2.2: Das ist doch dämlich.
Sie fanden Anatol im Wohnzimmer stehend vor, wie er durch eines der Magazine blätterte, die hier herumlagen. Chander konnte spärlich bekleidete Frauen in nicht gerade unschuldigen Posen erkennen.
„Ich glaube, ich verstehe den Sinn dieses Heftes nicht ganz", sagte der Reine und zeigte auf die aufgeschlagene Seite, auf der eine Frau mit Katzenohren ihre Krallen nach dem Betrachter ausstreckte.
Chander runzelte die Stirn, riss ihm das Heftchen aus der Hand und warf es in Orlows Richtung. Der fing es feixend auf und ließ es auf die Palette fallen, die als Tisch diente. Allein der Gedanke, dass Orlow das schon einmal für seine Zwecke benutzt hatte, weckte in ihm das Bedürfnis, sich die Hände zu waschen.
Chanders Blick heftete sich auf Anatol. „Fass hier verdammt noch mal nicht mehr an als nötig."
„Autsch", meinte Orlow leichthin. „Ich habe eben nicht mit Besuch gerechnet."
„Als ob es hier jemals anders ausgesehen hat." Staubwölkchen stoben in die Luft, sobald sein Hintern Bekanntschaft mit der Couch machte. Tief ausatmend lehnte er sich in die weichen Kissen.
Anatol ließ sich neben ihm nieder, vorsichtig, und blieb mit geradem Rücken am Rand sitzen.
„Ich bin eben sehr offen. Und sehr faul. Willst du auch ein Glas, Chanders Freund?" Küche und Wohnzimmer waren durch keine Wand voneinander getrennt, sodass sie sehen konnten, wie Orlow eine unbeschriftete Flasche voll bernsteinfarbener Flüssigkeit schwenkte. Und einen Turm aus Geschirr hinter ihm, der der Schwerkraft trotzte, der war ebenfalls nicht zu übersehen.
„Gerne, vielen Dank. Und mein Name ist –" Ein Ellenbogenstoß in die Rippen machte ihm das Vervollständigen des Satzes unmöglich.
„ – nicht von Belang", ergänzte Chander.
Die Flüssigkeit wurde gerecht in drei Gläser gekippt und verteilt.
„Habt ihr euch im Gefängnis kennengelernt?"; hakte der Informant nach, reichte Chander sein Glas. „Euch beim Duschen ab und an die Seife aufgehoben?"
Der Drang, sich zu übergeben machte sich bei Orlows Augenbrauenakrobatik bemerkbar.
Blinzelnd zupfte Anatol an einer Haarsträhne. „Nein. Aber meine Banane beim Fahren. Wieso?"
Chander starrte ihn an. Der Knoten aus Ärger lockerte sich für einen Moment und er kam nicht daran vorbei, zumindest in sich hineinzulachen. „Das machst du mit Absicht, oder?"
„Was meinst du?", erwiderte Anatol unschuldig und nahm einen Schluck. Erstarrte. Man sah förmlich, wie das Zeug über Anatols Rachen kratzte und dann seine Speiseröhre hinunterbrannte. Er schnappte nach Luft, schluckte, schluckte erneut, fing an zu husten.
Es erinnerte ihn an seine ersten Erfahrungen mit Whiskey. Da war er vielleicht gerade einmal halb so alt gewesen wie der Reine.
„Gut das Zeug, was?" Orlow prostete ihm grinsend zu.
„Anders als gedacht", krächzte Anatol. „Ich will nicht unhöflich sein, aber könnte ich ein Wasser haben, bitte?"
Der Ausdruck in den Augen des kleinen Informanten wurde weicher, bevor er Chander einen scharfen Blick zuwarf. Er watschelte in die Küche, füllte ein Glas mit Leitungswasser und brachte es zurück. Orlow schien zu riechen, dass hier etwas nicht ganz stimmte, aber er wusste es besser, als in Chanders Dreck nach irgendwelchen Knochen zu buddeln.
Stumm nahmen sie zur Kenntnis, wie Anatol das Wasser aus dem Glas in die Luft fließen ließ. Es formte sich zu einer Kugel, aus der nach und nach der Rost und andere Verunreinigungen in seine ausgestreckte Hand fielen.
„Reine magische Energie, Luft- und Wassermanipulation." Orlows Stimme verriet keine Emotion. „Nicht schlecht. Gute Ergänzung für dein Team."
„Oh, unsere Zusammenarbeit ist nur vorübergehend", sagte Anatol und schwenkte das saubere Wasser im Glas hin und her. „Ich helfe ihm dabei, etwas richtigzustellen und er hilft mir dabei, etwas herauszufinden. Danach gehen wir wieder unserer Wege."
