7
Wie benommen haste ich die menschenleeren Straßen entlang zu meiner Wohnung. Am liebsten würde ich einfach so tun, als hätte der gestrige Abend und vor allem die darauffolgende Nacht niemals stattgefunden.
In meiner Wohnung angekommen, verriegle ich die Tür hinter mir und lasse den Schluchzern, die seit dem Aufwachen in meiner Brust festsitzen, freien Lauf.
Erst danach gehe ich ins Bad um mich unter die heisse Dusche zu stellen. Wieder und wieder seife ich mich ein, solange bis die Duschgelflasche vollkommen leer ist.
Im Badezimmerschranck finde ich eine Packung Kopfschmerztabletten, von denen ich zwei auf einmal einnehme, um den rasenden Schmerz in meinen Schläfen zu bekämpfen.
Vollkommen ausgelaugt schliesse ich die Vorhänge und schleppe ich mich zur Coach, wo ich unter eine Wolldecke krieche und auf die tiefe Dunkelheit des Schlafes warte. Zumindest für ein paar Stunden wird er mich von all dem Ekel und den Schuldgefühlen befreien, die kein Duschgel der Welt abwaschen kann.
Längst kriecht das Grau der Abenddämmerung durch die Ritzen der geschlossenen Vorhänge, als ich aus einem ungewohnt tiefen Schlaf erwache. Leider hat er mir kein bisschen Erholung verschafft. Ich richte mich auf und starre in das Halbdunkel. Wie schön wäre es, wenn ich das vergangene Wochenende einfach nur geträumt hätte. Doch die Ereignisse der vergangen Nacht sind real, auch wenn ich mich nicht mehr daran erinnern kann. Wie erbärmlich von mir, dass ich so sehr die Kontrolle verloren habe. Wenn man sich nichtmal auf sich selbst verlassen kann , auf wen dann? Schreckhaft zucke ich zusammen, als die Haustür ins Schloss fällt. Seit ich hier eingezogen bin, schliesst die Tür nicht richtig. Zusammen mit anderen Hausbewohnern habe ich schon mehrmals den Hausmeister darauf aufmerksam gemacht, aber er hat den Defekt bis heute nicht repariert. Zitternd lausche ich den Schritten, die sich die Treppe herauf nähern.
„Luna?" Der Klang von Lucas stimme hallt durch das Treppenhaus. Mein Herz macht einen schmerzhaften Satz. Tränen steigen mir in die Augen , ob aus Reue, aus Wut oder Scham kann ich nicht sagen, wahrscheinlich sind es all diese Gefühle zusammen. Adrenalin pulsiert durch meine Venen und lässt erneut das schmerzhafte Pochen in meinen Schläfen aufbranden. Das viel zu schrille Läuten der Klingel veranlasst mich dazu, die Hände auf die Ohren zu pressen. Verdammt, was macht er hier? Wahrscheinlich will er mir eine wütende Standpauke wegen des Anrufes machen und mir vorab die Kündigung überreichen. Gut, dass ich noch kein Licht angemacht habe. So kann ich einfach so tun , als wäre niemand zuhause. Nach einer Weile lasse ich die Hände sinken und lausche. Stumm und starr sitze ich da, bis sowohl das Läuten als auch Lucas Stimme, die noch ein paar Mal meinen Namen ruft, verstummt ist. Erst als ich höre, wie die Schritte sich entfernen und die Haustür ins Schloss fällt wage ich es, vom Sofa aufzustehen und meine Handtasche nach dem Handy zu durchwühlen um es aufzuladen.
Audra, eine ehrenamtliche Aushilfe aus dem Tierheim, hat versucht mich zu erreichen. Ebenso Josy und auch Luca. Doch ich will weder Jemanden sehen noch mit mit Jemandem sprechen. Selbst Lucky, der Bullterrier, mit dem ich eigentlich jeden Morgen zur gleichen Uhrzeit spazieren gehe, wird heute vergeblich auf mich warten. Ich tippe Audra eine kurze Nachricht, dass ich krank sei und morgen früh wieder zur Stelle bin um mich um Lucky zu kümmern.
Nach einer Weile, das Grau der Dämmerung ist längst dem Dunkel der Nacht gewichen, nehme ich meinen Laptop und fange an den Artikel zu schreiben, um ihn sofort danach kommentarlos an Lucas Email Adresse zu senden.
---
Sofort am nächsten Morgen mache ich mich mit dem Fahrrad auf den Weg zum Tierheim. Leider treffe ich auf dem Weg zum Fahrradschuppen Frau Tiersen, eine verwitwete alte Dame, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, sämtliche Hausbewohner und ihr Leben zu beobachten.
„Der junge Mann der gestern Abend da war, muß ja wirklich ein wichtiges Anliegen haben," begrüsst sie mich, während ich die Schuppentür öffne. Rein zufällig ist sie gerade dabei auf der kleinen Wiese vor dem Haus Unkraut zu zupfen. Ihre Pausbacken röten sich vor Neugier. „So ein hübscher junger Mann, Luna. Kannst dich glücklich schätzen." „Ich weiß nicht wer das war," lüge ich. „Vielleicht hat er sich in der Adresse geirrt."
„ Sicherlich," kichert die alte Dame. „Und ich bin die Frau vom Weihnachtsmann."
„Auf Wiedersehen Frau Tiersen," verabschiede ich mich höflich und schwinge mich auf meinen klapprigen Drahtesel. Frau Tiersen ahnt ja nicht, dass er mein Chef ist und nur da war, um mir die Kündigung zu überreichen. Fristlose Entlassung wegen Beleidigung und respektlosen Behandelns eines Vorgesetzten, lautet wahrscheinlich die Begründung.
