ihre Richtung.
Das Kleid wollte ich nicht mehr haben, nachdem es mit dem ganzen Blut und Erinnerungen behaftet war, aber die Schuhe holte ich mir zurück, bevor wir gingen. Auch Dean holte sich seine Lederjacke, dabei stieß er wüste Verwünschungen gegen den Gestaltwandler aus.
Bobby und Dean stützten Andy und Eva mich trotz heftigen Protestes meinerseits.
Als wir die Kanalisation verließen, warfen die Häuser schon langgezogene Schatten, und in Bobbys Auto sah ich, dass es fünf Uhr abends war.
Ohne besonders viel zu reden, fuhren wir zu dem Motel, in dem die Jäger eingemietet waren. Das Zimmer war spärlich und in Beige-Tönen eingerichtet, vor allen Fenstern waren doppelte Salzlinien. Ich vermutete Bobby dahinter, diesen paranoiden Idioten (höhö).
Andy und ich wurden auf die Betten verfrachtet, die irgendwie nach Zigarren mieften. Dennoch hätte ich darin richtig gerne geschlafen. Das war alles, was ich wollte. Nur etwas Schlaf. Meine Augen brannten wie verrückt, ich schaffte es kaum, sie offen zu halten.
Leider kam es nicht dazu, weil das Desinfizieren und Versorgen von Wunden nicht gerade entspannend war.
Während man mich festhielt und zusammenflickte, stellte ich fest, dass ich mehrere Schnitte am Kinn und auf der linken Wange, sowie ein blaues Auge und eine aufgeplatzte Unterlippe hatte. Es war schmerzhaft, aber nichts tat so weh wie die Wunde an meinem Hals, die sich taub und zugleich brennend anfühlte und mir Tränen in die Augen trieb. Als Bobby sie abtupfte, schrie ich auf und begann um mich zu schlagen, bis Dean mich festhielt und Eva mir die Hand vor den Mund legte, damir man uns nicht aus dem Motel warf.
Die Schmerzen ließen aber auch die Wirkung der Droge verfliegen, und daher war ich am Ende der Behandlung angeschlagen, aber wach.
Vorsichtig setzte ich mich auf und sofort schmiegte sich Eva an mich wie ein Klammeraffe. Verwirrt tätschelte ich ihr den Kopf, worauf sie mich noch fester umarmte. Weil es draußen schon dunkel war, waren die zwei Nachttischlampen angemacht worden und verströmten orangenes Licht.
Auf dem Bett neben mir schlief Andy, auf einem alten Stuhl saß Bobby und trank aus seinem Flachmann, gegen den Tisch am Fenster, auf dem ein paar alte Bücher ausgebreitet waren, lehnte sich Dean mit verschränkten Armen.
"Ich muss schnell was mit ihnen bereden", murmelte ich Eva zu, die mich widerwillig losließ, dann stand ich auf und zog Dean mit mir nach draußen.
Bobby winkte ich auch zu mir, und er reagierte erst nach ein paar Sekunden. Es war draußen ziemlich kühl, aber der Bademantel schützte mich vor der ärgsten Kälte.
Glücklicherweise hatte sich irgendjemand während meiner Versorgung erbarmt und das Glibber-Zeugs abgewischt. Ein klein wenig nervös trat ich von einem Fuß auf den Anderen.
"Was ist los?"
Verlegen betrachtete ich eingehend die Dielen und rang um die richtigen Worte. Dann platzte es aus mir raus. "Nehmt mich mit."
"Was?" Deans Stimme war entsetzt.
"Nehmt mich mit. Ich wollte schon immer auf die Jagd gehen! Bitte."
"Das geht nicht."
"Wieso?" Endlich traute ich mich, sie direkt anzusehen. Mein schockierter Blick galt Bobby, der etwas gereizt ob meiner Frage wirkte.
"Du bist keine Jägerin. Du hast das nie getan, sonst würdest du nicht darum bitten. Du hättest nie ein zuhause. Und du würdest viel zu jung sterben", sagte Bobby entschlossen. "Du bist heute schon fast umgekommen, und das war nicht mal ein richtig brutaler Auftrag."
"Aber ich kann euch helfen. Ich weiß ganz viel, was noch passieren wird, ich bin wahrscheinlich sogar besser informiert als Johns Tagebuch."
Bobby schüttelte den Kopf. "Nein. Du hast hier eine Familie. Denk an deine Schwester. Die darfst du nicht verlassen. Ich lasse nicht zu, dass noch jemand sein Leben einfach so wegwirft."
