꧁16꧂
Ich laufe bereits seit einer halben Stunde wie ein Irrer durch meine Wohnung.
„Kannst du damit bitte aufhören?" Dan klingt gereizt. Ich ignoriere ihn- wie die letzt dreißig Minuten.
Er steht auf und packt mich am Arm. "Bro, was ist los?"
Ja verdammt. Was ist eigentlich mein Problem? Ich weiß es selber nicht genau, nur, dass Lee eine große Rolle spielt. Oh man, ich führe mich echt erbärmlich auf.
„Es ist n..."
„Wenn du mir sagen willst, dass nichts los ist, dann haue ich dir eine runter." Er mustert mich mit wachsamen Augen. „Ich bin dein Freund, du kannst mit mir reden."
Ich reiße mich von ihm los und lasse mich auf die Couch fallen. Warum wollen auf einmal alle mit mir reden?
„Ich habe selber nicht den geringsten Schimmer, warum ich mich so aufrege."
Dan geht zum Kühlschrank, holt Zwei Bier und lässt sich neben mich fallen. Wir stoßen an und ich warte, bis sich das betäubende Gefühl in mir ausbreitet.
Dan räuspert sich. „Also. Spinnt mein Menschenverstand oder leistet Ayleen einen großen Beitrag zu deiner... Crises."
„So offensichtlich?", frage ich obwohl es offensichtlich ist.
„Ja, Mann," er nickt. „Sehr offensichtlich."
„Was verstehst du unter Komm schon, Lee. Du musst dich mal wieder... fallen lassen und Wir haben uns viel zu lange nicht mehr unterhalten?" Meine Imitation von Reed ist echt miserabel.
„War es ein Kerl oder eine Frau?"
Ich seufze. „Ein Kerl."
„Oh verdammt." Er zieht theatralisch die Luft ein. „Das bedeutet in deinem Fall nichts Gutes. In seinem...vermutlich schon."
„Danke für deine Feinfühligkeit." Den Sarkasmus in meiner Stimme versuche ich gar nicht erst zu verstecken. Daran zu denken, wie sie die Nacht miteinander verbringen ist scheiße.
„Wo ist sie?", fragt Dan.
Ich lasse meinen Blick auf die Wanduhr fallen. Es ist halb Elf. Na toll. Es kann sein, dass der Alkohol dafür verantwortet ist, aber ich spiele mit dem Gedanken die Party zu crashen. Es passt nicht zu mir. So garnicht. Aber wenn ich mir vorstelle wie Lee ihre Zeit mit einem anderen Typen verbringt, gefällt mir dieser Gedanke nicht. Mir ist klar, dass sie beliebt und das komplette Gegenteil von mir ist, aber dieses unangenehme Gefühl verschwindet trotzdem nicht.
Sie ist viel zu gut für einen Deppen wie Reed. Oder jeden anderen auf dieser Party. Es ist zum kotzen.
„Sie ist auf einer Party.", beantworte ich etwas zu spät seine Frage.
Dan blickt mich mitfühlend an. „Was wirst du tun?"
„Nichts. Wir starten jetzt eine neue Folge Modern Family, um auf andere Gedanken zu kommen." Dan startet die Serie aber ich bekomme kaum etwas mit. Mein Blick fällt stattdessen auf die erste Ausgabe von Stolz und Vorurteil. Ich habe alle Zitate markiert, mit denen ich mich identifizieren kann. Sie waren nur für mich gedacht. Lee hat sie gelesen. Ich konnte es in ihrem Ausdruck erkennen, als sie mir das Buch zurückgegeben hat. Sie denkt bestimmt, ich wäre verrückt. Der restliche Nachmittag war trotz all der Menschen schön. Bis Reed die Stimmung zerstört hat. Ich kann ihn nicht leiden.
„Du guckst ja nichtmal hin." Dan sieht mich abschätzend an.
„Sorry, irgendwie ist heute nicht mein Tag. Morgen fahre ich das erste mal seit Zwei Jahren wieder Bus."
