III.II | Tiefe Krater im Wüstensand
Jacques
Während Kara und er auf der Ladefläche des Lasters aus dem Dorf hinausfuhren, rannte Idir mit den Armen gestikulierend auf den Dorfplatz. Einen Moment später verschluckte ihn die Staubfahne.
»Kara?«, wandte er sich an seine Freundin. »Hast du gesehen, dass dein Vater ...«
Sie biss sich auf die Lippen: »Ja, das wird vermutlich ein ordentliches Donnerwetter geben. Aber das hier ist wichtiger.«
»Bist du sicher? Nicht, dass er denkt, ich würde dich entführen oder so.«
»Ach, quatsch«, meinte sie mit ihrem üblichen Optimismus, »ich erkläre es ihm, sobald wir nachher zurück sind. Deine Mutter ist jetzt wichtiger. Dafür wird er Verständnis haben.«
Dabei beließen sie es. Im Grunde war er froh, dass sie ihn begleitete, und widersprach nicht. Schweigend rumpelten sie an knotigen Bäumen vorbei, die ihre kahlen Äste wie gichtkranke Finger mahnend in den Himmel reckten. Links und rechts nichts als ockerfarbener Sand, dürre Gräser und flache Hügel, die in der flirrenden Hitze verschwammen. Schlaglöcher schüttelten das Gefährt durch. Bei dem Fahrtwind und dem Klappern der Kisten war es schwierig, das eigene Wort zu verstehen.
Nach rund einer halben Stunde schaute Kara sich suchend um. Was hatte sie vor? Auf der Ladefläche waren allerlei Waren geladen. Ein kurioses Durcheinander von haltbaren Konserven, Ramen-Nudeln, Winkekatzen, Sanitärartikeln und Elektronik. Verstohlen sah sie zum Führerhaus. Von dort erklangen über den pfeifenden Wind und das Rumpeln kaum wahrnehmbare Klänge arabischer Musik. Ein Fenster nach hinten gab es nicht. Sitzend ruckelte sie sich an die Taschenlampen heran und griff sich ein unscheinbares Exemplar, von denen es ein ganzes Dutzend gab. Er sah sie erschrocken an.
»Was zum Teufel sollte das?«, fragte er sie ärgerlich, als sie zurück war.
»Wenn wir später stundenlang im Dunkeln die Straße entlangwandern, brauchen wir Licht. Außerdem gibt es hier Hyänen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Er wird schon nichts merken.«
»Aber das geht nicht. Wir können ihn doch fragen ob er uns eine ...«
In diesem Moment wurde der Laster langsamer. Waren sie am Zielort angekommen oder hatte der Händler ihren Diebstahl bemerkt? Sein Puls raste. Der Lkw kam zum Stehen und die Schritte des Alten näherten sich knirschend.
Der Mann trat hinter den Lkw an die Ladefläche und sah sie fragend an: »Was ist mit euch? Alles in Ordnung? Wir sind da.«
Jacques tauschte mit Kara einen vielsagenden Blick und stieg ab. Sie hielt ihre Hände tief in den Taschen vergraben. Der Alte bemerkte scheinbar nichts. Seine Gedanken wanderten bereits wieder zu seiner Mutter.
»Ist es hier?« Zögerlich schaute er sich um.
Sie hatten am Rand der uralten, nahezu komplett versandeten Autobahn auf einer Art Parkplatz gehalten. Im Grunde war es nur noch eine Staubpiste, die von Schlaglöchern zusammengehalten wurde. Kniehohe Mauerreste erhoben sich aus dem Sand, als wären sie von unten hervorgewachsen. Der Alte winkte, ihm zu folgen, und brummte: »Ja, aber ... es ist wirklich kein schöner Anblick. Bist du sicher?«
Nein, er war sich kein Bisschen sicher. Trotzdem folgte er dem Händler zögerlich und mit weichen Knien durch die halbzerbröselten Betonblöcke. Der durchdringende Geruch von Urin stieg ihm in die Nase. Scheinbar war der Mann nicht der Einzige, der hier auf dem Weg für eine Pinkelpause hielt. Mühsam kletterten sie über einen steinigen Hügel, dann sah er sie.
