ҜΔPITΣL 1.1
Sie saß da.
Eigentlich saß sie immer nur da, wenn sie aufgeregt war. Sie schaute aus dem kleinen runden Fenster und wünschte sich weit weg, während die Angst sie in ihrem Inneren beinahe zu zerfressen begann.
Doch sie saß nur da. Auch wenn sie am liebsten aufgesprungen wäre, weil sie kaum mehr still sitzen konnte; weil sie den Drang verspürte, nach dem Rechten zu sehen. Doch sie wusste, dass sie das nicht durfte, und sie würde nicht einmal im Traum daran denken, das kleine, unschuldige Etwas, dass sich nur wenige Zentimeter von ihr entfernt versteckte, unnötig in Gefahr zu bringen. Sie war selbst gerade einmal fünf Jahre alt, doch sie hatte sich geschworen, es mit ihrem Leben zu beschützen.
Und so biss sie sich auf ihre innere Wange, bis es schmerzte, und legte ihre kleinen Hände um ihre Knie und wartete.
„Einen Kaffee?"
Fragend sieht die Kellnerin mich an. Ihr Lächeln ist dabei beinahe so perfekt wie die strenge Hochsteckfrisur, die sie trägt, auch wenn sie beim Bremsen des Zuges für den nächsten Halt ein wenig schwankt.
Kein Wunder, dass sie Phase zwei überlebt hat, stelle ich fest, und bei dem Gedanken sendet der riesige, prickelnde Aufregungsknoten in meinem Magen Adrenalinstöße durch meinen Körper. Alles hat sich in den letzten Wochen, Monaten, Jahren um diesen Tag gedreht. Er ist der Wichtigste im Leben jedes Achtzehnjährigen - außer man scheitert. So unglaublich gnädig, wie die Regierung ist, hat man schließlich drei Chancen, bevor man abgemurkst wird, denke ich und grinse. Das ist der Weg, wie die meisten in unserem Land das Gesetz abtun: mit einem aufgesetzten Lächeln und Sarkasmus. Eine andere Möglichkeit wäre es, vor Angst zu sterben.
„Nun?"
Ich schrecke zusammen, weil ich die Kellnerin ganz vergessen habe, und schüttele schnell den Kopf. „Nein, danke", flüstere ich und sehe aus dem an den Ecken abgerundeten Fenster, an dem die Welt draußen nur so vorbei zischt. Einen Kaffee brauche ich nicht, ich bin auch so hellwach.
„Auf dem Weg zur Hauptstadt?", höre ich ihre Stimme neben mir und drehe widerwillig erneut meinen Kopf zu ihr. Bemerkt sie nicht, dass ich lieber alleine wäre, wenn ich mir vor Angst in die Hose machen würde?
Ich will gerade eine bissige Antwort geben, doch dann sehe ich ehrliche Sorge in ihrem Blick und halte inne. Sie hat es nicht verdient, dass ich sie anschnauze, nur weil ich selbst ein reinstes Nervenbündel bin.
Sie kann schließlich nichts dafür.
„Ja", antworte ich also und räuspere mich, weil meine Stimme sich anhört wie raues Schleifpapier.
„Der Test?" Sie sieht mich fragend an, worauf ich nicke.
„Der Test", wiederhole ich und weiche ihrem Blick aus, damit sie die Angst in meinen Augen nicht sieht. Als ob sie nicht genau wüsste, wie ich mich fühle, weil sie sich vor zehn bis zwanzig Jahren nicht in exakt der selben Situation befunden hat - auch wenn sie anscheinend in der ersten Phase gescheitert ist.
Ich werde nicht scheitern. Nicht in der ersten und auf gar keinen Fall in der zweiten Phase. Die dritte Phase - die letzte Chance aufs Überleben - ist nämlich der Ausbildung als Soldat der Regierung vorgesehen, und nicht für hundert Pferde würde ich mich auch nur mit dem Gedanken anfreunden, diejenigen zu beschützen, die für dieses brutale Gesetz verantwortlich sind.
Die vor exakt 185 Jahren beschlossen haben, diejenigen unter uns zu ermorden, die es anscheinend nicht wert sind, zu leben. Obwohl, morden tun sie nicht, behaupten sie von sich selbst, denn die Spritze, die sie verabreichen lassen, lässt die Menschen beinahe schmerzfrei ins Jenseits rübergleiten. Angst ist überflüssig, sagen sie. Als würden sie unsere natürlichen Reflexe und Reaktionen verspotten, wenn wir Auge um Auge vor dem Tod stehen.
Bei mir wird es dazu nicht kommen. Niemals. Ich komme aus einer wohlhabenden Familie aus Wissenschaftlern, die alle einen gut bezahlten und hohen Beruf innehaben, und die Chancen, dass ich ihre Hochbegabung geerbt habe, stehen... nicht gerade schlecht.
Das rede ich mir schon die ganze Zugfahrt über ein, während ich auf den kleinen runden Stein in meiner geöffneten Hand starre, den mir meine Mutter heute morgen geschenkt hat. In das glatte, mattgraue Material sind die Worte geritzt, die in dieser Zeit des Jahres - der Testzeit - in jedem Laden zu sehen sind.
Du bist es wert.
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