"Aber...", setzte ich flehend an.
"Nein."
Jetzt wandte ich mich an Dean. Leichte Panik war in mir hochgestiegen. Diese Gelegenheit durfte ich um keinen Preis vorbeiziehen lassen. Endlich ein Abenteuer in meinem Leben zu haben, das war es, wovon ich immer geträumt hatte.
"Dean, ich bin hier gestrandet. Und das offenbar wegen einem Freund von dir. Naja, einem zukünftigen Freund. Also ist der beste Weg, wieder in meine Zeit zurückzukommen, wahrscheinlich der, Castiel zu finden. Und wenn ich mich an euch halte, finde ich ihn bestimmt. Bitte nimm mich mit. Ich muss wieder zurück."
Ich stockte, als es mir auffiel, dann grinste ich. "Zurück in die Zukunft. Das ist mein richtiges Leben, und das will ich zurück. Bitte. Genau du musst wissen, wie sich das anfühlt. Bitte, Dean."
Er zog die Augenbrauen zusammen, ich konnte förmlich die Rädchen in seinem Kopf rattern hören. Dann nickte er. Ich warf mich ihm um den Hals, halb herumhüpfend. "Danke! Danke! Danke!"
Nach kurzem Zögern tätschelte er mir den Rücken, sodass ich mich von ihm löste. "Kein Problem."
Ich konnte nicht anders, als breiter als die Katze aus Alice im Wunderland zu grinsen. "Danke. Das ist... danke!"
"Ähm... gern geschehen?", lachte Dean, während Bobby vor sich hin brummelnd wieder im Zimmer verschwand.
Ich umarmte ihn nochmal kurz, dann gingen wir nach drinnen. Bobby blätterte schon in einem staubigen alten Wälzer, Eva telefonierte im Badezimmer, Andy hatte sich aufgesetzt und rieb sich die Schläfen.
"Alles ok?"
Erst als sie den Kopf hob, bemerkte ich, dass sie weinte. "Was ist los?"
"Es geht um... Ed...", brachte sie unter Schluchzern hervor. Weil mir nichts besseres einfiel, setzte ich mich neben ihr auf die Bettkante und legte vorsichtig den Arm um sie. "Was ist passiert?"
Auch Dean kam hinzu, er setzte sich auf Andys andere Seite und drückte ihr ein altes Taschentuch voller Motorenöl in die Hand. Sie schnäuzte trompetend hinein, dann hickste sie irgendetwas, aber ich konnte sie nicht verstehen. "Was?"
"Er... ist tot. Er war im Nebenzimmer. Sie hat mich mit ihm eingesperrt. Er war... total... kalt und blau... und... oh Gott..."
Sie brach wieder zusammen. Ich fühlte mich unglaublich hilflos, hatte nicht die geringste Ahnung, wie ich ihr helfen sollte. Es war so ungerecht.
Der Junge hatte für etwas sterben müssen, mit dem er nichts zu tun gehabt hatte. Ich verdrängte mein Mitleid. Eine total aufgelöste Person war genug. Über ihren gesenkten Kopf warf ich Dean einen Blick zu und formte mit dem Lippen 'Tu etwas!', aber auch er zuckte nur mit den Schultern.
Nach einigen Minuten räusperte Dean sich. "Ich hab ganz vergessen... muss meinen Dad anrufen... ich komme gleich wieder." Er stand auf und ging raus, aber nicht, ohne vorher von mir mittels Blicken getötet zu werden.
"Wir gehen jetzt nachhause", redete ich Andy zu, "du kannst zu deiner Familie, sie warten sicher schon auf dich. Dean hat sie vorhin ein bisschen aufgehetzt weil dieses Miststück uns angelogen hat, also machen sie sich wahrscheinlich schon Sorgen. Und da schläfst du dann ein wenig. Das brauchst du jetzt vor allem. Schlaf."
Zur Antwort schnaufte sie weiter in ihr Schnäuztuch und es war eine richtige Erlösung, als Eva hereinkam und uns volllaberte, bevor sie sich überhaupt umgesehen und die Situation erkannt hatte: "Ich hab grad mit Mum telefoniert. Wir sollen schnell heimkommen, die drehen schon voll am Rad. Besser gesagt, Oma tickt total aus und terrorisiert alle im Umkreis von einem Kilometer."
Ihr Blick fiel auf Andy. "Oh. Andy, was ist los?"