Sein Kopf dreht sich reflexartig zu mir um. „Im Ernst? Meinst du, es ist die richtige Entscheidung?"
„Ich denke schon." Eigentlich, bin ich mir nicht sicher, ob ich bereit bin, aber ich kann mich nicht länger verstecken und zurückziehen. Ich will leben.
„Wenn du meine Hilfe brauchst, kannst du mich anrufen."
„Danke Dan."
Zehn vor Zwölf. Seit beinahe 2 Stunden ist sie auf dieser dämlichen Party und es macht mich verrückt. Warum verdammt? Ich verabschiede mich und ziehe mich in mein Zimmer zurück. Die Stille umhüllt mich aber an Schlaf ist nicht zu denken. Wenn ich schlafe, dann suchen mich Erinnerungen in Form von Albträumen auf. Sie...
Das Klingeln des Handys unterbricht meine Gedanken. Mein Herz zieht sich zusammen sobald mir Wonder Woman Lee entgegenleuchtet. Ist etwas passiert? Bereits nach dem dritten Klingeln nehme ich ab.
„Lee alles in Ordnung? Ist etwas passiert?"
Für einen Augenblick bleibt es auf der anderen Seite der Leitung still. „Lee?"
„Iss mir ungenehm." Sie lallt. Gar nicht gut.
„Wo bist du?", frage ich.
„Dassis es jah." Schluckauf unterbricht sie. In einer anderen Situation hätte ich es süß gefunden. Doch gerade stellen sich alle meine Haare auf.
„Ich jab keeeine Ahnung."
„Wie, du hast keine Ahnung?" Ist das ihr Ernst? Langsam mache ich mir echt Sorgen.
„Irgndwo im Nirgndwo. Alls ssieht gleich auss. Häuser, Häuser Häuser. Übrall Häuser."
„Bist du alleine, Lee?", frage ich paranoid.
Sie lacht ironisch. „Jah." Wieder unterbricht sie ihr Schluckauf. „Isch wurde eeinfach rusgesmissen. Mir'is kalt."
„Von der Party?", harke ich nach, denn so habe ich Lee noch nie erlebt.
Sie seufzt. „Nein, du Dummerschen. Aus'er Wonung vonnem Typn."
Wut brodelt ihn mir hoch und ich muss mich beherrschen nicht aufs Handy einzuschlagen. Ich renne Richtung Wohnungstür ohne Dans fragenden Blick zu beachten. Ich habe gerade andere Sorgen. Aus dem Kühlschrank hole ich eine Wasserflasche und schnappe mir Zwei Aspirintabletten.
„Schicke mir sofort deinen Standort. Ich komme und hole dich ab." Sie ist eine aufgebrezelte, junge Frau, alleine um Mitternacht in dunklen Straßen. Wenn das mal gut geht. In den meisten Fällen nämlich nicht. Andauernd wird in den Nachrichten über missbrauchte Frauen berichtet, die auf offener Straße von abartigen Männern überfallen wurden.
Und so wie Lee wahrscheinlich aussieht, kann ein alkoholisierter und notgeiler Mann mit Sicherheit seine Finger nicht bei sich behalten. Ich weiß wie Männer ticken. Ich bin schließlich selbst einer.
„Okäy. Wahte."
Mein Handy vibriert und Lees Standort erscheint vor meinen Augen. Sie befindet sich Zehn bis Fünfzehn Minuten von meiner Wohnung entfernt, relativ weit von der Uni.
„Ich bin ich Zehn Minuten da. Bewege dich nicht vom Fleck."
Ich lege auf und steige in den Wagen. Mein Handy vibriert erneut. Es ist wieder Lee.
„Henny?"
Alarmiert halte ich inne. „Lee?"
„Kannssu am Handy bleiben und einfach schweign?" Sie atmet durch. „Isch' hab Angs im dunkln." Mein Herz zieht sich augenblicklich zusammen.
