2.
19:00
Alexandra
Der Raum war fast vollkommen Dunkel, seit die Sonne untergegangen war schien nur noch ein kleines bisschen Licht durch das Fenster.
Sanft und bedacht führte ich meinen Bleistift über das Papier.
In der Dunkelheit ließ es sich am besten zeichnen.
Das Ergebnis war kaum auszumachen und dennoch wusste ich, dass ich soeben etwas erschuf.
Schön oder Hässlich?
Gut oder Böse?
Das war die einzige Frage.
Über meine Kopfhörer ertönten die Töne einer Geige, die restlichen Streicher setzten ein, bis schließlich das ganze Orchester erklang.
Die eigentlich leise Musik war laut gedreht und schottete mich so völlig von der Außenwelt ab.
So war es am einfachsten.
Ich musste nicht darauf achten, was andere sagten oder taten, ich konnte verschwinden ohne eine einzige Bewegung.
Es gab mir die Freiheit die ich nie gehabt hatte.
Meine Eltern dachten, ich wäre hier entspannt auf der Weihnachtsfeier und würde mich amüsieren, bis ich um 22:15 Uhr die Linie 4 nach Hause nehmen würde.
In Wahrheit hatte ich mich direkt nach meiner Ankunft hier alleine in ein abgeschiedenes Klassenzimmer zurückgezogen.
Und da fast mein gesamtes Taschengeld letzte Woche für neue Aquarellfarben draufgegangen war, würde ich wohl zurück laufen müssen.
Allerdings machte mir das wenig aus.
Allein sein war vermutlich das Beste, das mir passieren konnte.
Und ein kleiner Spaziergang half, den Kopf frei zu bekommen.
Ich warf einen Blick auf mein Handy und übersprang ein Lied.
Doch die kurze Stille kam mir irgendwie merkwürdig vor.
Ich zog meine Kopfhörer ab und lauschte.
Noch immer herrschte vollkommene Stille.
Dabei müsste draußen der Teufel los sein, so wie jedes Jahr.
Erneut sah ich auf mein Handy, es war erst 19:17.
Verwirrt packte ich meine Bilder zurück in meinen Block und diesen samt meiner Stifte in den Rucksack. Dann ging ich zur Türe und warf einen vorsichtigen Blick nach draußen.
Der Gang war menschenleer.
Stattdessen lagen über den ganzen Boden verteilt Taschen, Handys, Geldbeutel, Jacken und alles möglich andere.
Zögerlich trat ich aus dem Klassenzimmer und hinaus auf den Gang, den Rucksack locker über einer Schulter.
Ein Schauer jagte mir über den Rücken.
Ich hatte das Chaos hier immer gehasst, doch das hier machte mir Angst.
Es war, als wäre die ganze Welt außerhalb des Klassenzimmers einfach ausgelöscht worden.
Ich zitterte und musste mich an der Wand abstützen.
Für einen Moment verschwand alles um mich herum.
Es fühlte sich an, als kämen die Schatten um mich näher, zögen sich zusammen.
Ich drückte mich näher an die Wand, dann reagierte mein Körper reflexartig.
Ich rannte los.
Es dauerte eine Ewigkeit, bis ich endlich eine Türe nach draußen fand.
Ich stürzte in die kalte Abendluft, atmete tief ein und lief dann weiter.
Quer über den Pausenhof, durch das Tor und direkt in die Arme eines Mädchens.
Ohne nachzudenken klammerte ich mich an ihr fest.
Die Tränen liefen über mein Gesicht, dann wurde plötzlich alles schwarz wurde.
Als ich die Augen öffnete, lag ich in einem Haufen auf Decken, eine Wärmflasche im Arm und Stille um mich.
Ein Mann trat zu mir, redete auf mich ein, obwohl ich ihn doch kaum hören konnte.
"Du...wo... Gebäude."
"Was?", fragte ich und setzte mich langsam auf.
"Wo warst du die ganze Zeit?", wiederholte er und überprüfte meinen Puls. Für einen Moment wollte ich den Arm wegziehen, dann riss ich mich jedoch zusammen.
Erst jetzt bemerkte ich seine Kleidung, nach der er wohl ein Sanitäter oder Arzt war. "Du kannst einfach aus den Gebäude gerannt, fast zwei Stunden nachdem die Schüsse gefallen waren. Da fragen wir uns natürlich, wo du herkamst."
"Schüsse?", fragte ich verwirrt. "Da waren keine Schüsse, da waren nur Schatten. Ich kam aus dem Klassenzimmer und da waren Schatten, alles war ruhig und ich hatte Angst. Also bin ich gerannt."