Die kühle Morgenluft weht mir ins Gesicht und streicht durch mein offenes Haar. Jetzt, im Frühling sind die Morgende bitterkalt und die frühen Nachmittagsstunden angenehm warm. Bereits jetzt liegt der Geruch nach Erde und Blumen in der Luft. Doch dieser Duft löst kein Kribbeln mehr in meiner Magengrube aus. Dort hat sich ein dumpfer Schmerz ausgebreitet, der alles andere verdrängt.
"Hallo ihr Süßen!"keuche ich ich, nachdem ich mein Fahrrad an den Hundezwinger angelehnt habe, aus dem sofort freudiges Gebell aufbrandet. Ich gehe in den verwaisten Aufententhaltsraum und greife mir Luckies Leine vom Haken. Hastig tausche ich meine Vans gegen ein paar Gummistiefel und tippe den Geheimcode für seinen Zwinger in das Nummernfeld ein. Kaum hat sich das Gitter geöffnet , springt er mir auch schon freudig entgegen.Ich greife in meine Manteltasche und ziehe ein paar Hundeleckerlies hervor. Spielerisch werfe ich die kleinen braunen Küchlein in die Luft, wo sie von Lucky geschickt aufgeschnappt werden.
"Ist ja gut Lucky!" Obwohl ich mich noch immer schmutzig und schuldig fühle, zaubert Luckys quirlige Art mir ein Lächeln ins Gesicht." Tut mir leid das ich gestern nicht da war." Ich ziehe ein Gesicht, was von Lucky aufmerksam beobachtet wird. Schwanzwedelnd legt er den Kopf schräg, bevor wir den schmalen Weg einschlagen, den wir immer am Wochenende nehmen , wenn ich mehr Zeit habe als sonst.
Inzwischen hat es angefangen zu regnen, doch der Bullterrier kann es kaum erwarten, endlich nach draußen zu kommen. Ich genieße die würzige Waldluft die kalt und befreiend in meine Lungen strömt und schaffe es sogar den verhängnisvollen Freitag eine Weile zu vergessen.
Als wir den Rundweg verlassen und der Wald hinter uns liegt, leine ich Lucky ab und lasse ihn ein paarmal Stöckchen holen. Danach machen wir uns langsam zurück auf den Weg Richtung Tierheim.
„Na Lunchen. Kannst du es wieder nicht lassen?" Audra, die gute Seele des Tierheims und inzwischen fast 70 Jahre alt, begrüsst mich mit mitleidigem Lächeln und zwickt mich mit ihren eiskalten Fingern in die Wange. Sofort fallen mir ihre geröteten Augen auf.
"Lucky braucht nun mal seine gewohnte Routine!" erkläre ich. "Schlimm genug das ich gestern nicht da war."
„ Ach weißt du Lunchen, Lucky versteht das. Du hast eben auch noch ein Leben neben dem Tierheim." Seufzend zieht sie ein Taschentuch aus ihrer Wachsjacke hervor und putzt sich geräuschvoll die Nase.
„Alles in Ordnung?" stirnrunzelnd mustere ich die rüstige alte Dame. Sie zieht einen Mundwinkel nach unten.„Ehrlich gesagt, Lunchen , das sollte ich wohl eher dich fragen, findest du nicht? "
„Habe nur schlecht geschlafen," lüge ich. „Das ist alles."
An ihrem Blick lässt sich unschwer erkennen, dass sie mir kein Wort glaubt.
„Du bist weiß wie ein Glas verdünnte Milch, Lunchen." Nachlässig stopft sie das Taschentuch zurück in ihre Jackentasche. Dann mustert sie Lucky mit geschürzter Unterlippe, bevor sie mir nochmals forschend ins Gesicht sieht.
„Ist es wegen diesem Kerl? Deinem Chef, dem arroganten Schnösel?"
Automatisch wandern meine Gedanken zurück zu Freitagabend und der riesigen Erinnerungslücke, die ich einfach nicht füllen kann. Ich hole ein paarmal tief Luft, während Audra mich mit verengten Augen mustert.
„Luca ist mir egal." Erkläre ich ihr.
Sie winkt ab. „Na komm schon. Erst schwärmst du in den höchsten Tönen von dem wundervollen Abend, den ihr zusammen erst in der Pizzeria und dann bei ihm zuhause verbracht habt, und dann bist du am Boden zerstört, weil er dich anschliessend behandelt, als wärst du ein ausgedienter Fußabtreter." Wie immer nimmt Audra kein Blatt vor den Mund.
„Ich glaube du solltest ihm mal gehörig die Meinung sagen, Lunchen!" Zetert sie.
Ich streiche mir mit der Hand über das Gesicht.
„Habe ich schon. Gestern Abend . Und ich war vollkommen betrunken." Audras sorgfältig gezupfte Brauen schnellen in die Höhe. „Du hast getrunken?" Sie streicht sich die Kapuze vom Kopf und zum Vorschein kommt ihr dunkelrot gefärbter Wuschelkopf. „Warst du mit Josy unterwegs?" Kopfschüttelnd blicke ich auf den matschigen Fussboden. „Ich hatte...ein Date," bringe ich hervor, „und das Ganze ist ziemlich schlimm...geendet." Ich unterdrücke ein Schluchzen und grabe die Zähne ins Innere meiner Wange.
Sofort zieht Audra mich in eine Umarmung.
„Komm, wir gehen in den Aufenthaltsraum. Du brauchst jetzt erstmal einen starken Kaffee."
Und dann erzähle ich ihr alles.
1440 Wörter
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro