Ⅴ : Kuscheln am Mäandermeer
Es war angenehm warm. Die Schmerzen waren verschwunden,
doch ein Gefühl der Leere hatte sich an ihrer statt in ihre Brust gekrallt.
Sie tastete nach der Wunde. Sie war geheilt. »Nur eine Narbe mehr ...«, dachte sie sich. Sie tastete weiter. »Nackt. Schon wieder nackt!«
Die schönen neuen Sachen – einfach wieder weg. Das, was Kiro ihr geschenkt hatte – weg. Dieses Mädchen hatte ihr das genommen.
Als sie ihre Augen öffnete, war alles um sie herum in einen blauen Flammenschleier gehüllt.
Ihre Hände schoben sich langsam über den scharfkantigen Rand ihres rostigen Gefängnisses. Dann zog sich das Flammenkind langsam daran empor.
Als sie nur knapp über die Kante spähen konnte, verharrte sie in dieser Position. Sie konnte Kiro gut erkennen. Er trug jetzt den dunkelgrauen Mantel eines Dra'ák-Exsecutors. Merkwürdig war, dass es ihr auf gewisse Weise sogar gefiel. Er stand ihm gut; machte ihn irgendwie geheimnisvoll ... Was ihr gar nicht gefiel, waren die beiden schlanken Arme, die sich da um seinen Hals schlangen. »Warum sind die beiden so still?« Ganz in Flammenkind-Manier machte sie auf sich aufmerksam, indem sie ihren hitzigen Körper dazu benutzte, den Flammen um sich herum einen ordentlichen Energieschub zu verpassen. Der kleine Feuerball, der dabei über der Tonne entstand, verfehlte seine Wirkung nicht. Die beiden in sich vertieften Menschen zuckten zusammen und drehten sich zu ihr um. Neko entging dabei nicht Tessas unbewusste Geste; sich mit dem Handrücken kurz über ihre Lippen zu wischen.
»Stör ich?«
»Neko!« Kiro ließ Tessa unter dem Apfelbaum stehen und stürzte auf sein Sorgenkind zu. Die gewetzten Blicke, die die Mädchen aufeinander ansetzten, tarnten sich vor ihm in der Dunkelheit. »Ich dachte schon, ich hätte dich ... Du wärst ...« Als er vor ihr stand, startete er den gleichermaßen unbeholfenen, wie auch unüberlegten Versuch, Neko irgendwie in den Arm zu nehmen. Bevor sich jedoch herausstellen konnte, ob er sich für diese Umarmung tatsächlich in das Feuer gelehnt hätte, schubste ihn das Flammenkind mit beiden Händen grob von sich weg. Sie selbst stieß mit dem Rücken an die Innenwand der Tonne.
»Ganz bestimmt nicht! Geh doch zu der da!« Jetzt bekam auch Kiro seine Portion böser Blick. »Sie nutzt doch bloß deine Gabe aus!«
»Hallo? Geht's noch? Immerhin habe ich dich gerade gerettet!«, meldete sich die beleidigte Stimme aus dem Hintergrund. »Wenn, dann bist ja wohl DU diejenige, die hier Kiros Gutmütigkeit ausnutzt und zudem noch sein ganzes Leben verkompliziert!«
»Immerhin HAT er mit mir überhaupt noch die Chance auf eins! Und du bist eine Lügnerin! Von wegen, du lässt ihn in Ruhe ... Außerdem hätte er das auch allein geschafft, mir zu helfen. Es war gar nich deine Aufgabe!«
»Lügnerin?« Jetzt kam Tessa energisch näher. »Ich hatte NIE Geheimnisse vor Kiro. Im Gegensatz zu dir! Was ist an deinem hässlichen Rücken denn so toll? Hm? Wenn du Kiro kennen würdest, dann wüsstest du auch, dass ihm das scheißegal wäre. Er hat selbst seine Narben, die er mit sich rumträgt. Zeig sie ihm doch einfach, du kleiner Feigling!« Jetzt schnellte sie wütend nach vorne, um irgendwie an Nekos Haare zu kommen. Das wollte sie sich nicht gefallen lassen.
Neko griff ebenfalls nach Tessas orangeroter Lockenmähne.