Er runzelte die Stirn, sagte aber nichts dazu.
Ich verstand nicht, was hier vor sich ging.
"Deine Eltern wurden bereits informiert, sie sind unterwegs", erklärte er mir dann. "Wir werden nur kurz mit ihnen reden müssen, da es dir aber soweit gut geht kannst du dann vermutlich nach Hause."
Ich nickte und er verließ das Zelt.
Mein Rucksack stand direkt neben meinen merkwürdigen Lager und ich überprüfte zuerst, ob noch alles da war. Anscheinend hatten die Rettungskräfte nichts angerührt außer meinen Ausweis, der zum Glück im Geldbeutel und somit ganz oben gelegen hatte.
Ich legte alles zurück an seinen angestammten Platz und verschloss den Reißverschluss.
Draußen hörte ich die Stimme meiner Mutter, dann meinen Vater, der auf den armen Sanitäter einredete.
Ich konnte mir die Situation bildlich vorstellen: Der Sanitäter, der nur versuchte, die ganze Sache zu erklären, mein Vater, der natürlich wütend war, und meine Mutter, zwischen den beiden Parteien hin- und hergerissen.
Ich beschloss, die Debatte zu beenden, nahm meinen Rucksack und setzte die Kapuze meines Hoodies auf, um das Zelt zu verlassen.
Draußen war es bereits dunkel, doch das Licht von Straßenlaternen tauchte die Szenerie in ein merkwürdiges Licht.
Das Zelt, in dem ich gelegen hatte, stand auf einer Wiese ein Stück vom der Schule entfernt, und es war nicht das einzige.
Meine Mutter rannte sofort auf mich zu und nahm mich in den Arm.
"Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht!", rief sie. "Als wir angerufen wurden sind wir so schnell wie möglich gekommen und dann wurde uns gesagt du seist ohnmächtig und..."
"Mir geht es gut", unterbrach ich sie und machte mich los. Ich mochte es nicht, wenn andere mich auf irgendeine Art und Weise festhielten, und das wusste sie auch genau!
Mein Vater ließ endlich von dem Sanitäter ab.
"Können wir bitte einfach gehen? Ich bin nicht verletzt oder so."
"Aber...", wollte mein Vater widersprechen, als der Sanitäter sich zu Wort meldete. Er wirkte von der ganzen Situation irgendwie überfordert und ich verspürte Mitleid mit ihm.
Ich kannte das Gefühl nur zu gut.
"Sie hat recht, inzwischen geht es ihr wieder einwandfrei. Sie müssten nur die Papiere unterzeichnen und könnten gehen."
"Sie verstehen nicht!", begann meine Mutter. "Sie ist... Sie hat eine Art..."
Meine Mutter stotterte hilflos vor sich hin, wobei sie immer wieder zu mir herüberschaute.
"Es handelt sich um eine soziale Störung, bei der der Betroffene nur selten Kontakt zu anderen aufnimmt und sich lieber zurückzieht", fuhr mein Vater fort. "Wir konnten Alexandra zwar an ein normales Gymnasium zu schicken, allerdings war es...nicht immer einfach. Ereignisse wie das heutige können Folgen haben, die nur sehr schwer einzuschätzen sind und..."
"Können wir bitte endlich gehen?", bat ich mit zitternden Stimme. "Ich will einfach nur nach Hause."
Meine Eltern wechselten einen besorgten Blick, dann nickten sie.
"Na gut, ich unterschreibe nur noch schnell die Papiere. Schatz, hol du doch bitte das Auto vom Parkplatz", schlug mein Vater vor.
Ich blieb alleine mit dem Sanitäter zurück, der sich wohl genauso unwohl fühlte wie ich.
"Es tut mir leid falls ich irgendetwas falsches gesagt habe...", setzte er an, gleichzeitig mit meinem:"Ich wollte nicht so viele Umstände machen."
Er lachte, und auch mir entlockte es ein leichtes Lächeln.
"Ich habe die Zeichnungen in deinem Rucksack gesehen. Sie sind gut."
Zuerst erschrak ich, doch dann dachte ich daran, dass es vermutlich keine Absicht gewesen war. Er hatte nur nach meinem Ausweis gesucht.
Also sagte ich nur:"Danke."
Meine Eltern kamen zurück und wir gingen zum Auto.
Auf halben Weg drehte ich mich noch einmal um und winkte dem Sanitäter.
Er lächelte und winkte zurück.
Als nächstes lag ein langes Gespräch mit meinen Eltern vor mir und vermutlich eines mit meinem Psychologen.
Aber die Schatten waren für den Moment nur noch Geister meiner Fantasie.
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