𝟲𝟰 | Eudaimonie
philosophisch
Substantiv, f.
Glückseligkeit (Ziel allen Handelns)
「✿」
Schon seit guten 15 Minuten saßen sie sich stumm gegenüber.
Yoona hatte den Blick zur Platte gewandt und schien, sich darauf ein Puzzle aus Worten zurechtzulegen, das sie Taeil auftischen wollte. Eine Schüssel mit frischem Salat fand darauf Platz, die sie für ihn zubereitet hatte. Es war eine mit goldenem Rand, die Taeil nie mit dem Schwamm reinigen durfte, sondern mit der bloßen Hand waschen musste, damit der metallische Lack nicht abblätterte. Und in die Mikrowelle durfte man sie auch nicht stellen.
Taeil hatte als kleines Kind mal damit Schokolade schmelzen wollen, dabei hatte er durch die matte Plastikscheibe beobachten können, wie der Innenraum von Blitzen und Funken erleuchtet worden war. Damals hatte er zu Yoona gesagt, » da wäre ein Unwetter in der Mikrowelle «, und sie war panisch in die Küche gestürmt.
Bei der Erinnerung legte sich ein kleines Lächeln über seine Lippen. Yoona dachte, es galt ihr, weshalb sie den Blick hob und die vermeintliche Geste schwach erwiderte. » Isst du denn nicht? «
Bedrückt betrachtete er den Salat vor sich und schüttelte wortlos den Kopf.
» Du warst in den letzten Tagen viel unterwegs «, bemerkte sie, worin sie den Appell kaschierte, dass er eine Antwort auf die Fragen › Wo? ‹ und › Mit wem? ‹ liefern sollte. Da Taeil wieder bloß nickte, fuhr sie fort: » Ich möchte nicht, dass wir wie in diesen Serien verenden, in denen der Sohn mit einem hübschen Mädchen durchbrennt und nie wieder mit seiner Mutter spricht. Ich liebe dich, Taeil, und ich ... ich würde mir wünschen, dass wir einander nicht mehr anlügen. Ich will, dass die Geheimnistuerei aufhört. «
Taeil schob die Schüssel von sich. » Dann fang an. «
Sie schnalzte mit der Zunge. » Was ist es? Das dich so sehr daran reizt? «
» Es gehört zu mir und ich muss es wissen. «
» Ich habe in meinem ganzen Leben so viel Liebe und Fürsorge für dich aufgebracht, ich habe dich immer beschützt, alles darin investiert, dass du eine gute Zukunft hast. Und trotzdem hängst du an dieser Sache mit ... ihm. «
» Ich weiß und ich weiß das sehr zu schätzen, aber ... «
Ja, warum eigentlich? Warum klammerte er sich an diesem Gedanken so fest? Einfach, weil er keine Geheimnisse mochte? Er wusste es nicht. Selbst wenn er ihn kennenlernen würde, was würde da passieren? Mit offenen Armen würde er Taeil sicher nicht empfangen. Um ehrlich zu sein, wusste Taeil nicht, ob er sich selbst überhaupt freuen würde. Wieso? Das war die Frage. Brauchte er so dringend Gewissheit? Wieso? Wieso nicht? Darüber hatte Taeil nie nachgedacht.
» Ich weiß nicht. «
» Glaubst du nicht, es wäre besser, wenn es dann liegen bleibt? Unangetastet? « Einige Sekunden später streckte Yoona die Hand aus und platzierte sie offen auf dem Tisch, damit Taeil seine in ihre legen konnte. Zögerlich umschloss er mit seinen Fingern ihre Handfläche. » Dieser Mensch hat mir nur Leid bereitet ─ «
» Du meinst mich? «
Sie sog scharf die Luft ein. » Du weißt ganz genau, dass ich das nicht meinte. « Sie drückte Taeils Hand. » Er hat mich damals ganz alleine gelassen. Ich hatte niemanden. Für meine Eltern war ich eine Enttäuschung. Sie wollten, dass ich abtreibe, obwohl es illegal und gefährlich war. « Sie schüttelte den Kopf. » Ich habe nein gesagt. Ich habe mir schon immer gesagt, wenn ich mal ein Kind haben sollte, werde ich alles tun, damit es ihm gut geht. Meine Eltern ... waren nie gut zu mir, Taeil. «
Taeil biss sich auf die Unterlippe. Sein schlechtes Gewissen bereitete ihm Kopfschmerzen.