Kiro, der den Zickenkrieg bisher lieber stillschweigend über sich ergehen ließ, reichte es. »SCHWEIGT! Beide!« Er packte sich jeweils ein Handgelenk der Streithennen und versuchte sie zu trennen. Durch ein eher unabsichtliches Teamwork kassierte er jedoch gleich einen doppelten Stoß gegen seine Brust, der ihn rückwärts gegen den hohen Holzstapel stürzen ließ.
Aus dem zusammenfallenden Mikado-Gewirr, zwischen dem sich irgendwo auch ein Azur wiederfand, schnappte sich Tessa blitzschnell einen der großen Äste. Sie benutzte ihn, um Neko in der Tonne zu fixieren, indem sie ihn zwischen den unzähligen Luftlöchern darin verkantete. Sie griff sich noch zwei weitere und wiederholte diese Technik, bis sie ihre Widersacherin nahezu bewegungsunfähig gemacht hatte. Neko versuchte sich mittels einer erneuten Hitzeeruption freizubrennen, scheiterte aber kläglich. Sie war immer noch zu schwach.
»So, Miss Neunmalklug. Wenn, dann wird jetzt jedes Geheimnis gelüftet!«
»Das wagst du nich! Lass das! Ich will das nich!«
Doch Tessa half bereits Kiro wieder auf die Beine und zog ihn am Arm auf die andere Seite der Tonne. »Das ist ihr Geheimnis, Kiro. Sieh hin! Und? Was sagst du jetzt dazu?«
Kiro, der sich noch den Hinterkopf hielt, hatte jetzt den nackten Rücken des Flammenkindes genau vor sich – ob er wollte oder nicht. Tessa, die sich ein selbstgefälliges, fragwürdiges Siegerlächeln nicht verkniff, wartete auf Kiros Reaktion. Neko, die der Situation jetzt hilflos ausgeliefert war, schämte sich zutiefst und hielt sich nur beide Hände vor das Gesicht.
Die schwächelnden Flammen des verlebenden Feuers erleuchteten nun ein grausames Kunstwerk. Jedes helle Aufflackern gebar zahllose dünne Schatten, die die pure Bosheit seines widerwertigen Schöpfungsprozesses tanzend untermalten.
Vom Nacken bis zu ihrem Gesäß zierten unzählige tiefe Narben die Haut auf ihrem schmalen, weißen Rücken. Weder ein Unfall, noch abschreckende Strafe waren dafür verantwortlich. Keine Willkür, sondern eine perfide Absicht ließ sich hinter deren fast geometrischer Anordnung erkennen. Wer immer ihr das angetan hatte, musste sie über quälende Stunden oder sogar Tage hinweg, als lebendige Leinwand missbraucht haben.
Unter Schock sprangen Kiros Augen wild von einem Zeichen zum anderen. Kreise, viele lange, parallel verlaufende Linien, die immer wieder durch einzelne kreuzförmige Einstiche unterbrochen wurden und dutzende Symbole, die wie eine fremdartige Schrift anmuteten.
Die zwei größten, gleichzeitig aber auch hellsten und somit wohl ältesten Narben, jeweils zwischen Wirbelsäule und ihren Schulterblättern, versteckten sich jedoch im Hintergrund des drakonischen Mäandermeeres.
Seine Hände näherten sich, behielten aber einen rücksichtsvollen Abstand bei, während sie über ihre Haut schwebten.
Wenn man ganz genau hinsah, erkannte man einen schwachen, pulsierenden, grüngoldenen Schein in dem Gewebe dieser Entstellungen. Als würde darin etwas fließen.
Das langsam anschwellende, gedrückte Fiepen, das Neko jetzt aus ihrer Brust presste, ließ Kiros Magengegend sofort verkrampfen. Er entfernte schnell die Stöcke, griff der Bloßgestellten unter die Achseln und hob sie aus dem Fass. Er hüllte seine kleine Neko in den schweren grauen Ledermantel und trug sie jetzt schützend auf seinen Armen.
Das herzzerreißende Schluchzen wurde sofort leiser, weil sie ihr Gesicht sogleich in Kiros Pullover vergrub. Dann wandte er sich Tessa zu.
