
Kapitel 2
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Es herrschte Stille. Abgesehen von dem Regen, welcher laut hörbar gegen die Scheibe trommelte.
Trüb starrte Macy von ihrem kalten Plätzchen aus auf die Straße. Sie war aufrichtig überrascht, als ihr Bruder um Punkt elf Uhr das kleine Café betrat und sich stumm vor ihr auf die Bank fallen ließ.
Es war seltsam mit ihm an einem Tisch. So unangenehm vertraut. Sie hatte den Drang, etwas zu sagen, nur um die peinliche Stille endlich zu durchbrechen.
Er räusperte sich: „Und, wie läufts?"
„Gut", erwiderte sie.
Danach wieder Schweigen. Zum Glück kam eine der Kellnerinnen und bot ihnen etwas Kuchen an. Luis überlegte kurz und bestellte sich ein Stück des Marmorkuchens, welcher Macy unter anderen Umständen das Wasser im Mund zusammlaufen lassen hätte. Doch heute nicht, sie schüttelte nur den Kopf und ließ sich einen heißen Kakao kommen.
„Du hast dich verändert Macy. Es tut mir leid, dass ich die letzten Monate nicht für dich da war." Die Worte waren eher gemurmelt als aufrichtig gesprochen. Als wäre ihr Bruder mit dem Kopf woanders und nicht hier in diesem Café.
Macy überlegte, es lagen einige Jahre zwischen dem letzten Besuch ihres Stammlokals, bei dem Luis dabei gewesen war. Seit dem Tod ihrer Mum war nun fast ein halbes Jahrzehnt vergangen und ihr wurde noch immer übel, wenn sie diese Erinnerungen durchforstete.
Macy war sich sicher. Wäre Luis damals nicht einfach verschwunden, ohne sich ein einziges Mal zu melden, würde ihre Mum noch leben. Das war auch der Grund, weshalb ihr jedes Mal schlecht wurde, wenn sie nur den Namen ihres Bruders hörte. Mum wäre noch da, dachte sie sich.
Auf sie war ihre Mum immer stolz gewesen. Mit Luis dagegen, hatte sie sich ständig in der Wolle. Beschwerte sich ständig über ihn und meckerte. Schließlich verschwand er einfach. Hinterließ nichts weiter, als ein kleines Briefchen neben seiner leeren Müslischale.
Und ihre Mum, sie hatte oft geweint. Hatte nicht verstanden, wie ein Vierzehnjähriger so plötzlich verschwinden konnte. Die große psychische Belastung und Ungewissheit ließ ihre Mutter durchdrehen. Doch von einem Tag auf dem anderen redete niemand mehr über Luis. Besonders ihr Vater schien zu leugnen, dass es ihren Bruder jemals gegeben hatte. Macys Mutter machte sich Vorwürfe, kam nie über ihren verschollenen Sohn hinweg. Sieben Jahre lang lief sie mit diesen Steinen im Herzen durch die Welt. Dann nahm sie sich im Hausflur der hübschen Villa, die Urgroßmutter Mechthild gebaut hatte, das Leben. An Luis Einundzwanzigstem Geburtstag.
Macy war siebzehn, steckte noch mitten in den Klausurvorbereitungen. Sie würde nie den Tag vergessen, als Mechthild sie morgens aus dem Bett riss. Die vielen Polizisten im Haus, die lauten Sirenen.
Kurz danach zog sie bei ihrer Tante Tru ein, die ältere Schwester ihrer Mutter. Trudith kümmerte sich liebevoll um ihre Nichte. Sie verstand Macys gebrochenes Verhältnis zu ihrem Vater, besser als jeder andere.
Zwei Jahre später tauchte Luis auf. Aus dem Nichts. Genauso wie er verschwunden war. Er tat so, als wäre er nie weggewesen. Mischte sich einfach in ihr Leben ein, als würde er darin noch eine Rolle für sie spielen. Natürlich war er ihr wichtig. Aber sie war wütend, unfassbar wütend. Wie konnte eine kleine Jugendsünde, so doll ausarten.
Luis erzählte, dass er weit gereist war. Er kam bei verschiedenen Leuten unter, und einmal wollte er Macy, doch tatsächlich seine zweite Familie vorstellen. Für sie klang das ganze so absurd. Sie konnte ihm nur den Vogel zeigen. Sie hatte Tag für Tag die Hölle durchlebt, während ihr Bruder gemütlich Urlaub machte.
Macy wischte ihre Gedanken beiseite. Jetzt war Luis hier, und sie auch.
„Du warst eben beschäftigt." Sie schluckte schwer und spielte mit einer der Servietten auf dem Tisch um sich abzulenken. Macy sah aus dem Augenwinkel, wie er nickte und appetitlos im Kuchen rumstocherte.
Macy seufzte, wenn es so weiter ginge, würde ihre Tante mächtig enttäuscht von ihr sein.
„Und?" Er stockte. „Wie geht es dir?"
Sie ließ augenblicklich die Serviette los. Luis zuckte zusammen, als seine Schwester ihn plötzlich ansah.
„Ist das dein scheiß Ernst?! Jeder Spast, der die verdammten Nachrichten gesehen hat, weiß, wie es mir geht. Und natürlich nur du, mein toller großer Bruder, will mich darüber ausfragen wie es mir geht. Wo warst du verdammt nochmal?!"
Sie schrie die Worte nur so aus sich heraus. Ein Funken schlechtes Gewissen machte sich nach den bereits ausgesprochenen Worten in ihr breit. Allerdings nicht wegen Luis. Sie hatte ihrer Tante versprochen, sich auf ihren Bruder einzulassen. Luis nach so langer Zeit zu vergeben. Doch es ging nicht. Sie war noch nicht bereit für solche Gespräche. Macy stand auf und zog eilig ihre Jacke an.
Sie lief zügig auf den Ausgang zu. Beim Gehen zog sie einen der leeren Stühle mit und ein lauter Knall dröhnte durch's Café. Verwirrt sahen die anderen Gäste ihr hinterher, als sie hysterisch aus dem Raum verschwand, um den Laden zu verlassen.
Ihr Bruder schrie ihr Worte hinterher, doch sie ignorierte ihn. Es hatte einfach keinen Sinn. Egal was sie beide zusammen machten, es endete immer mit viel Geschrei und Streiterei über die kleinsten Dinge.
Macy lief weiter, bis sie im Stadtpark war. Dort lehnte sie sich mit dem Gesicht an einen der nassen Bäume und ließ den Regen an ihr hinablaufen. Sie wollte fliehen, weit weg von diesem Ort, der ihr so viel Leid brachte.
Ihre Tante hatte vermutlich das ein oder andere graue Haar nur ganz alleine Macy zu verdanken. So stur wie sie war.
Denn manchmal hatte sie ihr törichtes Verhalten in Sackgassen gebracht, die wohl kaum entstanden wären, wenn sie auf ihre Tante gehört hätte.
Die Entführung war eine davon. Eine dieser Sackgassen.
Hätte sie auf ihre Tante gehört, wären Melissa und sie nicht fortgegangen, nicht in diesen Club. Melissa wäre nicht gestorben und es wäre alles wie immer. Ihre Freundin würde lachend über ihre nächtlichen Bekanntschaften erzählen, über die Freunde ihrer Eltern herziehen und sich dabei mit ihr austauschen, als wäre nichts passiert.
Doch einen solchen Moment würde es nie wieder geben. Macy blieb stehen und wischte sich eine Träne mit dem Ärmel ab.
Sie schaute sich um, es war niemand hier. Alles andere hätte Macy auch gewundert. Hier in diesem Kaff würde eher die Queen vorbeischauen, als dass die Sonne hinauskam. Bei diesem Dreckswetter spazierte niemand in einem Park herum, deshalb war er auch so überflüssig.
Er diente jediglich als Treff für Halbstarke, die sich gegenseitig drohten, ausraubten und an die Gurgel gingen. Sie lungerten auf den beschmutzten Bänken, fraßen Hard Drugs, als wären sie ihr Lebenselixier und taten als würde ihnen die Welt gehören.
Macy spürte die eisige Kälte auf ihrer Haut. Sie lähmte ihren gesamten Körper. Sie stand einfach nur da, wollte sich nicht bewegen. Auch nicht atmen. Nicht den nassen Regen weiter auf ihrer Haut spüren und auch nicht das Rascheln der feuchten Buchenblätter genießen. Momente kamen in ihr hoch. Schöne Erinnerungen. Sie wurde von all den wiederkehrenden Erinnerungen überschwemmt, welche ein schönes Kribbeln in ihr auslösten.
Doch sie wollte das alles nicht, nicht ohne sie.
Noch mehr Tränen sammelten sich in ihren Augenwinkeln, sie konnte es einfach nicht fassen.
Melissa war tot. Ihre Melissa. Ihre beste Freundin.
Sie stützte sich nach unten und bohrte mit ihren Fingernägeln Löcher in den schlammigen Boden, bis sie laut heulte. Sie ertrug es einfach nicht mehr.
Macy blieb wimmernd im Schlamm liegen. Erschrocken und mit Tränen in den Augen fuhr sie allerdings hoch, als ihr Handy klingelte.
Ohne große Hoffnungen, dass es vielleicht nicht Luis sein könnte, fischte sie es aus ihrer Jackentasche und drückte unter Tränen den Anruf weg. Macy hatte keine Lust sich ewige, unbedeutende Reden von ihrem tollen, großen Bruder anzuhören. Erneut klingelte ihr Handy, sie starrte nur auf den leuchtenden Bildschirm. Sie war unfähig sich zu bewegen. Ihre Augen brannten wie Feuer und Tränen sammelten sich auf ihrem Handydisplay. Macy schloss die Augen.
Dies war die Sache, die sie am nachhaltigsten verfolgen würde, ganz gleich, wie viel Zeit dazwischen vergehen mag. Es würde nun immer an ihr hängen.
Sie atmete einmal tief durch und versuchte die laufenden Tränen zu ignorieren. Sie durfte nicht andauernd die Kontrolle über ihre Gefühle verlieren. Es fiel ihr schwer, sich nicht voll und ganz ihren Emotionen geben zu können. Doch sie würde es lernen müssen, sie konnte nicht immer bei jeder Kleinigkeit anfangen, loszuheulen.
Jetzt aber sollte sie erstmal hier verschwinden, bevor Luis sie doch noch fand. Mit schnellen Schritten lief Macy in Richtung Ghetto. Sie wollte dringend nach Hause. Irgendwo dort war doch eine Bushaltestelle gewesen? Sie schüttelte den Kopf, als sich beim Laufen die Bäume links und rechts neben ihr komisch verzerrten.
Sie fuhr mit den Fingern durch ihre Haare und fluchte. Wie konnte es sein, dass sie andauernd diese Schwindelanfälle hatte? Langsam stützte sie sich mit einer Hand an einen der Bäume ab, während sie wartete, bis der Schwindel von selbst verschwand.
Plötzlich hörte sie Rufe hinter sich. Oder doch vor ihr? Sie wusste es nicht. War sich aber ziemlich sicher, dass es sich bei der schreienden Person um Luis handelte. Nicht das auch noch.
Mit einer kleinen Drehung, sodass sie allerdings nicht den Halt vom Baum verlor, schob sie sich in die Richtung, aus der Luis hinter den Bäumen zu sehen war.
Sie sah alles verschwommen und viel langsamer. Als wenn sich alles in Zeitlupe abspielen würde. Sie sah Luis vor sich stehen und fühlte sich, als wäre sie auf Tauchmission. Seine Stimme war gedämpft und klanglos. Macy versuchte zu verstehen, was er sagte, jedoch erfolglos.
Sie ließ einen kurzen Schrei los, als sie plötzlich ihr altes Haus sah. Direkt hinter Luis. Mitten im Park. Macy versuchte ihren Arm zu heben, ihren Bruder darauf aufmerksam zu machen. Doch er redete immer weiter, stark verunsichert auf sie ein. Macy bekam noch mit, wie sie den Baum innig umklammerte, damit sie nicht endgültig den Boden küsste.