» Ist auch nicht so wichtig, nur in dem Moment ... war ich für sie gestorben. Weißt du, wenn du einmal abgestempelt wirst, hast du bei allen verloren. Die einzige Person, die dann noch zu mir gehalten hat, war meine Tante. Wir waren sehr oft bei ihr, erinnerst du dich? «
Ein vages, freundliches Gesicht zeichnete sich vor Taeils innerem Auge ab. Er nickte.
» Sie war die Einzige, die in mir immer noch etwas gesehen hat. Sie war immer kinderlos geblieben, deshalb hat sie mich vielleicht so sehr geliebt «, gab sie zu und zuckte mit den Achseln. Ihre Augen sahen im gelben Licht kurz glasig aus, womöglich hatte Taeil aber auch nur phantasiert. » Es war nicht einfach, weil ihr Mann auch nicht viel mit mir anzufangen wusste, aber sie hat an mich geglaubt. Ich habe meinen Abschluss nachgeholt und so viel gelernt, wie es nur ging, damit ich dir später ein gutes Leben bieten kann, Taeil. Darum hast du als Kind auch so viel Zeit mit Tante Youngmi verbracht. Verstehst du das? «
Taeil nickte wieder.
» Tut mir leid, das ist gerade ein bisschen viel. « Sie fuhr sich durch die glatten, schwarzen Haare. » Du glaubst nicht, wie teuer das alles war. Wie viele Jobs ich angenommen habe, um uns über Wasser zu halten. Versteh mich nicht falsch, Youngmi war recht wohlhabend, nicht reich, aber gute Mittelschicht. Aber ich konnte sie nicht noch mehr belasten. « Ein zynisches Lachen rutschte ihr über die Lippen. » Seitdem habe ich wirklich gelernt, was es bedeutet, kein Geld für irgendetwas zu haben, das man nicht zum Überleben braucht. Ich weiß, du hattest nie so viel Spielzeug wie die anderen Kinder und du hast auch nur selten Freunde einladen oder besuchen können. Das tut mir leid, Taeil. Ich habe getan, was ich konnte, aber ich war so beschäftigt. Ich wollte nur diese Ausbildung schaffen, habe hier und da gekellnert, es war so ... « Jetzt zitterte ihre Stimme. » Es war so furchtbar anstrengend. Ich habe nachts so viel geweint, Taeil, weil alles wehgetan hat und ich dachte, du könntest mich dafür hassen. Dass ich so selten da war und dir nie die Mutter sein konnte, die ich mir als Kind gewünscht habe. «
» Ich habe dich nie gehasst. Ich hätte dich nie hassen können «, kam Taeil dazwischen. » Ich wusste ja, dass du nichts dafür kannst. «
Je älter Taeil geworden war, desto mehr und mehr hatte verstanden, was es wirklich hieß, seine Unschuld zu verlieren. Nicht Unschuld verlieren wie das erste Mal haben, sondern Unschuld. Nichts zu wissen. Nichts zu verstehen. Alles war nur ein Spielplatz. Es gab keine schlechten Dinge, außer man hatte die tolle Folge seiner Lieblingssendung im Fernsehen verpasst. Das war das wirkliche Problem. Man verstand nichts von Geld oder Krieg oder Macht.
Manchmal bekam er das Gefühl, er hätte seine Unschuld schon sehr früh verloren. Vielleicht als er Yoona das erste Mal in ihrem Bett hatte weinen sehen, vielleicht auch wann anders. Er wusste es nicht.
» Ich hoffe nur, du weißt, wie viel du mir bedeutest und wie sehr ich dich liebe, Taeil. « Nun sah sie ihm wieder fest in die Augen. » Trotz allem haben wir es geschafft, zu überleben, oder? Es ist kein Luxus, aber du hast alles, was du brauchst. Und später verdienst du bestimmt viel Geld, lernst eine hübsche Frau kennen und ihr werdet Kinder haben. Aber jetzt ist noch nicht der Zeitpunkt, nach diesem Glück zu suchen. Okay? «
Taeil schüttelte den Kopf. Er wusste, dass Yoona glaubte, Taeil würde mit jemandem ausgehen. Das war nicht ganz falsch, aber sonderlich weiblich war dieser Jemand nicht. » Ich weiß, aber ich habe mich verliebt. «
In ihren Augen blitzte Neugier auf. Ich habe es gewusst, dachte sie wahrscheinlich und fragte: » In wen? Ist sie hübsch? «
» Sie ist sehr hübsch. «
» Auch intelligent? «
» Ziemlich. «
» Hm, okay ... Kenne ich sie? «
» Ziemlich gut. Ich glaube, du magst sie aber nicht. «
» Yoowon aus dem Chor? Die immer so hibbelig war? «
Taeil schüttelte den Kopf. Sein Herz prügelte heftig auf seine Brust ein. » Yuta. «
» Yuta? «, wiederholte Yoona und durchsuchte ihr gesamtes Gehirn nach Besagtem, schien aber nicht fündig zu werden. » Klingt exotisch. Ist sie Ausländerin? «
» Japaner. «
Jetzt machte es klick. » Jetzt nimmst du mich aber auf den Arm. Sag schon, wer sie ist. «
» Es ist Yuta. Mein voller Ernst. «
» Du lügst doch. «
» Ich habe mich in einen hübschen, intelligenten Jungen verliebt, und er heißt Yuta. « Jetzt wurde das schmerzhafte Gefühl in seiner Brust immer stärker. Er hatte solche Angst. Hätte er das erzählen sollen? Die Zentrale brannte, stand hellauf in Flammen. Alle seine Gedanken und Hoffnungen entzündeten sich von selbst. Er hatte solche Angst, solche verdammte Angst.
» Langsam wird es lächerlich, Taeil, sei ehrlich. «
Die Zentrale brannte hell, brannte heller, brannte am hellsten. Er hatte solche Angst. » Ich w-weiß, das macht vielleicht k-keinen Sinn, aber ich habe Yuta wirklich sehr gern ... wirklich unfassbar gern. Er ist wirklich lieb und beschützt mich immer und ich kann immer mit ihm reden ... Ich habe ihn so gern. « Tränen stiegen ihm die Augen. » Sei mir deswegen bitte nicht böse. «
Yoona wandte den Blick ab. » Ein ... Ein Junge? Das ist ... absurd. «
Furchtsam sah Taeil zu ihr auf. Ja, jetzt erschien sie ruhig, aber das war immer so. Die ersten paar Minuten verhielt sie sich, als wäre nichts, und dann fing sie an, Taeil anzuschreien und zu kritisieren, bis es nicht mehr ging. Aus diesem Grund hielt er bereits die Luft an und zählte herunter, bis das Feuer schließlich explodierte. Alle auf den Boden. Hände über den Kopf. Verschont die Zivilisten.
Allerdings starrte sie nur schweigend auf die Tischplatte.
» Oh Gott «, murmelte sie, parallel dazu führte sie eine Hand an ihre Schläfe, wie sie es immer tat, wenn sie gestresst war. Taeil bemerkte, dass seine Hände wie Espenlaub zitterten. » ... Ich ... Ich will keine Flecken sehen. Und bitte gebt mir nicht die Gelegenheit, euch zu erwischen ... bei irgendwas. Ich will es auf jeden Fall nicht sehen. «
Die meterhohe Stichflamme wurde zu einem kleinen Lagerfeuer. » Warte, du nimmst das einfach so hin? «
» Naja, du hast Bedürfnisse ... «
» Yuta ist ... Also ... er ist ja ... kein Mädchen. Ist das okay? «
» Achso, ah ... Ich ... äh ... « Eine Zeit lang presste sie die Lippen überlegend aufeinander. » Ich muss etwas darüber ... nachdenken ... Aber schau doch, du bist 18 Jahre alt. In ein paar Jahren bist du weg und dann ... habe ich dir sowieso nichts mehr vorzuschreiben. Du bist auf dem Weg, erwachsen zu werden und lernst schon, was richtig für dich ist. Eigentlich habe ich doch gar nicht über deine Zukunft zu entscheiden. «
» Okay, aber «, er biss sich kurz angespannt auf die Unterlippe, bevor er weitersprach, » du findest mich nicht ... komisch, oder? «
» Nein, um Gottes Willen, Taeil «, fluchte sie und schüttelte den Kopf. » Ich liebe dich. Wirklich. Es ist mir egal, wen du gern hast, ich frage mich nur ... « Nun klang ihre Stimme wieder so unsicher, brechend, kaputt. » Warum hast du es mir nicht einfach gesagt? Ich ... Ich verurteile dich doch für nichts, Taeil. Du bist ... mein Ein und Alles und ich würde alles für dich aufgeben. Und trotzdem ... vertraust du mir nicht. Es tut einfach weh, das jeden Tag zu spüren. «
» Ich vertraue dir ─ «
» Nein, tust du nicht. Aber es ist meine Schuld. Ich bin eine schreckliche Mutter. Indem ich dich immerzu kontrollieren und ... ich weiß nicht, perfekt machen wollte, habe ich alles nur schlimmer gemacht. Ich wollte besser als meine Mutter sein, und trotzdem will mein eigener Sohn nichts von mir wissen. Ich bin so ... Es tut mir so leid, Taeil «, schluchzte sie und legte eine Hand über ihre Lippen. » Ich bin eine furchtbare Mutter. «
» Nein, bitte glaub das nicht «, stellte Taeil dem entgegen und spürte plötzlich auch ein Stechen in seiner Kehle. Yoona beim Weinen zu sehen brachte ihn nämlich auch zum Weinen. Okay, Yoona war nicht perfekt, aber niemand war das. Für Taeil war sie trotzdem der beste Mensch der Welt; sie war die Person, die ihn getröstet hatte, wenn es ihm schlecht ging, die ihm Geschichten vorgelesen hatte, wenn er nicht schlafen konnte, die mit ihm Kekse gebacken hatte, wenn Weihnachten war ─ und ja, vielleicht war ihr Band nicht so eng wie früher, aber daran waren sie beide schuld. Sie mussten daran arbeiten, ehrlicher sein. » Ich dachte nur, dass ich ... dann nicht in dein ... Ebenbild passe, aber ... «
» Es tut mir leid, dass du immer unter solchem Druck standest, ich ... ich wollte nur das Beste für dich, aber das Beste ... findest du selbst, glaube ich. « Sie warf ihre Serviette auf die Theke, danach sah sie endlich zu Taeil auf. » Lass uns keine Geheimnisse mehr haben, ja? «
» Keine Geheimnisse? «
» Ja «, stimmte sie zu und nickte hektisch, während sie sich die Wasserströme aus dem Gesicht wischte. » Erzähl erstmal was von dem Jungen. «
» Ich hatte das Gefühl, er wäre dir unsympathisch. «
Yoona zuckte mit den Schultern. » Er hatte Piercings. Ich dachte, vielleicht hat er auch Tattoos und sitzt bei der Yakuza am Verhandlungstisch. «
» Das ist so klischeehaft! Und Tattoos hat er keine. «
» Hast du denn schon alles gesehen? «
» Naja, ich ... Warte mal, das fragst du nur, weil du wissen willst, ob wir miteinander geschlafen haben! «
» Und? Habt ihr? «
» Sage ich dir nicht! «
» Oh Gott, mein Baby «, brachte sie weinerlich hervor und legte ihre freie Hand über den Mund. » Du bist doch mein Baby, Taeil. «
» Eomma, bitte ... «
Taeil glaubte, das Feuer nicht mehr knistern zu hören. Es war nun ganz still. Als hätte es jemand mit einem beruhigenden Wall an Wasser gelöscht.
» Keine Lügen mehr, okay? «, wiederholte sie und kniff die Augen fest zusammen. » Wir lügen einander nie wieder an. Nie wieder. Wir sind eine Familie, wir dürfen nicht lügen. «
Taeil nickte und erwiderte den sanften Druck, den Yoona mit ihrer Hand auf die seine ausübte.
» Wenn dich diese Sache mit deinem Vater wirklich so fertigmacht «, sie öffnete die Augen, » wäre ich bereit, irgendwie zu versuchen, ihn zu kontaktieren. Ich weiß aber so gut wie nichts bis auf seinen Namen. Ich könnte ─ «
» Nein, ich ... ich glaube, wir sollten die Vergangenheit ruhen lassen. «
Yoonas Augen wurden groß, doch sie nickte mehr als erleichtert und lächelte schwach. Danach sah sie auf ihre verfalteten Hände. Vielleicht war es das Beste, wenn er sie nicht unnötig mit etwas belastete, das ihn im Leben sowieso nicht weiterbrachte. Es wäre egoistisch, das von ihr zu verlangen. Sie hatte genug zu kämpfen, spätestens jetzt sollten alle ihre Waffen niederlegen und versuchen, auf Harmonie hinzuarbeiten.
» Weiß noch jemand von euch beiden? «
» Nur Mark und Doyoung. Meine besten Freunde. «
Yoona seufzte, nickte dennoch zufriedengestellt. » Zumindest erfahre ich es nicht als Letztes. «
Als wäre ihm ein Stein vom Herzen gefallen. Taeil fühlte sich so befreit. Jetzt wusste sie es. Jetzt gab es keine Geheimnisse mehr. Nie wieder.
Sofort brach Taeil in Tränen aus. Das war so schön. Das war so wunderschön.
In Windeseile stand Yoona auf und umarmte Taeil ganz fest, immer wieder abwechselnd sagend » Was ist los? « und » Es tut mir leid «, doch er hörte nicht auf, zu heulen. Auf Anhieb könnte er das auch nicht.
» Ich bin nur so glücklich «, brachte er wimmernd hervor und presste sein Gesicht fest an Yoonas Brust. Sie streichelte ihm behutsam durch die Haare und flüsterte ihm beruhigende Worte zu, bis die Tränen versiegten.
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