»Was sollte denn der Scheiß? Manchmal kannst du echt ein Miststück sein, weißt du das?«
»Sie hat mich doch provoziert! Und ich kann solch unsinnige Geheimnisse einfach nicht ausstehen! Das weißt du!«
»Na und? Jeder hat nun mal Geheimnisse! Und wer hat dir das Recht gegeben, zu entscheiden, dass sie ihres nicht behalten darf? Findest du das witzig? Hast du ihren Rücken nicht gesehen? Hältst du das für so eine Lappalie, dass sie das gleich jedem offenbaren sollte? Schon mal daran gedacht, dass man ein Geheimnis vielleicht auch bewahren will, um andere zu schützen? Ihnen nicht weh zu tun?«
»Geheimnisse können meiner Meinung nach nur wehtun, wenn man sie zu solchen macht!«
»Ach ja?« Kiro trat wütend einen Schritt auf Tessa zu. »Du wolltest JEDES Geheimnis lüften, hast du gesagt? Gut!? Wie du willst! Da du meine Narben ja schon erwähnt hast: Bei einer, der beiden ganz besonders langen und tiefen, habe ich nur an dich gedacht! Daran bist nur DU schuld! Deshalb konnte ich dir so lange nicht in die Augen sehen! Deshalb würde das mit uns auch nie, NIE mehr funktionieren! Jetzt hast du deine Wahrheit! Und ich hoffe für dich, dass du Recht hast und dir das jetzt üüüberhaupt nicht wehtut! Du weißt es ja besser!«
Kiro schnaubte wütend und drehte sich um. Mit der Kleinen fest im Arm machte er sich auf den Weg aus dem Garten.
Die sprachlose Tessa stand verloren auf der nassen Wiese. Dachte an den Kuss, den sie ihm gerade noch gestohlen hatte; dachte an die schöne Fantasie, die sie dabei erschuf: dass sie ihren geliebten Kiro nun doch noch für sich gewonnen haben könnte; dachte daran, wie sie diesen hoffnungsvollen Gedanken in nur wenigen Sekunden der Eifersucht selbst wieder zerstört hatte; ihn wohl endgültig verloren hatte.
» Kiro! Bitte ver...«, wollte sie ihm verzweifelt hinterherrufen.
»Vergiss es!«, unterbrach er sie schroff, während er am Gartentor noch einmal stehen blieb. »Nicht mehr Kiro ...«
Dann drehte er sich ein letztes Mal zu ihr um.
»Ich darf nicht mehr Kiro sein! Jetzt nicht mehr.
Und wenn du irgendjemandem von all dem hier erzählst ...«
Das letzte was sie von ihm sah, bevor er sich umdrehte, waren zwei entschlossen entflammte, leuchtend blaue Augen.
Danach – zwei orange Pünktchen, die unter dem Mantel in seinen Armen hervorblitzten und dann mit ihm in der Dunkelheit verschwanden.
* * *
Tessa wollte nicht weinen. Tessa weinte nicht. – Keine Träne.
Verstummt ging sie in ihr Zimmer. – Kein Wort.
Gedankenleer setzte sie sich in den Schaukelstuhl, den ihr ihre Oma hinterließ. – Kein Schaukeln.
Ein roter Stift, rosafarbenes Briefpapier und ein kleiner
Bernstein-Silber-Ring lagen noch lange auf ihrem Schoß.
Bis die Farben in dieser Nacht aus ihrer Welt verschwinden sollten.
* * *
»Danke. Das war voll süß von dir, dass du mir geholfen hast, Kiro.«
»Es musste einfach mal raus. Alles! Es ist besser so, Neko. – Alles!«
Die beiden lagen sich erschöpft aber erleichtert auf dem Bett gegenüber und schauten einander an. Neko hatte sich in die wärmende Decke gekuschelt und strich Kiro über einen der schwer vernarbten Unterarme. Kiro, der einfach nur auf dem kühlen Laken lag, machte die Augen zu und genoss diese zärtlichen Berührungen auf der immer noch sehr empfindlichen Haut an dieser Stelle.
»Tun deine noch weh? Sind sie auch so empfindlich, dass die leichteste falsche Berührung sich wie kleine Nadelstiche anfühlt?«, fragte er sie mit weicher, entspannter Stimme.