Chanders Augenbrauen hoben sich fragend, doch Anatol lächelte nur in sein Glas hinein.
In wenigen Schlucken nahm Chander den Whiskey in sich auf und wollte nach Anatols verschmähtem Rest greifen.
Orlow war schneller, seine Magie zog das Glas in seine Hand. „Ich weiß ja nicht, was hier los ist, aber ich bin mir sicher, dass es besser ist, wenn du so nüchtern wie möglich bleibst."
„Zwei Gläser spürt man noch nicht einmal."
„Du solltest deinen Entzug im Gefängnis als Chance sehen, Chander."
„Wer bist du? Meine Mutter?" Er verdrehte die Augen und sah dadurch Anatol, der das Gespräch neugierig verfolgte. Seine Aufmerksamkeit wanderte zurück zu Orlow. „Als ich da war, um dir diesen Umschlag zu geben ... Bist du sicher, dass ich es war? Ist dir etwas an mir aufgefallen?"
„Absolut sicher. Du hast dich so verhalten wie immer. Wie heute. Nach der ganzen Zeit im Knast sind deine Drohungen auch nicht kreativer geworden. Ehrlich –" Sanft breitete sich der Ton eines Gongschlags in der Wohnung aus und signalisierte einen Besucher. Ein Blick zu Chander reichte, um das weitere Vorgehen zu klären. Orlow verschwand im Flur, kurz war nichts zu hören, dann: „Ah, guten Tag. Was verschafft mir denn die Ehre, Engel?"
Mit einem Ruck war Chander auf den Beinen, legte einen Finger an die Lippen und deutete Anatol an, ihm zu folgen. Ziel war das Arbeitszimmer.
Tür und Rücken des Informanten blockierten die Sicht auf den Neuankömmling, aber er hatte schon eine Ahnung.
„Hallo, Orlow", erwiderte eine Frau, als hätte sie zufällig einen lange aus den Augen verlorenen Freund getroffen. „Ich bin auf der Suche nach einem Bekannten von dir: Chander Ainsworth. Möglicherweise in Begleitung von einer Geisel: Zehn Zentimeter kleiner als Chander, blondes Haar bis zur Taille, braune Augen. Zum letzten Mal gesehen in einem pinken Bademantel."
Mittlerweile saß Chander auf dem Fenstersims des Arbeitszimmers und ließ sich einen Meter nach unten auf ein Dach gleiten. Blech donnerte sachte. Wie Orlow abstritt, irgendetwas zu wissen, hörte er nur noch gedämpft. Chander duckte sich in die dichte Finsternis der Hauswand, blind vom Wechsel von Licht zu Dunkelheit. Er wartete, bis der Reine neben ihm aufkam. Weniger geräuschlos.
„Pscht!"
„Was ist los?", wisperte der Reine.
Auf dem Dach links von ihnen glänzte etwas. Er positionierte Anatol als Schutzschild und lief los. Unwahrscheinlich, dass sie ihn angreifen würden, wenn er ihn so dicht bei sich hatte. Anatol blieb stehen und riss ihn zurück. Ein Feuerpfeil zischte an Chanders Gesicht vorbei. Seine Nasenspitze brannte, als hätte er damit eine heiße Herdplatte berührt. Bunte Punkte tanzten vor seinen Augen.
„Verfickte ..." Knurrend beschleunigte er, sprang vom Blechdach auf ein schräges Dach mit Ziegeln, das nicht mehr im Sichtfeld des Schützen sein sollte.
Anatol stolperte gegen ihn, beinahe verlor er selbst das Gleichgewicht. „Das ist aber tief."
„Dann fall nicht runter", raunzte Chander. „Und wenn doch, dann sei wenigstens so höflich und reiß nicht noch mich mit."
„O...Okay."
Gegenüber von ihnen war ein Fenster, das nur durch einen von der anderen Seite beleuchteten, ausgeblichen rosafarbenen Vorhang abgedeckt war. Es führte sie in einen Raum, in dem es gleichzeitig so süß wie Honig und so sauer wie eine Horde ungewaschener Körper roch. Ebenjene Körper lehnten an Wänden oder lagen auf Matratzen. Wenn sie ihnen zulächelten, offenbarten sie grüne Zähne. Das Werk von Melody, liebevoll Waldmeister genannt.
Er ließ Anatol keine Zeit zum Starren, schleifte ihn an den Körpern vorbei oder darüber hinweg, ohne groß darauf zu achten, wohin er seine Stiefel setzte. Schmerz spürten sie momentan sowieso nicht.
Zwei Stockwerke ging es nach unten, dann hielt ihn der Reine erneut am Handgelenk zurück. „Da kommt jemand", flüsterte er in sein Ohr. „Jemand mit viel magischer Energie."
