
I.I | Erde zu Erde, Staub zu Staub
Die Sonne brannte unbarmherzig auf das Festmahl. Eine fette Made fraß sich mit Hunderten Geschwistern genüsslich durch totes Gewebe. Dutzende grünviolett schillernde Fliegen umschwirrten den Leichnam und taten sich an den verwesenden Überresten gütlich. Der süßliche, faulige Geruch lockte ganze Heerscharen roter Ameisen aus den tiefen Rissen des trockenen Lehmbodens hervor. Sie nutzten ihre seltene Chance, den Nachwuchs mit ausreichend Nahrung zu versorgen.
Währenddessen lauerte ein dunkelgrau gefiederter Rabengeier auf einem Pfahl darauf, seinen gebogenen Schnabel in das köstliche Fleisch zu schlagen. Näher heran traute er sich nicht, denn ihm gegenüber stand ein Mensch, der sich ebenfalls für die Mahlzeit interessierte.
Jacques
Das heiße Holz des dornigen Gatters brannte sich in Jacques' verkrampfte Hände, während er die gruselige Szenerie schweigend betrachtete. Die in ihm aufsteigende Übelkeit ließ sich nicht mehr herunterschlucken. Statt sich zu übergeben, konnte er nur bittere Galle aus seinem leeren Magen auf den Boden würgen. Die kläglichen Reste des Gerstenbreis hatte er bereits gestern Mittag gegessen. Gleichzeitig durchzog eisige Kälte seine Glieder bei dem Gedanken, was der Anblick für die Zukunft bedeutete.
Die drei braun-weiß-gefleckten Ziegen ihrer Familie lagen tot im Wüstensand. Sie schauten ihn aus anklagenden, trüben Augen an. Ein bestialischer Gestank zog über die Ebene. Es waren nicht die ersten Kadaver, die er sah. Das machte es aber nicht besser, verflucht! Was war hier passiert? Heute Morgen waren sie noch bei bester Gesundheit.
Und ohne ihre Ziegen würden sie ... würde er ... Erneut verdrängte er den Gedanken. Nochmals atmete er durch den Mund ein, schluckte und riss sich zusammen.
»Maman?!«, rief er nach hinten.
Seine Mutter stand gebückt auf ihrem Feld. Mit der Hacke versuchte sie eine Furche in den ausgetrockneten Lehmboden zu ziehen. Die dürren Gerstenhalme ließen traurig ihre Ähren hängen. Es schien, als wüssten sie, was das Schicksal der Ziegen für ihre kleine Familie bedeutete. Alarmiert von seinem Tonfall hob Annabelle ihren Kopf. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und marschierte mit zügigen Schritten zu ihm herauf. Mit einer Hand schob sie ihre Locken nach hinten und starrte auf die von Fliegen umschwirrten Kadaver.
»Merde!« Das war das Einzige, was sie mit versteinertem Gesicht dazu zu sagen hatte.
Da musste er ihr zustimmen. Durch den Tod der Tiere hatten sie ein massives Problem. Ohne die Ziegen, deren tägliche Milch und Käse sowie das sehnlichst erwartete Lämmchen, würden sie einen Großteil ihres Einkommens verlieren.
Langsam trat Annabelle an die Kadaver heran und schob die toten Körper mithilfe eines Stocks zur Seite.
»Zut!«, knurrte sie, zeigte auf eine Stelle am Boden und wandte sich halb zu ihm um. »Schau dir das an.«
Sie presste ihre Lippen so fest zusammen, dass sie eine helle, ernste Linie bildeten. Alles in ihm sträubte sich. Trotzdem folgte er ihrer Bitte und kam mit langsamen Schritten näher. Und dann sah er, was sie meinte: Ein größerer Haufen grünlich-roter gezackter Blätter lag im Gehege - Rizinus.
»Was?! Sie wurden vergiftet?«, fragte er fassungslos und schüttelte seinen Kopf, als könne er damit den Anblick wie den eines Albtraums verscheuchen. »Warum?«
»Man will uns loswerden«, antwortete Annabelle knapp. »Diese Botschaft ist eindeutig. Meinst du nicht auch?«
»Aber ... aber, wir haben niemandem was getan!«, rief er und warf seine Arme in die Luft. Er konnte nicht glauben, dass einer ihrer Nachbarn zu so einer Tat fähig wäre. Oder doch – er hielt inne und versteifte sich. Einer Person würde er das definitiv zutrauen: Youssef.
Bei dem Gedanken an den Halbstarken verkrampfte er sich. Glühender Zorn zog brodelnd durch seine Adern. Der siebzehnjährige Youssef lehnte ihn ab, seit sie vor Jahren hier im Dorf angekommen waren. Vermutlich aus Eifersucht. Jacques war mit dessen Schwester Kara zusammen. Heimlich. Die Ablehnung des Bruders war in regelrechten Hass umgeschlagen, als er die beiden vor einigen Monaten abends abseits des Dorfes erwischt hatte. Youssef war der festen Überzeugung, dass Jacques nicht gut genug für Kara war.
»Lass es gut sein, Jacques«, holte seine Mutter ihn aus den Gedanken. Sie hatte offenbar nicht mitbekommen, wie sehr es in ihm kochte.
»Non! Nichts ist gut!«, fuhr er sie unwirsch an. Er hob seine Schultern und ballte die Hände zu Fäusten. »Das war Youssef. Ganz sicher. Sagen wir es Idir! Jetzt!«
Schweigend schaute sie ihn für einen Moment an. »Das kann ich mir kaum vorstellen. So niederträchtig ist der Junge nun auch wieder nicht. Aber selbst wenn – wie willst du es beweisen? Und falls wir mit haltlosen Vorwürfen zu seinem Vater gehen? Ohne etwas in der Hand zu haben, stehen wir deutlich schlechter da als jetzt. Und, wir müssen ihn um einen weiteren Aufschub der Pacht bitten.«
Jacques Mund klappte auf und wieder zu. Ihm fiel spontan keine passende Erwiderung ein. Ihre Logik war bestechend klar und er musste ihr leider recht geben. In einem irrte sie sich: Youssef war das definitiv zuzutrauen und er durfte damit auf keinen Fall durchkommen.
Als er nichts sagte, setzte sie zögerlich hinzu: »Aber, ... vielleicht«, sie stockte erneut, »gibt es eine andere Möglichkeit. Auch wenn es uns die Ziegen nicht zurückbringt.«
»Was meinst du?«, hakte er irritiert nach und kapierte kein Wort.
»Lass uns später drüber reden.« Stöhnend richtete sich seine Mutter auf und legte ihm sanft die Hand auf die Schulter. »Ich versteh dich ja, Jacques. Mir passt das auch nicht. Aber zunächst müssen wir Ordnung schaffen. Kümmerst du dich um die Kadaver? Ich spreche währenddessen mit Idir – wegen der Pacht. Wir schauen heute Abend, wie es weitergeht. Einverstanden?«
»Wollen wir nicht wenigstens jemandem diese Sauerei zeigen?«, wunderte er sich. Wenn sie jetzt alles wegräumten, könnten sie nie beweisen, dass Youssef die Ziegen vergiftet hatte.
»Nein«, kam ihre entschiedene Antwort und sie schüttelte vehement den Kopf. »Das bringt nichts als Ärger. Schau dich doch um. Auf dem Trampelpfad neben dem Gatter kommt am Tag ein Dutzend Nachbarn vorbei. Jeder von denen kann es gewesen sein. Man könnte sogar behaupten, dass wir es selbst waren, weil wir beim Pflücken der Blätter einfach nicht aufgepasst hätten.«
»Ich ... Aber ...« Er knirschte mit den Zähnen und starrte sie an.
»Merde!«, entfuhr es jetzt auch ihm lautstark und er trat wutentbrannt nach einem Stein, der im weiten Bogen davonflog.