In einem Graben aus rissigem Lehmboden lag eine reglose Gestalt auf dem Bauch, das schwarze Haar verklebt im trockenen Schlamm. Ihre rote Bluse und blaue Jeans waren mit Dreck und Staub bedeckt.
»Maman!«, schrie er aus vollem Halse und stützte auf die Tote zu. Kurz vor der Leiche bremste er ab. Was sollte er tun? Eine Mischung aus Trauer und Ekel stieg sprichwörtlich in ihm auf. Schnürte seine Kehle zu, während gleichzeitig saure Galle aus seinem Magen emporstieg. Erst lange Sekunden später beugte er sich herab und hockte sich neben sie. Wollte Annabelles Rücken streicheln, aber hielt wenige Zentimeter über der ausgeblichenen, verstaubten Bluse inne.
Eine einzelne Träne tropfte in den Sand und hinterließ einen winzigen Krater. Dann noch eine. Achtlos ließ er sich auf seinen Hintern fallen und betrachtete den ausgedörrten, wie mit Pergament bespannten Körper. Bilder aus besseren Zeiten schwemmten über ihn hinweg: von ihrer Ankunft im Dorf, ihrem stolzen Lächeln bei seinem Schulabschluss und den vielen Abenden, die sie gemeinsam vor ihrer Hütte gehockt und über die Zukunft diskutiert hatten. Sie waren im Streit auseinandergegangen und er hatte nie erfahren, mit wem sie telefoniert hatte.
Ein rostroter Fleck im Sand zeigte, dass jemand ihr den Hals aufgeschlitzt hatte. Wenigstens war es schnell gegangen. Aber was hatte sie hier gewollt? Seine letzten Worte an sie waren ungerechte Vorwürfe. Hatte sie ihm darum nicht vertraut und nicht erzählt, was ihr Plan war? War es seine Schuld, dass sie allein hierhergekommen war? Entschuldigen konnte er sich nicht mehr. Nie mehr. Dafür war es jetzt zu spät.
Am Rande seiner Wahrnehmung bemerkte er das Brummen und Knirschen des sich entfernenden Lkws. Sandige Schritte kamen auf ihn zu, ohne dass er sich umdrehte. Es war Kara, die ihm ihre Hand auf die Schulter legte und ihn aus seinen Gedanken holte.
»Jacques?«, fragte sie sanft. Eine Frage, die keine Frage war.
Und sie hatte recht. Er riss sich zusammen. Die Sonne ging zwar schon unter, aber war immer noch kräftig. Außerdem hatte er bereits lange auf dem Dorfplatz in der prallen Hitze gehockt. Bliebe er hier sitzen, könnte er sich vermutlich mit einem Hitzschlag zu seiner Mutter gesellen.
»Ja«, antwortete er ebenso leise. Eine Antwort, die keine Antwort war.
Ohne das nötige Werkzeug wie Schaufel, Karren oder Lkw mussten sie nicht darüber sprechen, was es zu tun gab. Schweigend sammelten sie Betonbrocken und stapelten sie über den Körper, bis dieser vollständig bedeckt war. Der heiße Wind schichtete bereits sanft eine winzige Düne auf den Steinen des Grabes auf. Spätestens in ein paar Wochen wäre hier nur noch ein unscheinbarer Sandhügel zu sehen. Hoffentlich erbarmte sich später jemand im Dorf und half ihm dabei, seiner Mutter ein anständiges Begräbnis auf dem Friedhof neben der Moschee zu ermöglichen.
»Merci, Kara. Danke«, sprach er mit heiserer Stimme, während die Sonne bereits hinter den Hügeln verschwand. »Ich bin echt froh, dass du mitgekommen bist.«
Nochmals umarmte sie ihn. »Das war doch keine Frage. Wenn das für dich in Ordnung ist, dann lass uns zusehen, dass wir uns auf den Heimweg machen. Ich denke, es sind mindestens vier bis fünf Stunden Fußmarsch.«
Zum letzten Mal blickte er auf das provisorische Grab und verabschiedete sich im Stillen von seiner Mutter. Karas Hand fest umschlossen machten sie sich auf den langen Heimweg.
