
𝗗𝗘𝗥 𝗨𝗠𝗭𝗨𝗚 𝗢𝗗𝗘𝗥: 𝗪𝗜𝗘 𝗜𝗖𝗛 𝗙𝗔𝗦𝗧 𝗩𝗢𝗡 𝗠𝗘𝗜𝗡𝗘𝗠 𝗞𝗟𝗘𝗜𝗗𝗘𝗥𝗦𝗖𝗛𝗥𝗔𝗡𝗞 𝗭𝗘𝗥𝗠𝗔𝗟𝗠𝗧 𝗪𝗨𝗥𝗗𝗘
„Was sich alles so im Leben ansammelt, was?"
Die penetrante Stimme meines Onkels klingelt in meinen Ohren.
Ich will doch nur meinen Coming-of-Age-Filmmoment genießen.
Musik hören; aus dem Fenster starren; darüber nachdenken, wie ich den Wechsel an eine neue Highschool überleben soll.
Aber Peter hat andere Pläne. Er möchte Smalltalk führen, mich kennenlernen.
So lange hat er seine kleine Nichte gesehen. Da geht ihm das Herz auf. Wie traurig er doch war, als er vom Tod meines Vaters hörte. So schade, dass sie sich so lange nicht gesehen haben. Er hatte sich doch vorgenommen, im Sommer runterzufahren.
Klar. Wie jeden Sommer.
Das Produkt seiner Versprechen ist die Tatsache, dass ich weder ihn noch meinen Cousin, seit sechs Jahren gesehen habe.
Das ist jetzt keine Gegebenheit, die mich wirklich traurig macht. Steve ist ein extrem anstrengender Mensch.
Ist er mit 10 gewesen und mit 17 wird sich nicht viel daran geändert haben.
Meine Erinnerungen an die Sommer in Hawkins bestehen eigentlich nur aus einer Menge Pflastern, weil ich einfach jede Verletzung mitnahm, die sich mir anbot; aus vielen vielen Tränen, weil Steve mich nicht mitspielen ließ und aus einer streunenden Katze, die ich jedes Jahr wieder traf.
Dass sich ihr Fell im Laufe der Jahre ebenso häufig geändert hat, wie ihr Geschlecht, das lassen wir mal so stehen.
Ich werfe Peter einen kurzen Blick zu, als er mich durch den Rückfahrspiegel beobachtet, dann setze ich mir meine Kopfhörer auf und schließe die Augen.
Das wird ihn fuchsteufelswild machen. Wie so häufig.
Aber er wird es nicht an mir auslassen, er hat ja nicht umsonst geheiratet und einen Sohn gezeugt.
Er wird nicht gewalttätig, um Gottes willen, dass lassen seine Spaghettiarme gar nicht zu.
Peter ist dann einfach nur richtig ekelhaft verletzend und reitet auf jeder Schwachstelle herum.
Ich habe Steve so oft weinen sehen und das waren die einzigen Momente, in denen ich ihn mochte.
Weil er sich da wie ein normales Kind verhielt und nicht wie jemand, der schon erwachsen sein wollte.
Vielleicht wollte er es ja deshalb so verzweifelt schnell. Weil er endlich von ihm wegkommen wollte.
Fast seufze ich mitleidig auf, aber dadurch würde Peter auf mich aufmerksam werden und das will ich nicht.
Ich will die nächsten drei Stunden Fahrt mit nichts weiter als Queen oder van Halen verbringen. Ich sags euch, 84. Das ist das Jahr der Musik.
Irgendwann muss ich eingeschlafen sein, Peters unruhige Fahrweise muss mich dazu gebracht haben.
Der Schlaf war nicht gerade erholsam, aber etwas fitter fühle ich mich schon.
Zumindest fit genug, um den Rest des Tages irgendwie zu überstehen.
Als ich meine Augen öffne, starre ich direkt auf das viel zu große Einfamilienhaus. Es ist so protzig, dass ich mich schäme, dort wohnen zu müssen.
Mir bedeutet Geld nichts. Mir bedeutet weder Wohlstand etwas, noch die vielen, langweiligen Feiern, zu denen mich mein Vater immer geschleppt hat.
„Da ist sie ja!", ruft eine übersteuerte, hohe Stimme.
Tante Evelyn. Bitte nicht.
Sie öffnete breit lächelnd die Autotür und zerrt mich in eine enge Umarmung.
Ich bin noch dabei mich abzuschnallen und stolpere daher ungelenk in ihre viel zu dünnen Ärmchen.
Sofort steigt mir der beißende Geruch ihres Parfums in die Nase. Ich kann es nicht als Duft bezeichnen, ehrlich nicht.
Es riecht so scharf und aufdringlich, dass mir auf der Stelle schlecht wird.
Evelyn ist eine gute Frau, die sich ihr Leben nur einfach anders vorgestellt hat.
Und das lässt sie genauso stark an Steve aus, wie sein Vater seine Wut an ihm.
Während Peter mit Worten verletzt, straft sie ihn mit Gleichgültigkeit.
Und auch, wenn Steve wirklich nervig ist (ehrlich, ich übertreibe nicht. Einmal hat er mich nicht davor gewarnt, dass sein fetter Berner Sennenhund in meine Cornflakesschüssel gesabbert hat. Erst nachdem ich davon gegessen hatte. Natürlich), finde ich es unfair, dass sie mir gegenüber so nett sind.
Das muss für ihn doch der Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt.
Ein Vater, der ihn erniedrigt, eine Mutter, der er egal ist
„Hi Tante Eve.", presse ich unter der festen Umarmung hervor und versuche sie sanft von mir zu schieben.
Dann strecke und ich mich und als ich einige Gelenke knacken höre, verziehe ich angeekelt das Gesicht.
Dieses Geräusch.
Ich sehe auf den Rasen ihres Vorgartens, der zu grün ist, als dass er echt sein kann und betrachte die kitschigen Gartenzwerge.
Das Haus, die Lage, der Vorgarten - der wahrgewordene Kleinstadtalptraum.
„Charlotte. Du hast doch sicherlich Hunger, oder?", fragt Tante Eve mich und ich zucke bei der Aussprache meines Namens unweigerlich zusammen.
„Ach Gottchen, entschuldige. Charly. Es ist so schade, dein Vater hat sich solche Mühe beim Aussuchen deines Namens gegeben. Charly. Das klingt so-"
„Wie ein zehnjähriger Junge, der Zeitungen austrägt?", beendet Steve ihren begonnen Satz.
Ich lege meine Stirn in Falten und rolle genervt mit den Augen.
„Da ist er ja.", seufze ich unzufrieden.
„Und da ist sie ja.", gibt er genauso genervt zurück, aber seine Lippen ziert trotzdem ein leichtes Grinsen.
Ich erwidere es, ich kann gar nicht anders.
Steve ist riesig geworden. Früher waren wir fast gleichgroß. Doch während ich ein laufender Meter geblieben bin, hat er mittlerweile bestimmt die 1.80 geknackt.
Er sieht auf eine spießige Art echt gut aus. Seine Haare sind jetzt länger und er verbringt alle paar Augenblicke damit, sie wieder zu richten. Seine Muskeln sind ausgeprägt, aber nicht so Anabolikabehaftet wie bei anderen Sportlern.
„Hier. Das musst du noch unterschreiben. Ich nehme es nachher mit, wenn ich zum Spiel fahre.", sagt er und reicht mir einen Zettel.
Es ist der Anmeldungsbogen für die Schule.
Vielleicht, in einem kleinen Moment der Unaufmerksamkeit, könnte ich ihn loswerden. Verbrennen oder mir in den Mund stopfen und runterschlucken.
Ich habe wirklich keine Lust, eine neue Schule zu besuchen.
Der ständige Kampf um die Beliebtheit; Auseinandersetzungen mit Lehrern, die eindeutig ihren Beruf verfehlt haben; Hausaufgaben.
Oh Gott, Hausaufgaben! Nein, absolut nein.
Ich seufze. Und unterschreibe. Denn er hält mir einen Stift so aufdringlich unter die Nase, dass ich es lieber schnell hinter mich bringe.
Kurz und schmerlos. So, und damit bin ich Schülerin der Hawkins High.
Ich schicke noch kurz ein Stoßgebet an den lieben Herrn in Himmel. Bitte lass mich nicht mit Steve in eine Klasse kommen.
Was solls. Ich muss drei Tage überstehen. Drei kurze Tage, dann sind schon Sommerferien.
Warum ich nicht direkt danach starten kann, will sich mir nicht ganz erschließen.
Das macht einfach keinen Sinn.
Aber wann hat Bürokratie jemals Sinn gemacht?
„Das große Spiel, was? Verbock es diesmal bloß nicht wieder. Sonst sitzt du nächstes Jahr auf der Bank und Hargrove nimmt deinen Platz ein. Der hat es drauf, der Junge. Ein Teufelskerl."
Peter grinst als er von dem anderen Spieler spricht. Zum ersten Mal sehe ich so etwas wie Stolz in seinen Augen.
Und dann ist er es nicht auf seinen eigenen Sohn, sondern auf einen Wildfremden. Und reibt es Steve auch noch unter die Nase.
„Danke für deine netten Worte, Peter. Wir werden sie in unseren Herzen tragen, wenn Steve den ausschlaggebenden Treffer macht und ich blankziehe, weil ich mich so freue.", gebe ich sarkastisch wieder.
„Du guckst dann überall hin, aber nicht zu mir.", lege ich nach und hebe mahnend einen Finger in die Höhe.
Wir beide lachen. Natürlich würde er nicht gucken, das wäre ja so als würde er seine kleine Schwester nackt sehen.
Wir verstehen uns vielleicht nicht sonderlich gut, aber wir sind eine Familie.
Und im Kontrast zu Evelyn, Peter und nicht zuletzt meinem Dad - Ruhe er in Frieden. Nicht - bedeutet uns das etwas.
Ehrlich, ich könnte Steve an die Gurgel springen, wenn ich an die vielen, bei ihm verbrachten Ferien denke.
An die Nachtwanderung, in der er mich mitten im Wald stehen ließ, um mit seinen Freunden auf dem Schrottplatz Autos einzuschlagen.
Oder als er sich über mich lustig gemacht hat, als ich mir die Haare zu einem Pixie schnitt.
Mit zehn vielleicht auch nicht die beste Idee.
Ich weiß nicht, wie oft ich diesen Sommer danach gefragt wurde, ob ich ein Junge oder ein Mädchen bin.
Aber ich konnte es auch niemanden verübeln. Ich hatte noch nicht diese prallen Brüste, die jetzt meinen Körper zieren.
Das mag traumhaft klingen, aber versucht mal einen schönen BH zu finden, der nicht auch noch pusht.
So sehr Steve mir auf den Eileiter geht, so sehr würde ich für ihn in die Bresche springen. Immer wieder.
Peter will irgendetwas erwidern, aber ich lasse ihn erst gar nicht dazu kommen.
Ich gehe die paar Schritte, die uns voneinander trennen, auf ihn zu und reiße ihm meinen Rucksack aus der Hand.
„Dankeschön.", ich verbeuge mich theatralisch und schultere den Rucksack.
„Also Stevie. Zeigst du mir mein Zimmer?", frage ich ihn.
Er tritt mir schmunzelnd in die Hacken, um mich in Bewegung zu setzen und geht dann ins Haus.
„Nur, wenn du mich nie wieder so nennst."
„Oh das werde ich. Vor deinen ganzen Cheerleaderinnen, die dich anhimmeln. Und dann sind sie so abgetörnt, dass sie sich diesem Hargreeve an den Hals schmeißen."
„Hargrove. Und glaub mir, dafür braucht es das nicht. Jedes Mädchen steht total auf ihn und er ist auch jedem Rock hinterher."
Ich blicke flüchtig an mir herunter und auf meine verwaschene, enge Jeans.
Ich jedenfalls nicht.
Außerdem wer will schon einen Aufreißer, der sich in der Woche genauso oft auf Geschlechtskrankheiten testen muss, wie er seine Unterwäsche wechselt.
„Nimmst du mich nachher mit?", frage ich beiläufig, während wir durch das utopisch große Haus gehen.
Steve dreht sich um und mustert mich einen Moment skeptisch.
Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass er vermutet ich würde ihn irgendwie blamieren wollen oder, dass es das erste Mal wär, dass jemand von seiner Familie zuschauen würde.
Beides finde ich traurig.
Ehrlich, ich bin doch nicht mehr zehn und hänge einen Eimer mit Farbe über die Tür.
Bei dem Gedanken an die vielen Streiche, die ich ihm gespielt habe, muss ich leicht grinsen.
„Wenn du unbedingt willst."
Was für ein Schauspieler. Jetzt tut er so, als wäre es ihm gleichgültig.
Warum werden deine Wangen dann so rot, Mister?
Schmunzelnd gehe ich weiter, bis er vor einer Tür stehen bleibt.
„Dein Reich."
Ich hebe argwöhnisch eine Augenbraue. Wozu ein Mensch so viele Quadratmeter braucht, werde ich nie verstehen.
Neben einem Bett, zwei Kommoden, einem Kleiderschrank und Schreibtisch ist das Zimmer so unfassbar leer, dass es noch ganz unfertig wirkt.
Als ich Steve anschaue zuckt er ausdruckslos mit den Schultern.
„Mach damit was du willst. Es interessiert hier ja eh keinen.", gibt er frustriert zu.
Ich nickte zustimmend und presse meine Lippen fest zusammen. Lieber nichts sagen, Gefühlsduselei kann er vor dem Spiel nicht gebrauchen.
Ich betrete das Zimmer und drehe mich ein paar Mal um mich selbst, aber das Gefühl bleibt dasselbe.
Hier bin ich nicht zu Haus.
Trotzdem werfe ich meinen Rucksack auf das frisch bezogene Bett. Dann trotte ich zu dem Kleiderschrank und öffne ihn.
Evelyn wollte zuvorkommend sein und mir ein paar Kleidungsstücke hinterlassen.
Aber mein Blick fällt nur auf eine Monstrosität von Bademantel. Er ist so flauschig, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass er mich abtrocknet.
Ich lache leise auf, nehme den Bademantel vom Kleiderbügel und werfe ihn mir über.
„Und?", frage ich grinsend und drehe mich wieder um mich selbst.
Steve versucht es zu verstecken, in dem er mit den Augen rollt, aber er schmunzelt trotzdem ein wenig.
Ich bin irgendwie überrascht, wie entspannt es zwischen uns ist. Aber ich hinterfrage es nicht.
Mein Blick durchquert noch einmal den Raum und seine vielen freien Flächen, bis ich wieder bei meinem Kleiderschrank angelange.
Da oben auf dem letzten Regalboden, da ist doch etwas?
Ich bin neugierig. Von Natur aus. Also ist es ganz klar, dass ich jetzt sofort herausfinden muss, was da oben liegt.
Immer noch in dem aufgeplusterten Plüschmantel gekleidet, hake ich mich mit den Händen an den oberen Regalbrettern fest und versuche so den Kleiderschrank hinaufzuklettern.
Er ist bestimmt vier Meter hoch. Darin könnte ich höchstwahrscheinlich mein gesamtes Hab und Gut unterkriegen. Nicht nur meine Klamotten.
Ich habe irgendwie vermutet, dass der Kleiderschrank so massiv ist, wie er aussieht. Doch scheinbar ist er nicht an der Wand befestigt. Denn er bewegt sich, er kippt.
Mit einem dumpfen Aufprall falle ich zu Boden. So wie ich auf dem Rücken liege, komme ich mir wie ein Marienkäfer vor.
Kreischend schließe ich die Augen und warte darauf, von dem Holzungetüm zermalmt zu werden.
Aber ich überlebe. Gerade so.
Weil Steve sich gegen den kippenden Schrank drückt und mir panisch zuruft, dass ich darunter wegkommen soll.
Ich zittere vor Aufregung, aber tue was er von mir verlangt.
Also hieve ich mich auf die Knie und krabbele in Sicherheit. Der blöde pinke Bademantel hat auch überlebt und klebt an mir wie eine zweite Haut.
Steve atmet schwer, kein Wunder, der Schrank muss trotz seiner Instabilität eine Menge wiegen
Sobald er sich sicher sein kann, dass ich darunter weg bin, lässt er ihn einfach fallen.
Und der Aufschlag ist so laut, dass ich erschrocken die Augen zusammenkneife.
Ich glaube Steve wird gar nicht die Chance haben, dass Basketballspiel zu gewinnen, denn wenn Peter das mitbekommen hat - wie wahrscheinlich ist es, dass er einen Zentnerschweren umfallenden Kleiderschrank nicht mitbekommt? - dann sind wir tot. So richtig.
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