
𝚔𝚊𝚙𝚒𝚝𝚎𝚕 3.1
7. März, 11:17 Uhr, Polizei Revier, Halcolne
Der hochgewachsene, athletische Junge betrat den Verhörraum und setzte sich wortlos Kilian gegenüber. Bisher verstand letzterer nicht, was dieser als einziger Mitschüler hier verloren hatte. Schließlich hieß es, Alice hätte keinerlei Freundschaften oder sonstige Kontakte in der Schule gepflegt.
„Darf ich fragen, wie du... Sie heißen?" Auch wenn sich in Kilian das Verlangen ausbreitete, den Schüler zu duzen, musste er es dennoch zurückhalten. Das war nicht seine Tochter oder eine ihrer Freundinnen. Er konnte nicht einfach ungehalten irgendwelche unüberlegten Wörter hinausposaunen. Er war Polizist. Beamter. Und damit irgendwie auch eine Respektsperson, die gewisse Erwartungshaltungen zu erfüllen hatte.
„Adrian. Adrian Clarke, wenn Sie es genau haben wollen." Im Gesicht des Jungen regten sich keinerlei Emotionen. Kilian konnte lediglich die Bewegungen der Muskeln wahrnehmen. Sonst war alles weitere an Adrian starr.
Im Hintergrund ertönte wieder das vertraute Tippen gemischt mit der Hektik, nichts zu vergessen. Maeve hatte sich bereits ans Werk gemacht, die nun folgenden Aussagen Adrians mitzuschreiben, um sie für spätere Überlegungen bereitzuhaben.
„Sie müssen mich übrigens nicht siezen. So alt bin ich noch nicht.", fügte Adrian hinzu, nachdem Maeve hinter ihm fertig getippt hatte und eine unangenehme Stille den Raum zu erfüllen drohte.
„Okay." Was wollte Kilian auch sonst darauf antworten?
„Wie alt bist du denn?", fügte er noch hinzu, um nicht uninteressiert zu klingen.
„Siebzehn. In circa sechs Monaten Achtzehn." Ein kurzer Gedankenblitz durchschoss Kilian. Er war im selben Alter wie seine Tochter. War es möglich, dass sie sich sogar kannten?
Statt eine belanglose Frage zu stellen, die nicht in diesen Raum gehörte, atmete er ein weiteres Mal tief durch und beschloss anschließend, direkt zur Sache zu kommen. Er wollte wissen, was dieser Junge hier zu suchen hatte und in welcher Beziehung er zu Alice und vielleicht auch zu seiner Tochter stand.
„Du weißt, warum du hier bist, nehme ich an?"
„Natürlich. Ich möchte aussagen."
„Für?"
„Gegen. Gegen Alice."
Es waren zwei winzige Worte, die durch die Luft geschossen wurden wie Kanonenkugeln und obendrein eine ähnliche Wirkung hinterließen. Erschrocken wandte sich Kilian zu Maeve um, doch ihre moosgrün schimmernde Iris wies ihn stumm dazu an, das Gespräch umgehend weiterzuführen.
„Wa- Warum?"
„Weil sie eine eiskalte und gewissenlose Mörderin ist. Das sollten Sie mitbekommen haben. Jedenfalls gehe ich davon aus."
Ja, Kilian, Maeve – sie alle wussten, welche grausamen Tatsachen Alice Mayberry begangen hatte. Worauf wollte er hinaus?
„Selbstverständlich ist uns das bewusst. Kanntest du Alice näher, wenn ich fragen darf?"
In den finsteren, fast schwärzlichen Augen fand sich keinerlei Freude oder Hoffnung wieder. Ihnen konnte lediglich purer Hass und Verachtung abgelesen werden. Doch diese Gefühle galten nicht Kilian, sondern einem Mädchen, welches nicht hier war und sich damit auch nicht selbst verteidigen konnte.
Auf der anderen Seite meinte Kilian zu erkennen, dass dieser Junge aus Verzweiflung handelte. Zwischen ihm und Alice musste es eine besondere Verbindung geben. Er war mehr als ein ganz normaler Mitschüler, der gegen eine Verbrecherin aussagen wollte. Warum wollte er das überhaupt tun? Es würde ohnehin Anklage erhoben werden. Jeder normale Mensch konnte sich das denken.