Anstatt im Treppenhaus zu verweilen, trat er gegen eine Tür. Holz splitterte. Große Augen in kleinen, kantigen Gesichtern sahen ihn an. Eine junge Frau, kaum volljährig, baute sich vor den beiden Kindern auf. Sie hatte einen groben Topf in den Händen, hielt ihn wie eine Waffe vor sich.
Ein drittes Kind lag auf einer Matratze, stützte sich auf die Ellenbogen und fiel doch wieder zurück, von einem Hustenkrampf geschüttelt.
Der Leib der Frau zitterte, aber sie fixierte sie abwechselnd unnachgiebig.
Chander beachtete sie nicht weiter und öffnete das einzige Fenster in der Einzimmerwohnung, spähte nach draußen. „Komm", zischte er über die Schulter.
Doch Anatol war wie festgewachsen, starrte die Familie vor sich an. „Es tut mir leid." Ein Hauch in der Stille. Seine Augen leuchteten auf, die Frau holte mit dem Topf aus, Chander zog ihn aus der Gefahrenzone und schubste ihn zum Fenster. „Spring!"
Endlich kam er seiner Aufforderung nach.
Das Keuchen des Reinen neben ihm war das einzige Geräusch im Wagen. Bis dieser die Lippen zusammenpresste und auf seine Hände starrte.
„Scheiße!" Chander schlug auf das Lenkrad ein, was Anatol dazu veranlasste, ihn anzusehen. „Du tust, was ich dir sage, wenn ich es dir sage. Sonst komme i... wir nicht lebend aus der Sache raus. Verstanden?"
Doch er schien durch ihn hindurch zu sehen, auf eine andere Szenerie. „Diese Menschen ... Was war mit ihnen?"
Am Kragen zog Chander ihn dicht zu sich. „Hast du gehört, was ich gesagt habe? Es ist sehr unhöflich, jemanden zu ignorieren."
Anatol blinzelte, senkte den Blick. „Verzeih", wisperte er rau. „Ja, ich habe es verstanden."
Die Antwort verschaffte ihm Freiheit und eine Auskunft.
„Die Menschen oben? Die hatten nur irgendwelche Drogen intus, um mit ihrem Leben klar kommen zu können. Mach dir keine Gedanken um die. Die unten? Wahrscheinlich eine Hure mit ihren Unfällen, die sie jetzt durchfüttern muss. Was hast du in dem Zimmer gemacht?"
Erneut waren seine Lippen ein blutleerer Strich und seine Hände so viel interessanter als Chanders Gesicht. „Ich habe versucht, dem Jungen zu helfen. Allerdings bin ich kein richtiger Arzt. Ich habe seine Schmerzen lediglich gelindert."
„Mich hast du doch auch zusammengeflickt?"
„Ich kann Wunden heilen, aber keine Krankheiten."
„Gut zu wissen."
Anatol drehte den Kopf ruckartig zu ihm. Erst sagte er nichts, dann: „Ich würde diesen Menschen gerne helfen." Das war nicht das, was ihm auf der Zunge lag, da war sich Chander sicher.
„Das kannst du nicht. Es ist nicht nur dieses eine Haus, in dem das Elend lebt. Alles ist vergiftet in dieser Stadt. Du hast doch gar keine Ahnung von irgendetwas hier in der realen Welt. Aber du kannst mir helfen. Mach den Wagen an. Bitte."
Mit hängenden Schultern tat er wie geheißen.
„Danke. Ich will so viel Abstand zwischen mich und die Erzengel bringen wie möglich."
„Erzengel?" Der Reine klang nicht mal interessiert.
„Eine Spezialeinheit. Michelle, Raphael, Gabby und Yuri. Bevor du fragst: Es sind nur Decknamen."
Anatol sah weiter aus dem Fenster.
„Sie haben mich damals geschnappt", fügte Chander an, bevor er es ebenfalls aufgab, Konversation zu betreiben.
Mit einem Ruck fuhr der Reine hoch, presste sein Gesicht an die Scheibe und drehte sich im Sitz nach hinten.
„Was? Anatol. Was hast du gesehen?"
„Doktor Brandt." Verwunderung und eine Art Freude ließen seine Stimme höher klingen.
„Und wer ist das?"
„Der oberste Wissenschaftler Schrägstrich Betreuer bei mir zuhause."
„Schön", sagte Chander. „Bald sind wir genug für eine Party. Für die Zukunft: Wenn du jemanden siehst, den du kennst, versteckst du dich. Und setze deine Magie nicht so unbedacht ein, versuche, unauffällig zu bleiben."
„Verstanden. Tut mir leid." Die Lippen des Reinen deuteten ein Lächeln an, aber es wackelte wie ein Kartenhaus in einer sanften Brise.
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