
𝗗𝗘𝗥 𝗘𝗥𝗦𝗧𝗘 𝗧𝗔𝗚, 𝗗𝗘𝗥 𝗡𝗜𝗖𝗛𝗧 𝗚𝗔𝗡𝗭 𝗦𝗢 𝗟𝗜𝗘𝗙, 𝗪𝗜𝗘 𝗚𝗘𝗣𝗟𝗔𝗡𝗧
Ich kneife verwirrt meine Augen zu, doch als ich sie wieder öffne, bleibt das, was ich sehe, dasselbe.
Max mit Tränen in den Augen, schluchzend und darum bittend, noch einmal Erbarmen mit ihrem Bruder zu haben.
Jetzt sehe ich nicht mehr nur verwirrt aus, sondern wie komplett aus der Bahn geworfen.
Sie verteidigt Billy? Hält ihr jemand Unsichtbares ein Messer an die Kehle? Oder hat sie einen Knopf im Ohr und jemand droht damit, ihre Familie abzuknallen, wenn sie nicht gehorcht?
„Zora?", frage ich und schüttele sofort mit dem Kopf. Ich merke wie sich meine Wangen vor Scham röten.
Ich und meine bescheuert Spitznamen. Ich komme selbst durcheinander.
Zora, Kermit, Elmo.
„Max, meine ich...", nuschele ich und gehe ein paar Schritte auf die Rothaarige zu.
Sie schüttelt ablehnend mit dem Kopf und streckt ihre Hände vor sich aus und befiehlt mir gleichzeitig damit, nicht näher zu kommen.
In einer fließenden Bewegung streicht sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel.
Sie hat wie auf Knopfdruck aufgehört zu weinen.
„Bitte Mrs Weinstein, Billy ist nur zu spät gekommen, weil ich so getrödelt habe. Bitte geben Sie ihm keine Abmahnung.", sagt sie bestimmt und lächelt dabei ein perfektioniertes Junges-Mädchen-bettelt-um-Utopisches-Lächeln.
Was für eine Schauspielerin.
Mrs Weinstein scheint tatsächlich Mitleid zu haben, denn sie zerreißt den Zettel in ihren Händen und schmeißt ihn warnenden Blickes weg. Sie beteuert, dass es die letzte Warnung sei und wünscht Max einen schönen Tag.
Das ist doch...nie im Leben! Wie einfach ist das denn gewesen? Hat Max irgendwelche telekinetischen Fähigkeiten, von denen ich nichts weiß?
Max dreht sich mit einem zuckersüßen Lächeln um, verdreht die Augen und geht, ohne mir einen weiteren Blick zuzuwerfen.
Ich bin so erstaunt über ihre Performance, dass ich gar nicht mitbekomme, wie die rundliche Frau am Tresen mich zu sich ruft.
Als ich es dann merke, sieht sie nicht gerade freundlich aus. Ihre Geduld ist für den Tag ausgeschöpft.
Eine super Erkenntnis, bedenkt man, dass ich mit meinem Anliegen noch gar nicht dran gewesen bin und es gerade einmal Viertel nach Acht ist.
„Hi, ich bin Charly...Charlotte Harrington. Ich fange heute hier an. Direkt im Anschlussjahr und brauche meinen Stundenplan."
„Ein bisschen spät dafür.", murmelt sie desinteressiert und weil ich keine Ahnung habe, was ich darauf antworten soll, nicke ich mit zusammengepressten Lippen.
„Hier.", sie reicht mir einen Zettel mit unmenschlich vielen Kursen. „Sei pünktlich und lächele. Übermorgen sind eh Ferien. Du wirst entweder auffallen wie ein bunter Hund oder ignoriert."
Keine Ahnung was mir besser gefallen würde. Aber nach der Party, meinem überdrehten Kuss mit Eddie und dem Händchenhalten mit Robin ist die Chance, dass mich niemand kennt, eher gering.
Ich bedanke mich bei der schon jetzt überarbeiteten Dame, deren Brillengläser so dick wie eine Schokoladentafel sind und verschwinde.
Mitten in einem ausgedehnten Ausatmen japse ich erschrocken auf, weil mich jemand an der Hüfte packt und zu sich zieht.
Mit erhobener Augenbraue sehe ich auf das unterschwellig panische Gesicht von Max.
Sie sieht immer wieder von links nach rechts, ihre Pupillen kommen einfach nicht zur Ruhe.
„Du darfst niemanden etwas davon sagen. Wenn Neil irgendwie erfährt, dass Billy schon wieder zu spät ist, gibt das einen Heidenärger."
Ich will fragen, wer Neil ist, aber als sie den Namen ihres Bruders erwähnt, brennt mir eine viel wichtigere Frage auf der Zunge.
„Wieso interessiert es dich, ob dein Schwachmat von Bru-"
„Charly bitte.", unterbricht sie mich flehend. Und ihre Mimik ist dabei so bedeutungsschwer, dass ich nickend zustimme.
Sie flüstert ein leises Dankeschön und verschwindet.
Wow. Das war ein sehr kurzes und sehr seltsames Gespräch.
Seltsam scheint mir hier zu vielem zu passen. Zu Steve's verändertem Charakter; zu meinem widersprüchlichen Verhalten; zu meinen noch widersprüchlicheren Gedanken gegenüber Robin...
Robin! Vielleicht habe ich einen Kurs mit ihr zusammen.
Ein flüchtiger Blick auf meinen Stundenplan sagt mir: Absolut nichts.
Denn ich habe ja keine Ahnung, welche Kurse sie besucht.
Genauso wenig habe ich den blassesten Schimmer, wo ich sie finden kann.
In der Hoffnung wenigstens ein vertrautes Gesicht zu erblicken, wandere ich unruhig umher.
Obwohl es schon längst geklingelt hat, sind die Flure noch extrem voll.
Die Drohung der Sekretärin scheint doch nicht so zu fruchten, das macht es noch einmal fraglicher, wieso Billy direkt eine Abmahnung kassiert hätte.
Zu meiner Enttäuschung finde ich weder Eddie, noch Steve und auch Robins lautstarkes Organ kann ich unter den Menschenmassen nicht hören.
Seufzend mache ich mich auf den Weg in das Klassenzimmer, in dem ich die nächsten zwei Stunden mit Mathematik gequält werde. Ausgerechnet Mathe.
Es ist nicht so, dass ich mir ausgesucht habe, Mathematik zu hassen. Ehrlich gesagt habe ich es in der Vergangenheit geliebt.
Und mit Vergangenheit meine ich in der Grundschule. Als alles so schön einfach gewesen ist. Zumindest in der Schule.
Zuhause ist es schon immer die reinste Hölle gewesen. Das personifizierte Übel in Form meines Erzeugers.
Auf jeden Fall habe ich Mathe geliebt. Ich habe extra vor der Schule in einem kleinen Heft freiwillige Aufgaben gemacht. F-R-E-I-W-I-L-L-I-G.
Ich habe mich ernsthaft noch vor der Schule, während ich meine Cornflakes gemampft habe, hingesetzt und Rechenaufgaben gelöst. So motiviert bin ich nie wieder gewesen. Leider.
Wenn ich mich mal wieder richtig anstrengen würde, könnte ich mehr erreichen. Das weiß ich. Ich glaube nicht gut in der Schule zu sein, ist wie ein kleiner Schutzmechanismus für mich gewesen.
Ich will nicht wie mein Vater sein. Reich und erfolgreich. Also tue ich das, was mir mit 12, mit 14 und jetzt mit 17 am Sinnvollsten erscheint: Ich bin schlecht in der Schule.
Damit ich nicht seinen Weg einschlage. Einschlagen muss. Deshalb habe ich mein Erbe auch abgelehnt. Selbst, wenn ich alt genug bin, werde ich keinen Cent von diesem ekelhaften Menschen annehmen.
Durch die Unterstützung von Evelyn und Peter habe ich trotzdem mehr Geld, als ich jemals ausgeben kann. Und das hasse ich. Fast genauso wie meinen Vater. Ich muss mir dringend Spendenstellen raussuchen, bei denen ich den Großteil meines Geldes lassen kann. Dort wird es dringender benötigt.
Ich schließe für den Bruchteil einer Sekunde meine Augen und atme tief durch. Um meine Gedanken zu stoppen, die wie ein Windrad unaufhörlich in mir Räder schlagen und um mich auf das vorzubereiten, was mich gleich erwartet.
Zaghaft klopfe ich an die massive Holztür, dabei wünscht sich ein utopischer Teil in mir, dass niemand aufmacht und ich verschont werde.
Neu zu sein ist ein schreckliches Gefühl.
Mit neugierigen Blicken auf Partys kann ich umgehen, aber von einem Sammelsurium an Schülern angestarrt zu werden - naja - das eher nicht.
„Hey der Unterricht findet heute draußen statt.", teilt mir eine Stimme mit. Und als ich ihre vertrauten Klänge erkannte, drehe ich mich freudestrahlend um.
„Elmo!", kreische ich begeistert und schlinge meine Arme um ihren Hals. Sie ist einen Kopf größer als ich, weshalb ich mich auf die Zehenspitzen stellen muss, um richtig an sie heranzukommen.
„Ich meine Robin.", verbessere ich mich kichernd. Ich sollte zumindest in der Schule aufhören sie so zu nennen.
Außerdem hat sie in einem Nebel aus Betrunkenheit und viel zu vielen Gefühlen auf einmal, klar gemacht, dass sie nicht viel von ihrem Kosenamen hält. Mir egal. Wenn wir unter uns sind, würde ich sie weiterhin so nennen.
Meine verabreichten Spitznamen sind - oder waren - legendär. Und sie passen irgendwie immer. Auch, wenn Elmo ein wenig weit hergeholt ist. Ich verstehe selbst nicht so ganz, wie ich darauf gekommen bin. Der Grünanteil ihrer Uniform ist viel dominanter gewesen. Kermit hat also Sinn ergeben.
Als ich sie bei ihrem richtigen Namen nenne, spüre ich, dass sie sich etwas verkrampft. Ich bin zwar überrascht, hinterfrage es aber nicht weiter. Denn im nächsten Moment erwidert sie endlich meine Umarmung.
Lächelnd schließe ich für wenige Sekunden meine Augen und genieße ihre warmen Arme, die mich festhalten.
Es ist lange her, dass ich umarmt wurde. So richtig umarmt. Nicht die perfümgeschwängerte erdrückende Umarmung von Evelyn oder das unangenehme Rückenklopfen von Peter. Steve habe ich bestimmt mit sechs das letzte Mal in die Arme genommen.
Irgendwann räuspert sie sich, weshalb ich mich sofort von ihr löse und mir beschämt durch das dunkle Haar streiche.
Notiz an mich selbst: Hör auf dich so seltsam gegenüber deinen Freunden zu benehmen.
Und da ist es wieder. Dieses Wort. Seltsam.
Hawkins an sich ist seltsam. Die Rasenflächen sind viel zu grün und wie bei Evelyn mit hässlichen Gartenzwergen gespickt und die Schule so typisiert wie nur irgendwie möglich.
Ein einziger Blick reicht und ich sehe die Nerds, die in ihren Büchern versunken über Parabeln diskutieren oder irgendein gesellschaftskritisches Problem auseinandernehmen.
Ich sehe die Cheerleader, die ihre perfekten Zöpfe noch perfekter und enger machen. Gott, bei dem Anblick kriege ich direkt Kopfschmerzen.
Ich sehe ihre dazugehörigen Testosterongestörten Spielerjungs und ich sehe eine Gruppe aus Jungen in Bandshirts, die entweder mit Würfeln zwischen ihren Fingern jonglieren oder sich angeregt über irgendetwas unterhalten.
Ich passe zu keinen von ihnen. Und ich will es auch nicht.
„Charly?", fragt mich Robin und reißt mich somit aus meiner klischeebehafteten Analyse der Schüler der Hawkins High.
„So kurz vor den Ferien interessiert es eigentlich niemanden, was man macht. Aber wir sollten uns zumindest in der Anwesenheitsliste eintragen lassen.", schlägt Robin vor.
Weil ich gar nicht wirklich weiß, was ich darauf antworten soll, nicke ich und folge ihr, als sie sich in Bewegung setzt.
Wir wollen gerade die Tür, die zum Hinterhof führt, öffnen, da läuft Dustin mit hektisch wedelnden Armen auf uns zu.
„Sie sind da! Schnappt euch irgendwas zum Verteidigen und los!", brüllt er aufgeregt.
Mit einem Grinsen auf den Lippen schnappe ich mir einen liegengebliebenen Regenschirm, spanne ihn vor mir auf und tue so, als würde ich ihn damit stechen wollen. „Was ist hier mit?", keuche euch und springe von rechts nach links und zurück, ganz wie beim Fechten.
Dustin nickt kräftig. „Ja, die Spitze ist gut!", bestärkt er mich.
Ich hebe argwöhnisch eine Augenbraue, Klappe den Schirm wieder ein und lehne mich daran. „Solltest du nicht im Unterricht sein?", sage ich tadelnd.
Daraufhin schüttelt er wie wild mit dem Kopf. „Keine Zeit. Kommt schon. Lucas, Mike und Steve sind auch da."
Als er meinen Cousin erwähnt, versteife ich mich und sehe fassungslos in sein ausdrucksstarkes Gesicht. Einige kleine Löckchen versperren ihm die volle Sicht.
„Steve?", frage ich verunsichert und begradige mich.
Warum zum Teufel würde Steve den Unterricht versäumen? Nicht, dass ich ihn als Schulass bezeichnen würde, um Gottes Willen. Er hat dreimal so lang wie ich gebraucht, um Lesen zu lernen.
Aber ich habe nicht unbedingt vermutet, dass er schwänzt, nur um - ja was eigentlich? Babyzusitten?
„Was ist hier los, Dustin?", mischt sich Robin zum ersten Mal in das Gespräch ein. Und die Art und Weise wie ernst sie klingt, gefällt mir nicht.
„Sie sind im Keller.", schnauft er, nimmt sich die Cap ab und fährt sich durch das schweißnasse Haar.
Ich ziehe überrascht meine Augenbrauen in die Höhe. „Die Schule hat einen Keller?"
Dass Schulen einen Keller besitzen, kenne ich so gar nicht. Sie sind für mich einfach ein Kastengebäude, das aus diversen Klassenzimmern und einem Lehrerzimmer besteht, in dem das Personal ganz sicher nicht nur Kaffee trinkt.
„Gehen wir.", bestimme ich und frage mich schon im nächsten Moment, warum. Was soll mich im Keller interessieren? Was interessiert es mich, was Steve mit seinen Kids anstellt?
Dann fällt mir wieder ein, dass Dustin uns mitgeteilt hat, dass Sie da sind. Wer sind Sie?
Ich will ihm genau diese Frage stellen, da kommt mir Max entgegengelaufen. In ihrer Hand hält sie ein Walkie-Talkie.
Es ist überdimensional groß und wirkt in ihrer Hand wie eine Granate. Und überhaupt. Wieso zum Teufel hat sie das Ding mit in der Schule? Wenn es angeht, muss das doch die gesamte Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
Auch das will ich fragen, aber ihr gehetztes Hin und Her Gelaufe und die ihre unverständlichen Gesprächsfetzen erwecken in mir den Eindruck, dass es eilt.
Also ergebe ich mich der Sinnlosigkeit ihrer Aufgabe und gehe einige Schritte vor. Nur, um ihnen zu symbolisieren, dass wir lossollen. Ich weiß ja nicht wo wir lang müssen.
Selbst, wenn ich es wissen würde, meine Orientierung ist so schlecht, dass ich mich sogar in meiner Heimatstadt verlaufen habe. Andauernd.
Setzt mich irgendwo ab, wo die Straße nur annähernd anders aussieht. Es reicht meist schon die gegengesetzte Richtung: Tada, ich bin verwirrt. Wo bin ich? Wie komme ich nach Hause? Mama!
Irgendwer stupst mir in die Seite, ich sehe hinauf und erkenne Robin, die verständnislos mit den Schultern zuckt.
„Was...?", gebe ich tonlos von mir und bewege meine Lippen dramatisch doll, damit sie von ihnen lesen kann.
„Keine Ahnung.", antwortet sie genauso still.
Und so kommt es, dass ich in einer Gruppe aus einem lispelnden Lockenkopf, einer roten Zora mit anscheinend kurzer Zündschnur, die aus welchen Gründen auch immer ihren egoistischen machohaften Bruder verteidigt und – für Robin finde ich keine Beschreibung, die ihr gerecht werden würde – Robin durch die Flure spaziere, bis wir vor einer stählernen Tür Halt machen.
„Kurze Vorwarnung, was mich erwarten wird? Eine Folterkammer? Nacktfotos der gesamten Schule? Geld? Diamanten? Juwelen?"
„Der Tod.", antwortet Dustin theatralisch und öffnet die Tür.
Cool. Wollte schon immer an meinem ersten Schultag sterben. Warum also nicht.
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