„Wahrscheinlich wird es Sie überraschen, aber ich war vermutlich die einzige Person, die in der Schule je ein freundliches Wort mit Alice gewechselt hat. Nicht, weil sie mir übermäßig sympathisch war. Der schlichte Grund ist, dass wir Banknachbarn waren. In jedem verdammten Schulfach."
Und was brachte nun einen freundlichen Banknachbarn dazu, gegen eine Mitschülerin auszusagen?
„Wenn du so freundlich zu ihr warst, verstehe ich allerdings nicht, warum du nun gegen sie aussagen und sie noch zusätzlich belasten möchtest. Denkst du nicht, dass da schon genügend passiert ist?", hakte Kilian nach, weil er die Zusammenhänge noch immer nicht verstehen konnte.
„Genügend passiert?" Adrian lachte übertrieben laut auf und schüttelte verständnislos mit dem Kopf, sodass sein kastanienbraunes, hauchdünnes Haar aufwirbelte. Er war der erste Verhörte heute, dem eine gewisse Stimmung angemerkt werden konnte. Mutter und Schwester hatten nur mehr oder weniger stumm auf ihren Stühlen gesessen und jegliche Fragen seinerseits beantwortet. Bei Adrian war das anders. Es gab etwas, das ihn sehr beschäftigte und zu zerfressen drohte, weshalb er hier sehr empfindlich und reizbar auftrat. Da war sich Kilian äußerst sicher. Wenn er jetzt mit Maeve allein reden könnte, würde sie vermutlich zu einhundert Prozent dasselbe behaupten wie er.
„Am Anfang hatte ich noch Mitleid mit Alice. Wissen Sie, sie tat mir manchmal echt leid, wenn ich gesehen habe, wie manche Leute dieser Schule mit ihr umgegangen sind. Wir saßen mehrere Jahre nebeneinander und irgendwann hab dann auch ich gemerkt, wie komisch sie eigentlich ist."
„Inwieweit meinst du ‚komisch'?", hakte Maeve hinter Kilian nach und unterbrach kurzzeitig das dauerhafte Tippen am Laptop.
„Naja... Ich weiß nicht... Ich hab echt versucht, mich ab und zu mit ihr zu unterhalten, damit sie nicht denkt, dass wirklich keiner sie mag. Aber seit ein paar Wochen ist sie ganz komisch geworden und hat auch aufgehört, mit mir zu reden. In der Schule hat sie nur noch geredet, wenn sie dazu aufgerufen wurde. Sonst war sie vollkommen verschwiegen und hat jeden ignoriert, der versucht hat, sie anzusprechen. Auch mich."
„Und was bringt dich nun dazu, zusätzlich gegen sie auszusagen?"
Adrian ließ seinen zuvor konstant auf Kilian ausgerichteten Blick nach unten absinken. An seinem Hals konnte er den Schluckreflex erkennen. Ein Zeichen, dass der Junge wohl die Worte in seinem Kopf zurechtlegte. Es fiel ihm offensichtlich nicht leicht, das Reden wieder zu beginnen.
„Was sie getan hat, war einfach nur unfair und hinterhältig", begann der Junge, während seine Stimme bebte und jederzeit zu verstummen drohte. „Ich verstehe Verzweiflungstaten von Menschen, die ständig gemobbt und niedergemacht werden. Genau das ist Alice passiert und das will ich nicht schönreden. Viele Sachen, die Reyna und die anderen so im Laufe der gemeinsamen Schullaufbahn von sich gegeben haben, sind schon weit unter der Toleranzgrenze, aber..."
„Warum hast du dann nichts unternommen?" Nervös begann Kilian mit seinem Kuli zu spielen, wobei es ihn bei anderen Menschen für gewöhnlich störte, weil er fand, dass man seine Körperkontrolle auch ohne dumme Spielereien behalten konnte.
„Was hätte ich denn allein unternehmen sollen? Denken Sie, die lassen Alice in Ruhe, sobald ich mich dazustelle? Ich bin einer. Einer von hunderten anderen, die genauso hätten einspringen können Das war kein Problem von ein paar Wochen. Schon seit Jahren geht das so. Eigentlich, seit ich mich an die Schule erinnern kann.
Es hätte die Tatsache in keiner Weise geändert, wenn ich versucht hätte zu handeln. Das können Sie mir ruhig glauben, Herr Kommissar."