»Ich weiß nich. Mich hat noch nie jemand da berührt. Noch nie jemand ... gestreichelt«, war ihre gleichermaßen ruhige Antwort.
Vorsichtig nahm sie seine Hand und zog sie langsam zu sich unter die Decke. Er musste ihr ein kleines Stück entgegenrücken, damit er ihrer Führung folgen konnte. Dann legte sie seine Hand auf ihrer Hüfte ab.
Er fühlte ihre strahlende Hitze. Mit den Fingerspitzen konnte er bereits die äußersten erhabenen Narben ertasten. Seine Hand glitt jetzt zaghaft immer weiter auf ihren Rücken. Er spürte, mit immer noch geschlossenen Augen und mit allen Sinnen konzentriert, jede einzelne Erhebung auf ihrer zarten Haut. Jetzt drückte er sanft seine ganze Handfläche auf ihren Körper und begann, sie in langsam kreisenden Bewegungen liebevoll zu streicheln.
Jedem Quadratzentimeter wollte er damit seine mitfühlende Aufmerksamkeit schenken, die sie verdiente.
An ihrem Nacken angekommen, spürte er ein kleines Zucken in Neko. »Ist sie etwa an dieser Stelle kitzlig?« Er musste lächeln.
Noch ein neckischer Versuch – wieder dieses süße Kribbeln in ihr.
Er beließ es erst einmal dabei und seine Aufmerksamkeit wanderte wieder in tiefere Regionen. Immer weiter. Langsam aber bestimmt. Als er schließlich dicht über ihrem Steiß angekommen war, wurde seine Bewegung etwas zaghafter. Noch ein paar Millimeter weiter. Bis hier hin reichte die letzte rosa Narbe. Ein Symbol, das fast wie eine kleine Blume aussah, erinnerte er sich.
Als er dieses nun mit seinem Mittel- und Zeigefinger umkreiste, konnte er an der Seite des kleinen Fingers schon die beginnende Wölbung ihres Pos erfühlen. Weiter wollte er gar nicht gehen. Auch wenn es ziemlich verführerisch war und seine jungen Gedanken ihn jetzt mit Vehemenz dazu überreden wollten ...
»Was hast du denn nun gefunden?«, fragte sie, hörbar tiefenentspannt.
Sofort schob Kiro, der sich leicht ertappt fühlte, seine Hand wieder ein gutes Stück höher. Mit einem unschuldigen »hm?« öffnete er die Augen und sah, dass sie ihre mittlerweile genießend zugemacht hatte.
»Du kannst da ruhig weiter machen. Das is superschön. – Ich meinte, bei Chronos. Ich merke doch, dass du was entdeckt haben musst. Du bist so ... Irgendwie anders.«
Kiro atmete still erleichtert aus, wagte sich aber nicht, die Hand wieder zurückzubewegen. »Naja ... schon. Aber es ist nicht für dich bestimmt gewesen. Klingt seltsam, aber so war es. Ich kann dir nur sagen, dass ich jetzt weiß, was du ... was wir beide zu tun haben; wo wir hin müssen und wo wir Chronos finden.«
»Seltsam? Da wo ich herkomme, wäre wohl alles für kleine Kiros ziemlich seltsam. Das kannst du mir aber morgen erzählen.« Ein herzhaftes Gähnen, dann ein süßes Schmatzen. »Ich will jetz schlafen.«
»Na gut, meine Kleine. Dann schlaf mal fein.« Er gab ihr einen Gutenachtkuss auf die glühende Wange und wollte sich schon von ihr lösen, als sie erneut nach seinem Arm griff.
»Kuscheln!«, war das einzige Wort, bevor sie sich umdrehte und ihn unter die Decke an sich zog, seinen Arm um ihre Brust schlang und sich seine Hand unter die Wange schob.
Kiro angelte mit der anderen Hand nach dem Stecker der
Schreibtisch-Lampe und löschte das Licht. Mit den Zehen zog er sich noch geschickt die Socken aus und strampelte sie vom Bett. Dann schob er, ganz vertraut, seinen Oberschenkel an ihre und kuschelte sich eng an seine kleine Neko. Das Gesicht an ihre Haare geschmiegt, träumte er so intensiv wie lange nicht mehr. In jedem tiefen Atemzug den lieblichen Duft von brennendem Kaminholz.
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