𝟮𝟬 | Neuanfang
standardsprachlich
Substantiv, m.
Neubeginn
「✿」
Als kleiner Stalker, der er nun einmal war, sah Taeil von seinem Platz in der zweiten Reihe aus rüber zu Sicheng, der im Gegensatz zu ihm auf der Fensterseite des Raumes saß und gerade gedankenverloren mit einem Bleistift spielte. Seine dunkelbraunen Haare glänzten in den frischen Sonnenstrahlen des Frühsommers und seine kastanienfarbenen Augen starrten müde und desinteressiert ins Nichts. Er hatte das Gesicht auf eine seiner Hände gestemmt und war gerade bestimmt überall, nur nicht in diesem Klassenzimmer.
Taeil spürte sein Herz wieder schmerzhaft in seiner Brust schlagen. Schon seit zwei Wochen ignorierten sie sich stetig und es war unerträglich. Jedes Mal, wenn er diesen Jungen sah, überkam ihn die Sehnsucht nach seiner wunderschönen Stimme, seinen liebevollen Worten, seinem unverwechselbaren Lächeln, seinem schüchternen Kichern, seinen sanften Berührungen, und verdammt, wenn er nur in sein Gesicht sah, an dieses weiche Paar Lippen dachte, wollte er alles tun, damit Sicheng ihn liebte.
Es brach ihm das Herz. Ungefähr zum hundertsten Mal. Verliebtsein war nicht schön oder süß, das war total beschissen. Das alles brachte Taeil rein gar nichts. Schön, er und Sicheng hielten jetzt fürs Erste Abstand voneinander, doch keineswegs hätte er gedacht, dass das so schwierig sein könnte.
Er hasste es über alles, ihn mit Yuta und manchmal mit Chaeyoung zu sehen, wenn er eigentlich gerade mit Doyoung und Mark redete. Auf nichts, rein gar nichts konnte er sich in Momenten wie diesen konzentrieren und das Schlimmste daran war, dass er das nicht einmal unauffällig machen konnte ─ er war ja nicht dumm. Er bemerkte, wie die Blicke seiner Freunde dieses besorgte Funkeln aussendeten, wenn er mal wieder nicht zuhörte. Warum konnte er sich nicht einfach zusammenreißen? Sie mussten schon ganz genervt von ihm sein, wie jeder eigentlich.
Für einen Moment dachte er an sein letztes Gespräch mit Yuta. Er hatte ja sofort bemerkt, dass etwas fehlte, wenn in der Mittagspause nur zwei Personen am Tisch saßen. Mit einem misstrauischen Blick hatte er Taeil gemustert und gesagt: »Moon, ich bekomme deine Visage ja kaum noch zu Gesicht ... Gut, ist eigentlich ein Segen«, wofür Taeil spielerisch nach ihm geschlagen hatte, dann hatte Yuta hinzugefügt: »Aber ich habe das ungute Gefühl, dass es was mit Sicheng zu tun hat.«
Daraufhin hatte Taeil sich nervös auf die Unterlippe gebissen, den Blick auf seine Hände gewandt und wilde Figuren damit geformt (weil er unter Stress einfach nicht stillhalten konnte). »Es ist ... etwas ... Also ich ... ich habe ...«
Schnell unterbrach er Taeils wirres Gestotter. »Was hast du getan?«, fragte er mit einem leicht vorwurfsvollen Unterton, die Augen erfüllt von ungesagten Urteilen.
»Ach, äh, vergiss es ... Mein Problem.«
»Nicht dein Problem, es ist Sichengs Problem und damit auch meins. Was hast du getan?« Taeil bekam das Gefühl, das wäre ein Verhör, so durchdringend, wie Yuta ihn gerade ansah, so nervös, hoffend, dass sein Gegenüber jetzt nichts Falsches sagte. Spannung knisterte zwischen ihnen, während er kein weiteres Wort entließ, nur stumm wieder zu Yuta aufsah. »Okay, du musst es mir auch nicht sagen, nur er ist so ... angespannt. Irgendwas ist da. Und es macht ihm offensichtlich zu schaffen.«
Und gerade das war ihm bis eben nicht aus dem Kopf gegangen. Es machte Sicheng zu schaffen. Wie konnte er nur so egoistisch sein? Hätte er seine Gefühle für sich behalten, ginge es ihm jetzt besser und er müsste sich nicht den Kopf über so etwas Dämliches zerbrechen. Zwar würde Taeil vielleicht nie über ihn hinweggekommen, aber Sicheng dafür lächeln zu sehen und bei ihm sein zu dürfen, klang eigentlich nach einem fairen Deal.
»Kann einer von Ihnen die Nummer 13 anschreiben?«, unterbrach Frau Park, seine Mathelehrerin, Taeils Gedankenstrom und sah sich scheinbar ohne Willkür im Raum um, dabei lag ihr Blick viel zu oft auf Sicheng. Man merkte, dass sie es ein kleines bisschen auf ihn abgesehen hatte, seit er sie bei einer Präsentation für die Mittelstufe blamiert hat, als er »den schlechtesten Vortrag des Multiversums« (Zitat von Frau Park) gehalten hatte. (Taeil war sich sicher, dass er niemals so schrecklich gewesen sein konnte, vielleicht war das aber auch seine voreingenommene, rosarote Sichtweise von Sicheng, die er sich vermutlich bald abgewöhnen sollte.) Hinzu kamen noch andere Störfaktoren, wie dass er nie zuhörte, ständig mit anderen Dingen beschäftigt war und viel zu selten Hausaufgaben machte.