Doch die Realität verschwand und das Gefühl der Vertrautheit war überwältigend. Sie ließ den Baum los. Luis war nicht mehr zu sehen. Näher ging sie auf ihr Haus zu. Immer näher. Macy wollte hinein, doch als sie an dem Gartentor ankam, hörte sie Schreie. Waren es die ihrer Eltern? Oder doch die von Luis? Sie ignorierte die Schreie, denn sie fühlte ihre Sinne so deutlich wie noch nie. Der Lärm klang Kilometer weit entfernt und trotzdem konnte Macy ihn hören.
Plötzlich fiel sie hin. Konnte ihren Körper nicht mehr bewegen und die Dunkelheit umschloss sie, wie an dem Abend der Entführung.
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Macy hörte Gemurmel, laute Stimmen, eine tickende Uhr und einen Wasserhahn. Als sie ihre Augen aufschlug, wurde sie von einem grellen, gelb gestrichenem Zimmer geblendet. Es schien ihr, als wäre sie im Krankenhaus. Genervt von der Helligkeit, drehte sie den Kopf, weit weg von der störenden Farbe und schloss erneut ihre Augen. Sie lauschte, was die umliegenden Stimmen sagten.
„Habt ihr wieder Streit?" Definitiv ihre Tante.
„Was heißt wieder, wann hatten wir das bitte mal nicht." Ihr Bruder.
„Sie hat sich bewegt, sie wird langsam wach", meinte ihre Tante überrascht.
Erschrocken davon, dass sie ertappt wurde, schlug Macy ihre Augen auf und sah in die zwei Gesichter, die über ihr hingen.
„Eure Besorgnis in allen Ehren, aber könntet ihr?" Ihre Stimme war brüchig und leise.
„Natürlich", antworteten beide wie aus der Pistole geschossen und rückten ein bisschen von ihr ab. Schwungvoll setzte sie sich auf. Luis und Tante Tru sahen Macy verständnislos an.
„Mir geht es gut, verstanden?" Mit einem Ruck zog sie die Infusionsnadel aus ihrem Handrücken und stand auf. Erschrocken wichen Tru und Luis mit ihren Stühlen ein bisschen von ihr weg.
„Ich pack jetzt meine Sachen, lass uns hier verschwinden Tru, ich will nach Hause."
Luis fing sie jedoch ab, als sie sich auf den Weg ins anliegende Badezimmer machte.
„Das geht nicht Macy, du bleibst hier", Luis machte Anstalten seine Schwester zu umarmen.
„Wag es ja nicht, mich anzufassen." Tru räusperte sich. Ertappt errötete Macy und ging ins Bad.
Hinter ihr schloss sie die Tür ab. Sie musste Tante Tru irgendwie erklären, dass sie ihr Verprechen doch nicht einhalten konnte. Sie verlangte zu viel, eindeutig zu viel.
Alles war steril eingerichtet. Es schrie geradezu nach Krankenhaus. Ein paar ihrer Klamotten lagen auf der Ablage, ebenso wie die Sachen, die sie benötigte, um sich frisch zu machen. Sie duschte, putzte sich die Zähne und kämmte ihre langen Haare. Als sie fertig war, trat sie aus dem Zimmer.
Luis war verschwunden. Tru allerdings saß noch auf ihrem Stuhl und unterhielt sich mit einer jungen Ärztin. Macy stöhnte laut, als diese sich ihr freundlich vorstellte und sie sogleich mit einem fetten Grinsen attackierte. Das würde was werden.
„Mrs. Mender? Ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen bezüglich Ihrer Gesundheit stellen. Nur so kann ich befürworten, dass Sie wieder nach Hause gehen dürfen."
Macy nickte und setzte sich auf's Bett, in dem sie erwacht war. Zufrieden grinste die Ärztin sie an und blätterte in ihren Formularen herum.
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