Eva, die das deutlich besser draufhatte, als Dean, ich, oder gar der asozial lesende Bobby, tröstete Andy, während ich aufstand und mich zu Bobby an den Tisch setzte.
"Schau sie dir an", sagte er zu mir mit gesenkter Stimme. "Wir haben zwar gewonnen, aber sie wird ihren Freund nie mehr zurückkriegen. Willst du das wirklich? Immer wieder mitansehen, wie Menschen und Familien zerstört werden? Ich, Dean, sein Vater... alle Jäger haben etwas verloren, die meisten ihre Familie. Du hast noch alles. Warum willst du das aufgeben? Es gibt... nichts Schöneres auf der Welt..."
Ich legte die Hand auf das Buch, damit er mich auf keinen Fall ignorierte, und sah im in die Augen. Sie waren voller Schmerz. "Bobby, es ist kompliziert. Weißt du, ich habe mein halbes Leben damit verbracht, mich in andere Welten zu träumen, weg von dem eintönigen Alltag. Für mich wart ihr nur eine Geschichte, und doch noch viel mehr als das. Mit euch konnte ich lachen, wenn ich mit meinen Freunden gestritten habe, ihr wart meine Familie, wenn meine Eltern erst nachts nachhause kamen, und ihr gabt mir das Gefühl, dass es in dieser Welt etwas gibt, wofür man kämpfen muss. Wahrscheinlich lannst du das nicht verstehen, aber für mich seid ihr Freunde, fast schon sowas wie eine Ersatzfamilie. Ich würde so gern etwas bewirken, Bobby, und wenn ich mit euch komme, dann kann ich Leben retten. Wenn ich hierbleibe, nütze ich nur mir selbst und würde mir ewig vorwerfen, nicht mitgekommen zu sein."
Ich konnte nicht erkennen, was in ihm vorging, aber er sagte nichts mehr. Er starrte mir nur noch einige Zeit ins Gesicht, dann nickte er knapp und las weiter.
Eine halbe Stunde später stiegen wir in den Wagen, um nachhause zu fahren. Zuerst ging es aber noch zu Andy.
Andy wohnte in einer kleinen Wohnung in einem Mehrfamilienhaus in der Innenstadt, wobei ich feststellte, dass mein neuer Wohnort, den ich zuerst für ein Kaff gehalten hatte, eigentlich eine halbwegs große Stadt war.
Verglichen mit meinem Heimatdorf mit zweitausend Einwohnern zumindest (größer als das zu sein war eigentlich ja nicht schwer).
Bobby wartete im Wagen, aber wir anderen begleiteten sie, da sie noch wackelig auf den Beinen war, nach oben.
Sie klopfte gegen eine weiß angestrichene Tür mit der silbernen Zahl 21 darauf.
"Wer ist da?", drang eine dünne Stimme aus der Wohnung.
"Ich bin's, Andy", antwortete Andy. Zwei Schlüssel wurden umgedreht und etwas klimperte. Die Tür öffnete sich einen Spalt und eine blonde, große Frau steckte den Kopf heraus, zusammen mit einer Gabel, die Andy anfassen musste. Wenigstens hatte Dean sie anständig aufgeklärt.
Nachdem Andy die Gabel genommen hatte, riss die Frau die Tür auf und sie fielen sich in die Arme.
Eine Weile lang umarmten die beiden sich nur, dann verabschiedete sich Andy von uns. Zuerst wandte sie sich an Eva und mich.
"Danke, Leute. Wir sehen uns am Freitag in der Früh im Starbucks. Ich spendier euch euer Frühstück. Ich hätte echt nie gedacht, dass ihr so auf Draht seid", sagte sie und umarmte uns beide kurz. Ich lächelte nur, jetzt zu sagen, dass ich wegginge, wäre sicher unpassend, und sogar Eva sagte mal nichts. Dann wandte sie sich an Dean. "Und du und Bobby... fahrt wieder weg?"
"Jep."
"Danke. Auch wenn... Ed... auch wenn... zumindest weiß ich jetzt, was mit ihm passiert ist."
"Und wie geht's jetzt weiter?"
"Ich... komm klar. Vielleicht mach ich eine Ausbildung im Krankenhaus, wer weiß", lächelte sie schief mit einem Kopfnicken zu mir. "So schlecht war ich darin ja nicht."