„Natürlich." Ich drücke aufs Gas und überfahre mindestens Vier rote Ampeln, der Verkehr gegen Mitternacht hält sich zum Glück in Grenzen. Auf der ganze Fahrt sagt niemand ein Wort. Einzig Ayleens regelmäßige Atemstöße verhindern, dass ich meine Kontrolle verliere.
Von weitem erkenne ich Lees schlanke, kurvige Figur, in einem marineblauen Minikleid. Ihr Anblick verschlägt mir die Sprache und mein Puls beschleunigt sich. Ihre Schminke ist verschmiert und die schwarzen Waschbäraugen blicken düster drein. Mein Wagen hält direkt vor ihr. Sie reißt die Tür auf und lässt sich tief in den Sitz sinken.
„Danke, Henry. Danke." Ihre Stimme hört sich ein wenig deutlicher an.
Ich reiche ihr die Tablette zusammen mit der Wasserflasche damit sie schneller ausnüchtert.
„Hier. Trink!" Sie gehorcht und leert die Flasche in einem Zug. „Was zum Teufel ist passiert?"
„Ein Typ hat mich mit zu sich nach Hause genommen. Um zu chillen. Er wollte aber nicht chillen. Er wollte mit mir rummachen." Meine Hände krampfen sich ums Lenkrad. „Ich hatte heute keine Lust und er hat mich betrunken rausgeschmissen."
Auch wenn es in dieser Situation nicht angemessen ist, bin ich erleichtert, dass es zu nichts Ernsterem zwischen diesem Typen und Lee gekommen ist. „Ich fühle mich erbärmlich." Es ist schwer, ihre Worte deutlich zu verstehen.
„Geht es dir ansonsten gut? Hat er dir etwas angetan?" Sie schüttelt den Kopf und ich starte den Motor um sie zu ihrer Verbindung zu bringen. Ihr vor Kälte zitternder Körper bebt und ich reiche ihr meinen Hoodie, den sie sich sofort überstreift.
Die fahrt verläuft größtenteils in angenehmen Schweigen. Ich würde sie gerne ausfragen und wissen, wer der Kerl war, lasse sie in diesem Moment aber lieber schlummern.
Das Auto hält vor ihrer Verbindung. Lee schläft. Ein stetiger Rhythmus lässt ihren Brustkorb gleichmäßig bewegen. Ihr Gesicht ist ganz entspannt. Lee sieht aus wie eine brünette Version von Dornröschen mit verschmierter Schminke. Ich nutze die Chance um sie zum ersten Mal genauestens zu mustern. Ihr Mund steht leicht offen und ihre Augenbrauen sind nach oben gezogen. Leichte Sommersprossen, die mir bis jetzt nie aufgefallen sind, verzieren ihr Gesicht und lässt es süß aussehen. Ihr Haar fällt in Wellen über ihre Schultern, wobei sie in meinem Pullover zu versinken droht.
„Wir sind da, aufwache du Schnapsdrossel", wecke ich sie sanft aus dem Schlaf. Ihre verschlafenen Augen öffnen sich und sie starren direkt in mein. Es ist dieselbe Situation wie auf der Tribüne. Mit dem Unterschied, niemanden in der nähe zu haben, der uns stören könnte. Ihre Augen wandern für einen flüchtigen Moment zu meinen Lippen.
Sie ist sturzbetrunken, deswegen bin ich der Vernünftige und räuspere mich. „Wir sollten dich nach oben bringen."
„Das sollten wir wohl.", flüstert Lee.
Ich helfe ihr beim aussteigen und schlinge einen Arm um ihre Taille, damit sie nicht auf der Stelle umkippt. Ihre Schritte sind wackelig, gibt sich dennoch mühe relativ gerade zu laufen. Meine Finger berühren den kleinen Streifen nackte Haut an ihrem Nacken. Ist es Einbildung oder breitet sich im selben Moment eine Gänsehaut auf ihrem Körper aus?