Mit Einbruch der Nacht wurde es bitterkalt. Der Mond war nur ein dünner Strich am Himmel. Zusammen mit den gleichgültigen Sternen spendete er kaum genügend Licht, um ihnen den Weg zu zeigen. Kara hatte die Taschenlampe eingeschaltet. Langsam, damit sie nicht über tiefere Schlaglöcher stolperten, wanderten sie am Rande der alten Autobahn entlang. Ein verstauchter Knöchel wäre hier ein echtes Problem. In der anderen Hand trug sie eine Wasserflasche, in der die letzten Reste vor sich hinplätscherten. Der Händler hatte sie ihr zum Abschied geschenkt. Seine Freundin hatte immerhin ein schlechtes Gewissen und versprochen, die Taschenlampe zurückzugeben, sobald der Mann das nächste Mal im Dorf war. Insgeheim war er froh über das Licht.
Während der ganzen Zeit kam kein einziges Fahrzeug vorbei. Bis zu diesem Moment. In der Ferne sahen sie einen einzelnen Scheinwerfer, der sich langsam von vorne aus Richtung ihrer Heimat, auf sie zubewegte.
»Gehen wir von der Straße runter«, fragte er, »oder schauen wir, ob man uns mitnimmt?«
Kara sah sich um. »Lass uns besser verschwinden. Es sind eh nur noch zwei Stunden zu laufen.«
Zügig stiegen sie über den Bordstein und traten ein paar Schritte hinter den nächsten Felsen, sodass sie von der Fahrbahn nicht zu erkennen waren. Seine Freundin schaltete ihre Taschenlampe aus und er hoffte, dass der Fahrer sie nicht entdeckt hatte. Mit klopfenden Herzen und angehaltenem Atem warteten sie ab.
Das Fahrzeug kam surrend näher. Einer der Scheinwerfer war defekt. Umso besser für sie. Es fuhr zügig. Als es auf ihrer Höhe war, erkannte Jacques mit Schrecken, dass es sich um einen olivgrünen Pick-up mit einem länglichen Aufbau handelte, der wie ein Maschinengewehr aussah. Er kannte genug haarsträubende Geschichten von den anderen Dorfbewohnern über die Willkür und Grausamkeit des Militärs. Soldaten, die in Dörfer fuhren, die Frauen vergewaltigten und Mädchen entführten. Die grundlos die Männer zusammentrieben und sie ihr eigenes Grab ausheben ließen, bevor sie erschossen wurden.
»Versteck dich«, flüsterte er und zog Kara mit sich herunter, »das ist Militär!«
Mit vor Schreck geweiteten Augen schaute sie ihn an. Er drückte sich flach auf den Boden, sodass er den kalten Sand riechen konnte. Der Pick-up surrte vorbei und er atmete auf. Da bremste das Fahrzeug ab und kam mit quietschenden Bremsen zum Stehen. Er wagte es kaum, zu atmen. Türen öffneten sich. Vier Bewaffnete kamen murmelnd mit knirschenden Schritten näher. Hyänen, die sich langsam an ihre hilflose Beute anschlichen. Nach einer Weile verstummten die Geräusche. Nur das leise Rauschen des Windes, der ihm einzelne Sandkörner ins Gesicht wehte, war zu hören.
»He, ihr! Aufstehen! Wir haben eure Lampe gesehen!«, rief eine heisere Männerstimme.
Gehetzt sah er sich um. Zwanzig Meter entfernt erkannte er die Silhouetten von drei Kerlen in der Dunkelheit. Vermutlich wurden sie noch nicht entdeckt.
Welche Möglichkeiten blieben ihnen? Liegenbleiben, wegschleichen oder aufgeben. Es galt zu verhindern, dass Kara den Bewaffneten in die Hände fiel. Er versuchte geräuschlos liegen zu bleiben. Mit Glück gaben die Soldaten auf und fuhren weiter. Sein Herz wummerte und trotz der Kälte perlte ihm Schweiß von seiner Stirn.
»Hier sind sie!«, rief eine tiefe Stimme. »Los! Schnappt sie euch!«
Gehetzt schaute er zur Seite, einer der Soldaten hatte ihren Felsen umlaufen. Seine Gedanken rasten.
»Du links, ich rechts«, flüsterte er, »Ich lenk sie ab.«
Unmerklich nickte Kara. Wie eine Sprungfeder sprang er in den Stand, griff sich einen Stein und warf ihn hart in Richtung des Kerls, der sie umgangen hatte.