„Doch, es hätte etwas geändert. Du hättest Alice gezeigt, dass sie nicht völlig allein gelassen wird. Denn genau dieses Gefühl wurde ihr natürlich vermittelt, weil sich jeder von ihr abgewandt hat. Und das aus der peinlichen Angst heraus, vielleicht selbst das Opfer eines Mobbers zu werden." Während Kilians Stimme bedeutend lauter wurde und er sich fast nicht mehr beherrschen konnte, stellte Maeve ihren Laptop beiseite und kam zu ihnen geeilt.
„Bleib ruhig, Kilian. Ich übernehme das."
Für Kilian fühlte es sich wie ein Schlag ins Gesicht an, als Maeve seinen Job übernahm. Nicht, weil er Maeve diese Aufgabe nicht zutraute. Im Gegenteil. Sie war eine sehr intelligente und talentierte Frau.
Aber er war der Kommissar. Er war verantwortlich. Und er hatte nicht die Kontrolle zu verlieren und darüber hinaus einen Jugendlichen anzubrüllen.
„Gibt es noch etwas, das du sagen möchtest? Etwas, das zur Aufklärung und zum besseren Verständnis des Falls beiträgt?" Sie machte das so professionell. Ihr war deutlich anzumerken, dass sie genau wusste, was zu sagen und zu tun war. Ganz im Gegensatz zu Kilian. Vielleicht war es doch an der Zeit, dass er sich eingestand, dass der Fall ein wenig zu persönlich für ihn war.
„Ich möchte, dass Alice eine gerechte Strafe erhält. Ich kann verstehen, dass sie verzweifelt war, aber das gibt ihr nicht das Recht, unschuldige Menschen zu töten."
Weder Maeve noch Kilian hatten die Zeit um auf diese Aussage zu antworten, denn Adrian hatte bereits sein Handy aus der Tasche gezogen und zeigte ihnen das Bild, welches er als Sperrbildschirm verwendete.
Darauf zu sehen war Adrian selbst, wie er einen weiteren Jungen zärtlich im Arm hielt. Um sie herum wirbelte der Schnee auf und hatte die Landschaft in ein wahres Winterwunderland verwandelt. Kilian konnte sich die folgenden Worte fast denken, bevor Adrian sie aussprach.
„Wissen Sie, wer das ist? Das war Connor, mein Freund. Wir waren seit zweieinhalb Jahren zusammen. Er war der wahrscheinlich freundlichste und aufrichtigste Mensch, den es je geben wird und er hat nie ein schlechtes Wort verloren oder eine schlechte Tat begangen. Und trotzdem musste er sterben. Weil ein Mädchen durchdreht?"
Schlagartig liefen nun in Tränen ganzen Strömen aus Adrians Augen und tropften nach und nach auf den kobaltblauen Hoodie, den er trug. Sein Gesicht rötete sich augenblicklich und er sprang von seinem Platz auf.
„Alles was ich will ist Gerechtigkeit! Gerechtigkeit für Connor und all die anderen, die es nicht verdient haben zu sterben", schluchzte er und konnte die Kontrolle über seinen zitternden Körper nicht länger behalten. Vorsichtig sackte er auf den Boden zusammen und weinte einfach weiter. Jedem anderen Jugendlichen wäre es peinlich gewesen, seine innersten Emotionen vor Erwachsenen herauszulassen.
Nun war es Maeve, die mit Adrian überfordert war, da sie selbst kinderlos war und laut eigener Aussage nicht viel mit Gefühlen anfangen konnte. Jetzt war es wieder an Kilian, den Fall zu übernehmen.
Er drängte sich an ihr vorbei, hockte sich neben den Jungen mit der Panikattacke und zog ihn anschließend in eine feste Umarmung. Er ließ alles, was ihn belastete auf den Kommissar sacken.
Dieser versuchte, ihn wieder nach oben in eine stehende Position zu ziehen.
„Er hat das nicht verdient!", schrie Adrian, doch Kilian strich vorsichtig über seinen Kopf, um ihn irgendwie zu beruhigen. Eine so große Ahnung hatte er von Kindern und Teenagern ebenfalls nicht.
„Er war doch erst sechzehn!"
Maeve hingegen öffnete hektisch die Tür und half Kilian anschließend, den gebrochenen Jungen zu stützen und aus dem Raum zu führen.
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