Das war eine zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit und das wusste Annabelle. Youssef oder sonst wer zerstörte ihr Leben und sollte ungeschoren davonkommen? Das widersprach allem, an das er glaubte. Allem, dass seine Mutter ihm beigebracht hatte. Sie war es, die immer Rückgrat zeigte und meinte, dass man für eine gerechte Sache einstehen musste. Aber es war auch sie, die immer einen kühlen Kopf bewahrte. Sie wusste, wann man bei einer aussichtslosen Schlacht besser den Rückzug antrat. Nur dank dieser Mischung hatten sie ihre Flucht von der Elfenbeinküste bis hierher nach Algerien überlebt. Und nur dank ihres ruhigen und selbstbewussten Auftretens hatte man sie hier im Dorf aufgenommen. Daher beugte er sich für den Moment ihrer bestechenden Logik und Erfahrung. Aber ausgestanden war die Sache damit noch lange nicht.
Am Ende machte er sich, weiterhin innerlich kochend, an die Arbeit.
Kurz vor Sonnenuntergang war sein grausiges Werk vollbracht. Die Kadaver hatte er in weiße Planen gerollt und seine Fracht über einen flachen Hügel geschleift. Dahinter eine tiefe Grube im Sand ausgehoben, die sterblichen Überreste ihrer Tiere hineingeworfen und mit Kalk bestreut.
Die körperliche Arbeit hatte ihn ausgelaugt und seiner Wut ein Ventil geboten. Inzwischen breitete sich eine dumpfe Leere in ihm aus. Während er sich auf die Schaufel stützte, überblickte er mit den letzten Sonnenstrahlen von seiner erhöhten Warte die Dächer ihres Dorfes: ein paar Dutzend eckiger sandsteinfarbener Blöcke. Als hätte ein Riese mit Bauklötzen gespielt und die Reste achtlos im Sand liegengelassen. Hinzu kamen verstreute Wellblechhütten der Zugezogenen am Dorfrand. Zu denen zählten auch seine Mutter und er selbst. Auf der anderen Seite erhob sich ein einzelner Berg, der die wesentliche Versorgungsgrundlage ihres Dorfes darstellte. Er stand als einsamer Wächter in der Wüste und sammelte das lebenswichtige Wasser. Seine Hänge boten fruchtbarere Böden als die restliche Steppenlandschaft. Außer vertrockneten Büschen und knorrigen Bäumen waren die Felder das einzig Grünliche in all dem Braun und Gelb.
Erst vorgestern war Kara hinter einem der Häuser hervorgesprungen und hatte ihn mit einem selbst gebastelten Kranz aus lila Blumen überrascht. Anstelle des traditionellen Kopftuches hatte sie diesen wie eine altertümliche Göttin auf ihr Haupt gelegt und Jacques hinter eine unbeobachtete Ecke gezogen. Bei der Erinnerung musste er grinsen. Seine Kara, die sich insgeheim nicht um die Traditionen scherte und immer versuchte, das Beste aus ihrer Situation zu machen. Sie war es, für die er alles auf sich nehmen würde, um mit ihr ein gemeinsames Leben führen zu können. Und vielleicht hatte seine Mutter ja wirklich eine geniale Idee, die ihnen aus dieser Misere helfen konnte. Diese Gedanken gaben ihm neue Hoffnung und Energie. Bisher hatten sie immer einen Ausweg gefunden, egal wie aussichtslos ihre Situation auch schien.
Auf dem Rückweg verwendete er etwas kostbare Flüssigkeit, um sich sowie seine Ausrüstung gründlich zu waschen. Zum Abschluss brachte er sie Familie Mohammed zurück, von der er sie geliehen hatte, und bedankte sich brav.
Es war bereits Abend, als er die knarzende Brettertür ihrer Wellblechhütte öffnete. Das obere Scharnier war hinüber, aber für einen Ersatz fehlte ihnen das Geld.