Es war besser, dass sie ihn fingen, statt Kara. »Hey! Bande d'idiots! Lasst mich in Ruhe!« Damit hatte er deren Aufmerksamkeit und wetzte in zehn Metern Abstand am Soldaten vorbei zu einem der höheren Steinhaufen.
»Da vorne!«, rief der Anführer mit der rauen Stimme. »Erledigt ihn!«
Verdammt! Das klang nicht gut. Stolpernd hetzte er auf den Geröllhügel, der sich vor ihm erhob. Keine Zeit, sich umzuschauen. Wenigstens einen Vorsprung musste er Kara verschaffen. Das Hämmern einer Maschinengewehrsalve hallte durch die Nacht. Kugeln schlugen Funken auf den Felsen neben ihm. Schmerzhaft spritzten ihm scharfe Splitter ins Gesicht. Auf der Kuppe angekommen, warf er sich blindlings dahinter. Sein Körper traf hart am Boden auf, rollte ein paar Meter weiter über die losen Steine und er holte sich unzählige blaue Flecken. Der eiserne Geschmack von Blut füllte seinen Mund.
Scheinbar hatten sie ihn verfehlt. Was jetzt? In der flachen Wüste wäre er eine perfekte Zielscheibe. Kara! Mit zitternden Händen griff er einen der größeren Brocken und kroch mit klopfendem Herzen langsam wieder in Richtung der Kuppe. Falls sich einer der Kerle dort oben zeigte, würde er ihm den Schädel einschlagen. Eine andere Wahl blieb ihm nicht.
Nichts dergleichen passierte. Nach einigen Sekunden robbte er sich weiter vor, um über die Kante zu spähen. Die drei Soldaten sprinteten in der Entfernung im klaren Mondschein Kara hinterher. Hakenschlagend versuchte sie, den Griffen der Kerle zu entkommen. Verdammt! Irgendwie musste er ihr helfen.
»Salopards!«, brüllte er über die Ebene, rannte den Hügel hinunter und warf mit Steinen. »Lasst sie in Ruhe!«
Das war eine dämliche Aktion, aber eventuell verschaffte es ihr die Sekunde Vorsprung, die sie benötigte. Mündungsfeuer blitzte auf und ließ den Sand vor seinen Füßen aufspritzen. Das laute Hämmern folgte nur Sekundenbruchteile später. Merde! Erneut warf er sich nach vorne und krabbelte auf allen vieren über die Kante. Sobald die Schüsse verhalt waren, hob er den Kopf über die Kuppe des Steinhaufens.
In diesem Moment holte einer der Soldaten Kara ein und riss sie brutal herum. Kara kreischte und schlug panisch um sich. Der Kerl hob sie in die Höhe. Kurzerhand warf das Schwein sie über seine Schulter und lief in Richtung Pick-up. Die drei anderen lachten und folgten ihm. Hilflos und mit geballten Fäusten war Jacques gezwungen mit anzusehen, wie sie seine Freundin verschleppten. Verflucht! Aber nochmals auf offenem Feld auf sie zu zustürmen, wäre glatter Selbstmord. Dass er noch lebte, war pures Glück. Als kurz darauf der Pick-up seinen Motor mit einem Brummen startete, rannte er trotzdem den Hügel hinunter.
»Non! Arrêtez! Salauds!« Brüllend sprintete er dem Fahrzeug hinterher, war aber chancenlos. Auf der Ladeklappe erkannte er ein Schild mit zwei gekreuzten Gewehren und dem Schriftzug: ORA-23-Q. Kurz darauf verschwand der Pick-up mit einer Staubfahne in der Dunkelheit.
Im eisigen Wüstenwind stand er frustriert mitten auf der Autobahn und verfluchte sich. Warum hatte er Kara nicht im Dorf gelassen? Wieso ausgerechnet sie? Und bei der Vorstellung, was die Barbaren in diesem Moment mit ihr anstellten, stiegen ihm Tränen der Wut in die Augen. Ein Schrei entrang sich seiner Kehle und verhallte einsam in der leeren Wüstennacht.
Er musste – er würde – sie retten! Und wenn es dasLetzte war, was er täte. Das schwor er bei allem, was ihm heilig war. Durchseine Schuld war Kara verschleppt worden und er würde sie wieder befreien!
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