Auch sie und Dean umarmten sich. Schweigend kehrten wir zum Auto zurück. Eva erklärte Bobby, wie der Weg zu unserem Haus war, ich lehnte mich im Sitz zurück und beobachtete Andys Haus, bis es hinter einer Straßenecke verschwand.
Wir fuhren wieder in Richtung Land, die Abstände zwischen den Häusern wurden immer größer und die Geschäfte vereinzelter. Nach knapp zehn Minuten hielten wir vor einem gelb gestrichenen Haus an.
Als ich den schwarzen VW Beatle meiner Mutter und die blau-rote Suzuki meines Vaters vor der Garage stehen sah, wusste ich gleich, dass das unser Haus war. Sogar die Spitzenvorhänge meiner Oma hingen hinter ein paar Fenstern.
Irgendwie unheimlich. Bis jetzt hatte ich nicht glauben wollen, dass das möglich war.
Bevor Eva ausstieg, hielt ich sie fest. "Warte kurz. Ich muss dir was sagen."
Sie drehte sich zu mir um, die blaugrünen Augen neugierig aufgerissen. "Was ist?"
"Ich... gehe weg. Ich werde mit ihnen mitkommen. Das... Böse jagen."
"Was? Nein! Und wenn, dann will ich mit!"
"Das geht nicht. Hör zu... ich geh jetzt rein, aber so, dass sie mich nich hören, und bin dann weg. In ein paar Wochen besuch ich euch wieder."
"Nein. Das ist unfair!" Hinter ihrem Rücken hatten wir Eva früher immer 'Kleiner Satan' genannt, weil sie unglaublich stur war, und nicht davor zurückschreckte, komplett durchzuticken, wenn etwas nicht so lief, wie es ihr passte.
In diesen Momenten konnte man förmlich Hörner aus ihrer Stirn sprießen sehen. Genau diese Miene zierte auch jetzt ihr Gesicht, und ich wusste, dass es so gut wie unmöglich sein würde, sie zu überzeugen.
"Wenn du mich nicht auffliegen lässt, kriegst du alles, was du willst", seufzte ich.
Sie überlegte kurz. "Na gut. Ich darf Ellie taufen."
"Ähm... klar. Was?"
"Ich darf Ellie taufen. Okay?"
"Wer ist Ellie?" Hatte ich jetzt noch eine Schwester?
Sie verdrehte die Augen. "Wir haben vor einer Woche einen Hund gekriegt. Erinnerst du dich?"
Schicksalsergeben nickte ich. "Und du kommst in zwei Wochen wieder."
Eine kleine Notlüge würde mich nicht in die Hölle bringen. Moment... sowas sollte ich ab jetzt nicht mehr denken oder sagen... Ich sagte schnell ja und endlich konnten wir aussteigen.
"Bin in zwei Minuten zurück", ließ ich die zwei Jäger wissen und folgte dem Mädchen aus dem Wagen, allerdings hatte ich mich zu früh gefreut, denn noch bevor wir bei der Haustür angekommen waren, wurde sie aufgemacht und unsere Oma lief uns entgegen. Wir blieben beide wie angewurzelt stehen, und konnten uns erst nach einer kurzen Gardinenpredigt wieder fassen und vor der alten Dame nach drinnen flüchten.
Ich folgte Eva die Treppen hoch, offenbar war es immer noch so, dass meine Oma im Erdgeschoss, meien Familie hingegen in den oberen Stöcken wohnte.
Zum Glück fand ich mein Zimmer auf Anhieb, weil auf der Zimmertür ein schwarzes glitzerndes 'M' und ein Bild von mir klebte. Das Bild stammte von Fasching 2013, ich hatte nur eine hellgrüne Kontaktlinse an, dazu einen Fedora-Hut und hüftlange lockige Haare.
Das Innere meines Zimmers hingegen war vollkommen anders als normal.
Zuhause war es ein Gemisch aus Vintage- und Ikeamöbeln, alles in dunkelbraun und weiß, gewesen. Dieses Zimmer war mindestens dreimal so groß, bestimmt sieben Meter lang und breit. Genauso wie Wände und Fußboden waren alle Möbel aus hellbraunem Holz und alle möglichen Gegenstände lagen herum.
Obwohl so ein Chaos hier herrschte, entdeckte ich gleich einen kleinen verdreckten Rollkoffer hinter der Tür, den ich prompt mit allen Kleidungsstücken, die sich auf den Boden angesammelt hatten, und das waren nicht wenige, vollstopfte.