»... in Ordnung ... Ja, bringe ich mit ... mai alslama.« Als seine Mutter ihn bemerkte, legte sie hastig, beinahe schuldbewusst ihr Handy zur Seite und schaute ihn von unten an. »Alles erledigt?«
»Uff. Ja. Was für 'ne Plackerei.« Erschöpft fiel er neben ihr auf sein Bett aus Styropor und löchrigen Decken. »Hast du mit Idir gesprochen?«
Nickend ließ sie ihre Schultern hängen: »Ja, ich habe ihn vorhin zu Hause besucht. Er gibt uns keinen Aufschub. Wir sind bereits sechs Monate im Rückstand und müssen die Pacht jetzt begleichen. Er hat zwar Verständnis für uns, muss aber seine Familie auch versorgen. Entweder wir zahlen – oder er verpachtet das Feld an jemanden anderes.«
Verflucht. Damit bewahrheitete sich seine schlimmste Befürchtung. Der Täter – Youssef – hatte sein Ziel erreicht: Ihre Lebensgrundlage zu zerstören, um sie zu vertreiben. Ein anderer Gedanke zupfte am Rockzipfel seiner Wahrnehmung und drängte sich nach vorne.
»Ähm ... Wenn du selbst bei Idir warst«, sprach er ihn laut aus, »mit wem hast du dann eben telefoniert ...?«
»Kannst du dir vorstellen, aus dem Dorf wegzuziehen?«, stellte sie eine Gegenfrage, statt zu antworten. »Ich meine: richtig weg. Ein komplett neues Leben anfangen?«
Wollte sie so schnell aufgeben? Warum? Und nein! Natürlich wollte er das nicht. Um jeden Preis musste er bleiben – wegen Kara! Für seine Freundin, seine Liebe, würde er jegliche Qual in Kauf nehmen. Selbst wenn er dafür betteln gehen müsste.
Seine Gedanken standen ihm offenbar deutlich ins Gesicht geschrieben, denn sie sagte mit betont ruhiger Stimme: »Jacques. Wir sind hier am Ende. Es sind nicht nur die Ziegen und die Pacht. Auch der Arbeitsvermittler nimmt dich jeden Monat seltener mit. Und der jährliche Regen scheint ebenfalls auszubleiben. Uns bleibt keine Wahl. Ich habe eben ...«
»N'importe quoi! Man hat immer eine Wahl, das hast du mir selbst beigebracht!«, unterbrach er sie barsch und sprang auf. »Und du weißt genau, warum ich hierbleiben will!«
»Natürlich«, sie schaute ihn von unten an, »aber mach dir keine Illusionen, selbst wenn das mit den Ziegen nicht passiert wäre. Kara ...«
»Was ist mit ihr? Glaubst du auch, ich bin nicht gut genug für sie?«
»Nein, das habe ich nicht gesagt ...« Sie brach ab.
Aber gemeint, vervollständigte er den Satz in Gedanken, während ihm das Blut ins Gesicht schoss.
»Offenbar doch«, fuhr er sie an. »Sogar meine eigene Mutter hält mich für 'nen Versager, mit dem noch nicht mal der Arbeitsvermittler was anfangen kann. Trotzdem lass ich mich nicht vertreiben. Nicht von Youssef oder sonst wem.«
Sie öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen. Hielt inne und schüttelte den Kopf, als wolle sie ein lästiges Insekt loswerden.
»Im Gegenteil, Jacques. Kara könnte froh sein, einen Mann wie dich zu bekommen«, erwiderte sie nach ein paar Sekunden und sah ihn direkt an. »Aber so einfach ist das nicht. Wir reden morgen darüber, wie es weitergeht, ja?«
»Von mir aus«, grummelte er, obwohl er ihr die versöhnlichen Worte nicht ganz abkaufte.
Frustriert und unzufrieden zog er die fadenscheinige Decke eng um seine Schultern und drehte ihr den Rücken zu. Was war nur los mit seiner Mutter? Auf ihrer Flucht aus dem Süden war es immer sie gewesen, die wie eine Löwin für sie beide eingestanden war. Eine Kämpferin, die sich mit keiner noch so ausweglosen Situation abfand. Das heutige Verhalten passte nicht zu ihr.
Egal. Morgen würde er als Erstes mit seiner Freundin sprechen und versuchen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Irgendeine Lösung würde es geben. Er musste sie nur noch finden ...
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