Ihr lag sein Name schon auf der Zunge, da schnellte Taeils Arm bereits nach oben. Sofort wandte sie ihren Todesblick zu ihm und sie nahm ihn stattdessen dran. Es war eine simple Aufgabe, eine Auffrischung und Wiederholung der Grundlagen. Es ging nur darum, den Flächeninhalt zwischen zwei trigonometrischen Funktionen zu berechnen. Pillepalle. Oder nicht doch π-llepalle?
Sofort trat er nach vorne und kritzelte seine Rechnung an die Tafel, dabei gab die Kreide schrilles Gekreische von sich, weshalb alle genervt aufstöhnten. Sobald er fertig war, wandte er sich wieder seiner Mathelehrerin zu, die zufrieden lächelte und nickte. »Das ist korrekt. Setzen Sie sich wieder.«
Während er wieder zu seinem Tisch lief, sah er, wie Sicheng seine Hände aneinanderlegte und ein »Danke« mit seinen Lippen formte. Taeil musterte ihn nur ausdruckslos und ging weiter. Gern geschehen.
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Zwei Hände an seiner Hüfte ließen ihn mal wieder wild herumfahren. Wie üblich konnte das nur eine Person sein. »Da bist du ja. Warum denn so allein, du Loser?«
Ja, allein. Taeil brauchte heute einfach etwas Zeit für sich und hatte sich deswegen im Atrium des Hauptgebäudes auf einer Bank niedergelassen, vertieft seinen Roman gelesen und alle Gedanken an Sicheng und seine Freunde verdrängt. Die weißen Pfeiler und die mit Plakaten tapezierten Wände leisteten ihm doch tolle Gesellschaft, genauso wie die vielen, sich unterhaltenden Jugendlichen.
»Yuta, ich habe eine Bitte an dich, eine«, seufzte er mit seiner ›Schlechte-Laune‹-Miene und entließ die Luft, die er bis eben vor Schreck noch kurz angehalten hatte. »Fahr zur Hölle.«
»Du scheinst den Weg dorthin schon zu kennen, wie schön«, erwiderte er und lächelte amüsiert, während er sich neben ihn setzte. »Ich vermisse es, dich fertigzumachen.«
»Es sind doch gerade mal zwei Wochen vergangen«, sagte er, als wäre es nichts, dabei kamen sie auch ihm selbst wie mehrere Jahre vor. Verrückt.
»Ist doch egal. Wen soll ich denn jetzt beleidigen, ohne mich danach schlecht zu fühlen?«, beschwerte er sich und schnappte Taeil sein Taschenbuch aus den Händen, der nur leider zu spät reagierte. Da er gerade nicht genug Motivation hatte, sich gegen Yutas Diebstahl zu wehren, ließ er es einfach zu. Mit Desinteresse glitt sein Blick darüber, bevor er sich wieder Taeil zuwandte (und die Lektüre weiterhin in seiner Gewalt behielt).
»Mach da bloß keinen Knick rein«, warnte er und deutete auf Yutas unvorsichtigen Griff, jedoch schien ihn das nicht besonders zu interessieren.
»Sonst was?«, spottete er und lachte, als Taeil daraufhin entnervt die Augen verdrehte. »Stellst du mir dann eine Multiplikationsaufgabe?«
»Nein, ich weiß nicht, ob du schon das kleine Einmaleins kannst«, gab er zurück und zuckte belustigt mit den Augenbrauen.
»Schau, das fehlt mir irgendwie«, meinte er nun und hob den rechten Mundwinkel zu einem beinahe traurigen Halblächeln. Dabei wandte er den Blick zum Buch, welches er schon kurze Zeit später auf den freien Platz neben sich legte.
»Ich fehle dir? Wie süß«, formulierte er das Ganze um und fuhr fort, bevor Yuta etwas einwenden konnte, der bereits zügig wieder den Kopf gehoben hatte. »Ich meine ... nicht, dass ich es nicht nachvollziehen könnte. Ich bin schlau, unfassbar gut aussehend, witzig ─«
»Du bist dumm wie Scheiße, Moon«, sagte er nun, packte die Kapuze von Taeils Sweaterjacke und zog sie ihm tief ins Gesicht, weshalb Taeil schnell eingriff und sie zumindest so weit zurückschob, dass er sehen konnte.
»Da haben wir wohl was gemeinsam«, fügte Taeil hinzu und zuckte mit den Achseln.
Yuta lächelte. Er sah zufrieden aus. »Lass uns mehr reden.«
Taeils Herz setzte kurz einen Schlag aus. Ob er vielleicht eine Rhythmusstörung hatte? Er sollte zum Arzt gehen.
»In deinen Träumen, vielleicht.«
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