Im Wohnzimmer sitzen die restlichen Mitbewohner. Sie gucken Die Tribute von Panem und werfen uns fragende Blicke zu, die wir einfach ignorieren. Oben angekommen schließe ich ihre Tür auf, da ich bezweifle dass Lee überhaupt das Schlüsselloch finden würde. Lees Zimmer ist größer, als ich es mir vorgestellt habe. In der Mitte steht ein großes Doppelbett mit weichen, vielversprechenden Kissen, die einen regelrecht einladen, sich fallen zu lassen. Ein prall gefülltes Bücherregel dekoriert die Wand und ein schicker Schreibtisch steht vor dem Fenster mit weißen Vorhängen. An der gegenüberliegenden Wand hängen mindestens Dreißig Bilder von Lee und ihren Freunden, die ich gerne näher ansehen will. Aber zuerst muss ich mich um Lee kümmern, die sich wortlos auf ihr Bett fallengelassen hat.
„Willst du im Kleid schlafen?",frage ich amüsiert.
„Mhhh..." Mit ein paar geübten Handgriffen streift sie ihr Kleid ab, ohne meinen Hoodie dafür ausziehen zu müssen und lässt sich wieder nach hinten Fallen. Wie hat sie das geschafft?
Ich stehe etwas fehl am Platz neben der Tür und möchte mich gerade abwenden.
„Lege dich zu mir", höre ich ihre leise und raue Stimme.
Perplex starre ich ihre Silhouette an. „Was?"
„Du hast schon richtig gehört. Ich möchte gerade nicht allein sein und du bestimmt auch nicht." Unschlüssig setze ich mich neben Lee.
„Jetzt mach schon!" Ihre Stimme klingt amüsiert. „Du brauchst nicht schüchtern sein."
„Ich bin nicht schüchtern."Die Antwort kam zu schnell, um glaubhaft zu klingen. Ich lege mich mit verschränkten Armen neben sie auf die Decke. „Lee?"
„Ja?"
„Ich wollte nur wissen ob du schon eingeschlafen bist."
Sie schnaubt. „Wartest du darauf dich rausschleichen zu können?"
„Nein. Ich möchte dich was fragen."
„Und das wäre?" Ihre Stimme ist dank der Aspirin und des Wassers deutlicher geworden. Sie ist also nüchtern genug um mir Fragen zu beantworten.
„Wo waren Ella und Patrik?"
„Patrik?" Ihr Körper bebt neben mir und ich spüre jede einzelne Regung. „Du meinst Peter. Sie sind noch auf der Party und haben mindestens so viel wie ich getrunken. Wenn nicht, dann noch mehr. Sie hätten mich trotzdem abgeholt aber ich wollte nicht, dass sie betrunken Auto fahren. Und da du eh die ganze Zeit in meinen Gedanke spukst, habe ich deine Nummer gewählt. Et voilà."
Sie hat den ganzen Abend lang an mich gedacht? Ich freue mich darüber. Bin ich jetzt ein schlechter Mensch? Lee hat wahrscheinlich gar nicht gemerkt, dass sie die Worte laut ausgesprochen hat. Aber es ist mir egal.
„Danke." Ihr Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern.
„Du hast dich schon im Auto bei mir bedankt." Wir legen uns beide auf die Seite und blicken uns direkt an.
„Ich meine für alles. Auch, dass du bei mir bleibst." Eine Haarsträhne fällt in ihr Gesicht und ich streiche sie ihr hinters Ohr.
„Kein Ding. Und jetzt schlaf, sonst hast du morgen Früh deinen Kater des Lebens."
Sie lächelt mich an und schließt ihre Augen. Ich nehme mir vor noch eine halbe Stunde bei ihr zu bleiben und anschließend nach Hause zu fahren. Doch schon nach Zehn Minuten passiert etwas seltenes. Das Erste mal nach Zweieinhalb Jahren. Meine Augen werden schwer und ich gleite in einen tiefen, angenehmen Schlaf.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro