𝟱𝟭 | Geschwindigkeit
standardsprachlich
Substantiv, f.
1. Verhältnis von zurückgelegtem Weg zu aufgewendeter Zeit
2. Schnelligkeit, Tempo
「✿」
» Oh ... wow. «
Sicheng starrte sie beide aus geschockt aufgerissenen Augenlidern an. Das Handy in seiner Hand, das eigentlich Taeil gehörte und von ihm scheinbar vergessen worden war, fiel ihm wie ein rutschiges Stück Seife aus der Hand. Mit einem kaum hörbaren Aufprall landete es auf dem Boden. Dass Taeil es nicht mitbekam, lag vermutlich daran, dass er gerade zu überfordert war.
Sein Herz blieb stehen.
Nein, es setzte buchstäblich einen Schlag aus.
Die Welt war für diese eine Sekunde wie festgefroren. Taeil dachte nicht, es wäre eine Sekunde. Es war eine Minute. Eine Stunde. Jahrelange Freundschaft, die nun letztendlich komplett zerbrach. Als hätte man diesen hauchdünnen Faden, der sie bis eben noch verbunden hatte, doch noch auseinandergerissen. Nur eine Sekunde. Eine Sekunde, in der man so viel hätte anders machen können.
» I-Ich ... habe dein ... «, brachte stockend Sicheng hervor und lieferte sich ein vorwurfsvolles Wettstarren mit dem Smartphone, während er ein paar Schritte zurücktrat. » E-Egal, ich ... gehe besser ... «
Und dann kehrte er um. Die Sekunde war vergangen.
» Tae ... «, sagte Yuta leise und kniff kurz die Augen zusammen, als würde er sich fürchten. » Das ist nicht ... das Ende der Welt. «
Es war nicht das Ende der Welt. Natürlich war es nicht das Ende der Welt. Taeil konnte es nur nicht begreifen. Von allen Menschen hatte es wohl Sicheng sein müssen, der sie erwischte. Der, der es als Allerletztes erfahren sollte. Oder am besten niemals.
» Hör zu «, bat er und legte eine Hand an Taeils Wange, doch er wandte lediglich den Blick ab, weil er Yuta gerade weder berühren noch ansehen wollte. Auf einmal hämmerte sein Herz so stark gegen seine Rippen, dass es wehtat.
» Taeil, mach dich jetzt nicht verrückt. «
» Es war ... irgendwie klar «, seufzte er, denn ja, das Universum schickte ein schlechtes Omen nach dem anderen. Nein, Taeil war nicht abergläubisch, aber er wusste, dass gerade alles den Bach herunterging. Irgendetwas stimmte hier nicht. Wie konnten zwei Menschen so viel Pech auf einmal haben? Standen erstmal auf dieselbe Person, nur um sich daraufhin in die Arme zu fallen und unnötig in so ein kompliziertes Gefühlschaos zu geraten. Alles sprach gegen sie.
» Komm, es ist doch nicht so ─ «
» Ich finde es schlimm, Yuta «, meinte Taeil verzweifelt und schüttelte den Kopf. » Das ist doch alles ... «
» Tae, ich bin mir sicher, er wird nichts erzählen «, versuchte er, ihn zu beruhigen.
» Woher wollen wir das wissen? Ich nehme ihm den besten Freund weg und lasse ihn allein im Regen stehen, natürlich wird er da wütend auf mich sein und das ... Wer weiß? Als Trumpf ausspielen ... «
» Du hast mich ihm nicht weggenommen. Außerdem kennst du ihn «, stellte Yuta dem entgegen und strich mit einer Hand über seinen Oberarm. Diesmal wehrte Taeil sich nicht. » Selbst wenn es ihn wütend macht, wird er nichts tun. Erstens, weil sowohl ich als auch du ihm noch wichtig sind, zweitens, weil er niemandem etwas Schlechtes wollen würde. Er ist ein guter Mensch. «
» Bisher vielleicht! Aber ich ... « Taeil spürte, wie sich langsam Tränen anbahnten. » Verdammt, ich muss zu ihm. «
» Tae? « Der Angesprochene reagierte nicht, sondern stand schnell auf, wurde aber von einem harten, selbstbestimmten Griff an seiner Schulter aufgehalten. » Taeil, sieh mich an. «
» Nicht jetzt. «
» Taeil, ich habe gesagt, sieh mich an. «
Taeil biss sich angespannt auf die Unterlippe, bevor er nachgab und nochmals hinter sich schaute. » Was denn? «
» Es geht hier nicht darum, dass er uns verpfeifen könnte, oder? «, fragte er plötzlich furchtbar ernst, doch in seinem Blick fand sich etwas Schwaches. Etwas Kleines, Verletzliches, so klein und verletzlich, wie er es gar nicht von Yuta kannte. Yuta war superior, gab den Ton an, war selbstsicher und wusste, was er wollte, er war nicht klein und verletzlich, nie. » Es geht hier um etwas anderes, nicht wahr? «
Zunächst schwieg er gut mehrere Sekunden. Danach riss er sich endlich von Yuta und stand ohne ein letztes Wort auf. In Wahrheit war vielleicht nicht Yuta der Ritter. Vielleicht war es auch Taeil, der dachte, er müsste den Tag retten.
Schnell sprintete er Sicheng hinterher, so schnell, wie er eben rennen konnte. Taeil war kein guter Läufer, er war langsam und hatte keine Ausdauer, aber jetzt ging es für ihn um etwas.
Sicheng saß auf dem Gehsteig und starrte mit verschränkten Armen den dunklen Teer des Asphalts an. Nur ein paar Meter. Taeil hielt durch, bis er ihm fast vor die Füße stolperte.
» Tae, was ... ? «, machte er und schaute irritiert zu Taeil auf, der sich gerade fix und fertig auf seine Knie stützte.
» Sicheng, das, ich, er, das, mh «, ächzte er und japste anschließend hastig nach Luft. Seine Lunge brannte höllisch.
» Taeil, bitte ... Das ... Also das, was ihr da ... gemacht habt, geht mich nichts an «, murmelte Sicheng entnervt und wandte den Blick zur Straße, als wäre dort gerade etwas Wichtigeres.
» Natürlich geht dich das was an. Wir sind immerhin ─ « Taeil unterbrach sich selbst. Oh. Sie waren keine Freunde. Sie hatten ihren Mauerfall, aber das mit Freundschaft gleichzusetzen, wäre nicht richtig. » Also ... du solltest zumindest nicht komplett verwirrt nach Hause kommen. «
» Nein, es geht mich echt nichts an. Es tut mir Leid, dass ich da so ... reingeplatzt bin. « Die Erinnerung schien sich vor seinen Augen abzuspielen, da er beide Hände übers Gesicht schlug und ein entsetztes » Oh Gott ... « entließ. Scheinbar bekam er die Szene nicht aus dem Kopf.
» Das ist alles ... ein großes Missverständnis «, redete Taeil sich heraus und richtete sich langsam auf, obwohl ihm keine andere plausible Erklärung einfiel.
» Das war ... so was von eindeutig «, merkte er an und atmete angestrengt aus. » Wie Yuta dich ... « Er beendete den Satz nicht, weil es ihm zu unangenehm zu sein schien.
» Aber wenn du ... wenn du mich nur anhörst ... dann ... «
» Ist egal, ist mir so was von egal. Ehrlich, es geht mich nichts an «, erwiderte Sicheng und ließ die Hände schließlich zu seinem Hals fahren. Taeil kam es so vor, als wollte er vom Thema ablenken und so schnell wie möglich das Gespräch beenden.
» Red keinen Nonsens! «, befahl Taeil peinlich berührt. Erschien es ihm wirklich so abwegig? » ... Du findest es komisch, nicht? «
Während er seine Antwort überdachte, zog er den Saum seines Oberteils etwas nach unten. » Nein, nein ... Auf gar keinen Fall. «
» Warum bist du plötzlich so? Eben hast du dich noch entschuldigt und von Frieden gesprochen. «
» War es nicht ein Mauerfall? «
» Das tut nichts zur Sache. Was hat sich in diesem Moment geändert, dass du dich jetzt so von mir abwendest? Du kannst mich ja nicht einmal ansehen. «
» Ich kann dich ansehen! «, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. » Dir kann es egal sein, werd glücklich! Es geht mich nichts an! «
» Dann sieh mich an, Sicheng «, befahl er flehentlich, langsam, deutlich. » Schau mir in die Augen und sag, dass es für dich absolut normal ist. «
» Es ist normal, es ist normal, es ist normal, Taeil! «, spuckte er aufgebracht so schnell wie er konnte, die Augen dabei endlich nach ihm ausgerichtet. » Es ist normal, es ist normal, es ist normal! Es geht mich nichts an, es ist mir egal! «
Taeil hob die Schultern, seine Miene definierte sich durch Skepsis. » Warum glaube ich dir dann nicht? «
» Was denkst du denn, wie das ist? «, zischte Sicheng, seine Augen glänzten für einen kurzen Moment glasig. Womöglich hatte Taeil sich das auch nur eingebildet. » Weißt du, bis eben dachte ich noch: › Okay, jetzt wendet sich alles zum Guten. ‹ Und dann sehe ich ... meine ehemaligen besten Freunde ... «
» Was heißt hier › ehemalig ‹? «, hinterfragte Taeil verwirrt. » Was ist denn mit Yuta? «
» Es ist nicht dasselbe, Taeil. Es ist einfach nicht dasselbe. Ich habe ständig das Gefühl, er fühlt sich unwohl, wenn ich da bin, er redet weniger, es ... es ist so komisch. Ich weiß, dass er es gut meint, aber egal wie nett er ist, er behält immer diese Distanz zwischen uns. Jetzt ist mir auch irgendwie bewusst, warum. « Verunsichert stieß er mit der Zunge gegen seine Wange. » Klar, es ist, als würde er dir in den Rücken fallen, wenn er bei mir ist, nicht wahr? «
» Was? Sag so was nicht! Niemand fällt mir in den Rücken, ehrlich! « Lüge. Er hatte Yuta doch erst deswegen verunsichert. Vielleicht gestand er Yuta jetzt Sichengs Nähe zu, aber abgeschreckt hatte er ihn trotzdem.
» Also bitte. Ich habe dich abgewiesen und noch dazu ... hat Yuta eine Zeit lang etwas für mich ... « Er sprach nicht weiter. Taeil konnte die Aussage innerlich selbst weiterführen.
» Na und? Ist das für dich schon eine Kriegserklärung? «
» Für mich ist es ein Denkzettel, Taeil. «
Taeil verstand nicht. » Ein ... Ein Denkzettel? «
» Ein Denkzettel «, wiederholte er und spielte weiterhin hilflos an seinem Shirt herum, als gäbe lediglich das ihm gerade die Sicherheit, dass das hier eiskalte Realität war. » Tut schon weh, aber ... aber glaub nicht, dass ich es nicht verstehe. Ich verstehe es vollkommen. « Er zog die Nase hoch, als müsste er gleich weinen. » Ich habe das, was ich hatte, nie geschätzt. «
» Für diese Erkenntnis ist es etwas spät «, er rieb sich instinktiv über die Oberarme, weil es ihn bei Sichengs Worten schauerte, » meinst du nicht? «
» Ich weiß doch, ich weiß doch, aber ... «, er führte den Gedankengang mal wieder nicht zu Ende. Eine Weile lang herrschte Schweigen zwischen ihnen. Fahrende Wägen aus der Ferne und raschelnde Blätter bildeten die einzige Geräuschekulisse.
Bis Sicheng beide Hände über den Mund schlug. » Ich bin echt zu bemitleiden ... Weißt du? Und die ganze Zeit denke ich: Verdammt, ich würde alles tun, um die Zeit zurückzudrehen. «
» Auch das hätte nicht viel geändert, um ehrlich zu sein. Aber es tut mir leid, dass du das nicht kannst. «
» Warum tut dir immer alles leid? Hör auf damit, dich immer darum zu kümmern, wie es anderen geht. Ich war nie für dich da und du meinst immer noch, dich dafür interessieren zu müssen, was ich von alldem halte oder wie ich damit zurechtkomme. Das tut umso mehr weh. «
» Ich glaube, das ist eine Eigenschaft, die ... du nicht hast «, stellte er lachend fest. Es war kein amüsiertes oder hämisches Lachen. Taeil fand, dass es irgendwie eine ungekannte Melancholie mit sich trug. » Dich darum zu kümmern, wie jemand anderes sich fühlt. Es ist nicht so, dass du es nicht kannst, es ... es interessiert dich nur nicht. Ich habe irgendwie immer können mit wollen verwechselt, fällt mir gerade auf. «
» Es ... interessiert mich natürlich! «
» Mh-mh, überhaupt nicht «, widersprach er abwesend, total versunken in Erinnerungen. Plötzlich sah er ihre gemeinsame Zeit mit anderen Augen. » Eigentlich war es so vorhersehbar. Ich meine: Ich bin dir immer hinterhergerannt und habe mir angehört, was dir auf dem Herzen lag. Auch hier und jetzt tue ich es gerade «, murmelte er sachlich, als würde er es in einen Diagnosebogen notieren. » Du willst deine Gefühle immer nur auskotzen und sie jemanden in den Rachen schieben, aber auch mal für jemanden da sein, hm ... Das war nie dein Ding. «
» Taeil, denk das bitte nicht. «
» Ich meine zumindest ein kleines › Wie geht's? ‹ hätte gereicht. Auch nochmal nachzuhaken, wenn ich offensichtlich etwas auf dem Herzen hatte. Aber du brauchtest das ja nicht. « Er seufzte. » Wir Idioten haben dir sowieso jeden Wunsch von den Lippen abgelesen. Als wärst du ... eine Prinzessin. Aber das ... das will ich nicht mehr. « Taeil machte eine kurze Pause. Seine Adern pulsierten noch immer ungewöhnlich heiß unter seiner Haut. » Ich hoffe, ich bin nicht mehr so naiv. «
Es war, als hätte jemand auf Reset gedrückt. Neue Informationen füllten seinen Kopf, nachdem die alten ausnahmslos verschwunden waren. Jede Sekunde mit Sicheng war kein Segen mehr, sondern eine weitere Lektion, die ihm seine Vernunft erteilt hatte, weil er zu blind war. Zu blind, um zu sehen, was hier lief. Dass hier alles eindeutig falsch lief.
» Sicheng, ich ... ich mag Yuta sehr. «
Er schwieg.
» Wirklich sehr. So richtig mega doll «, er neigte verträumt den Kopf. » Er ist so lieb und fürsorglich. Er gibt mir all das, was du mir nie gegeben hast. «
» Ich habe mir das nicht unbedingt ausgesucht. «
» Nein, hör mal! Es ist ja nicht schlimm. Du hast mich nicht geliebt, das war absolut in Ordnung. Aber Yuta ... ist so gut zu mir und das erste Mal seit langer Zeit fühlen sich die Schmetterlinge in meinem Bauch richtig an «, fügte er hinzu und lächelte ungewollt, während er sich zuversichtlich zu Sicheng setzte. » Es tut mir Leid, ich würde dir wirklich gerne etwas davon abgeben. «
» Tae ... «
» Ich habe dir wohl den tollsten Kerl der Welt ausgespannt. « Taeil kratzte sich am Kinn. » Das tut mir ehrlich leid. Aber ich bin wohl irgendwie verknallt, glaube ich. Bevor ich wieder daran kaputtgehe, will ich es zumindest einmal genießen. « Er nahm vorsichtig Sichengs Hand. » Darf ich? «
Sicheng presste widerwillig die Lippen aufeinander. » Frag doch nicht mich um Erlaubnis. «
» Ich weiß nicht. Ich hatte das Gefühl, ich bräuchte deinen Segen. «
» Was hätte ich für ein Recht, es zu verbieten? «
» Würdest du es verbieten, wenn du könntest? «
» Ist das ein Test? «
Taeil lachte. » Nicht ganz. Wird allgemein als › Frage ‹ bezeichnet. «
» Das ist ein Test, scheiße, Taeil, du weißt, dass ich nicht gut in so was bin «, sagte er zwar noch immer angespannt, aber zumindest ein wenig gelassener, und versuchte sich ebenfalls an einem schwachen Lächeln. Als hätte man zwischen ihnen eine Symmetrieachse gezogen. Zwar war Sicheng größer, doch Taeil hatte endlich das Gefühl, sie wären auf Augenhöhe. » Natürlich nicht. Dürfte ich nicht, wollte ich nicht. Ich wünsche euch echt alles Gute, denke ich. «
Taeil glaubte fest, dass es die Wahrheit war. Eine andere Wahl hatte er nicht. » Danke. «
Ein weißer Bus bog um die Ecke. Die Ziffern konnte Taeil aus der Ferne nicht erkennen. Sicheng funktionierte seine freie Hand als Schattenspender um und schaute in die Richtung, aus der das Geräusch kam. » Oh, ich muss. « Er drückte nochmal Taeils Hand, bevor er sich erhob und zügig seinen Rucksack schulterte. » Bis ... Bis dann, denke ich. «
Taeil nickte nur und warf ihm ebenfalls eine Verabschiedung hinterher. Für ein paar Sekunden fühlte sich alles unfassbar leicht an. Wie Helium.
Irgendwie hatte er das Gefühl, es wäre zu Ende.
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