Dann rannte ich ein bisschen ziellos im Zimmer umher, bis mir einfiel, dass mein Laptop wahrscheinlich genauso futsch war wie mein Handy.
Direkt gegenüber von meinem Zimmer stand die Tür des Badezimmers offen, ich lief hinein und nahm mir mein Toilettenzeugs mit. Dabei warf ich einen Blxik in den Spiegel. Auf meinem Kinn klebte ein Pflaster, die ganze Wange war mit Mull bedeckt und mein Hals war damit regelrecht eingewickelt worden.
Egal.
Ich musste nur dafür sorgen, dass Oma nicht einen Blick darauf werfen konnte, obwohl sie vorher darauf bestandne hatte. Sonst würde ich mit mehr Kräuterpansch auf meinem Gesicht als Haaren auf dem Kopf enden.
Okay... jetzt fehlten mir nur noch Schuhe... und viellicht ein Buch... oder eine CD, denn möglicherweise würde mir Deans Musikgeschmack nach einer Weile auf die Nerven gehen.
Zu blöd, dass ich gerade mal drei CDs besaß, von denen eine 'Fluch der Karibik'-Filmmusik enthielt. Genervt riss ich jeden Schrank auf, um den Aufenthaltsort meines Schuhwerks ausfindig zu machen, und fand die Sammlung schließlich in einer Kommode unter einem der drei Fenster.
Spontan holte ich Flip Flops und drei Paar Sneakers raus und warf sie auf den Klamottenberg, der sich in meinem Koffer türmte. Auf meinem Nachttisch lagen zwei Bücher, Illuminati und Sakrileg. Nicht unbedingt meine Lieblingsbücher, aber ich hatte sie seit Jahren nicht gelesen, und so landeten auch sie im Reisegepäck.
Um den Trolley jetzt noch zuzukriegen, musste ich mich draufsetzen, und selbst da war es noch nicht leicht.
Von meinem Bett schnappte ich mir meinen wärmsten Kapuzenpulli, mit dem man aussah wie Pikachu, streifte in mir über und bändigte noch das Nest auf meinem Kopf mit einem Haarreif.
Für all das hatte ich wahrscheinlich fünf Minuten gebraucht, nun war ich startbereit. Ich schulterte den Koffer beim Treppenrunterrennen, prallte aber am Ende der Treppe mit jemandem zusammen und landete hart auf dem Hintern. Glücklicherweise bemerkte ich, dass das Hindernis mein Dad war, bevor ich losfluchen konnte. Naja, nicht wirklich mein Dad. Er sah jünger aus... ein ganzes Stück jünger. Er hatte noch schwarzes Haar und war sehr dünn, außerdem trug er Brillen. "Wohin geht's denn, junge Dame?"
Ich rappelte mich auf, und nachdem ich ihn ein Weilchen perplex angestarrt hatte, fand ich meine Sprache wieder. "Oh, Dad."
Meine Mum trat hinter ihm hervor. Auch sie schien jünger zu sein, ihre Haare waren nur kinnlang und strohblond, und sie war sportlich. "Was tust du?"
"Ich... ähm..."
"Wir erlauben dir alles. Wirklich alles. Aber ein paar Regeln solltest du schon einhalten. Unseretwegen darfst du gern zu allen Partys in der Stadt gehen, aber nicht Schule schwänzen! Und was hast du da im Gesicht?"
Verdammt. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie ich aus der Nummer rauskommen sollte. "Bn gestolpert. Ich muss nur schnell raus, ich werd das nie wieder tun, versprochen!"
"Keine Chance. Geh rauf in dein Zimmer. Du hast eine Woche lang Hausarrest."
Okay, das waren definitiv nicht meine Eltern. Meine Mutter hätte wahrscheinlich ein Drama gemacht, aber Hausarrest hatte ich noch nie gekriegt. Ein Schauder lief mir über den Rücken.
"Aber da draußen sind Freunde von mir. Ich muss mich zumindest verabschieden!"
"Schöne Freunde sind das. Rauf. In dein Zimmer. Und zwar schnell."
Es war, als hätte man mir den Saft abgedreht. Bittere Enttäuschung machte sich in mir breit und am liebsten hätte ich auf jemanden eingeprügelt.
Ich musste rauf in mein Zimmer, in einem Haus mit einer Familie, die definitiv nicht meine war, und hatte keine Ahnung, wie ich zurück zu Bobby und Dean kommen sollte.
Eins stand fest: Ich war am Arsch.
Blöder Castiel.
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