
5. Der Brief
Henry
Zusammen mit Charlotte und Jasper lief ich Richtung Junk-N-Stuff, wo Ray uns einbestellt hatte.
«Wie lief es eigentlich mit Lucy?», fragte ich neugierig.
«Sie mag mich, dass weiß ich. Glaub mir, ich werde bald mit ihr auf ein Date gehen!», grinste er und zwinkerte mir einen zu.
Typisch Jasper wunderte mich, dass er nicht Schwul war ... Aber wer sagte mir, dass er nicht schwul war?
«Ich denke nicht, dass das passieren wird», nahm Charlotte ohne Mitgefühl Jaspers Hoffnung.
«Wir werden sehen, wer Recht hat. Was denkt ihr, ist passiert, mit diesen Kindern?» Ich konnte Jasper ansehen, dass sich in seinem Hirn alle Lichter anschalten, weil er nachdachte. Was selten vorkam. Bei der Vorstellung musste ich jedoch frech grinsen.
«Feiern bestimmt im Kindergarten 'ne Party und haben nichts ihren Eltern erzählt», zwinkerte ich Jasper zu. Charlotte musste sich ihr Lachen verkneifen. Das war natürlich Sarkasmus.
«Und warum wurde ich nicht eingeladen?» Ich sah Jasper ins Gesicht und wusste, dass er das tot ernst meinte. Also legte ich noch einen drauf.
«Hatten bestimmt keine Lust auf Spielverderber, wie dich. Ich habe meine Einladung, die ich bekommen habe weggeschmissen.»
Mit vollem Schwung riss ich die Tür von Junk-N-Stuff auf, blieb stehen und hielt den anderen die Tür auf.
«Wie schade ...», antwortete Jasper nur beim Vorbeilaufen.
«Sagst du ihm, dass es ein Scherz war?», flüsterte Char.
«Ne, ich spiele ein bisschen mit ihm. Irgendwann merkt er das schon ... hoffentlich.» Die letzten Worte sagte ich mehr zu mir selbst als zu Charlotte. Die Tür viel ins Schloss und wir fuhren mit dem Fahrstuhl hinunter in die Meanhöhle.
Die Tür öffnete sich und Schwoz war voll in seinem Element. Er stand vor einem Stadtplan und hatte verschiedene Orte rot eingekreist. In seiner Hand hielt er sein Handy und schaute Nachrichten über die verschiedenen Orte, wo die Kinder jeweils das letzte Mal gesehen wurden. Er suchte wahrscheinlich einen Zusammenhang. Fast schon, wie bei der Polizei.
«Ihr habt euch aber Zeit gelassen!», murrte Ray, stürzte auf uns zu und hielt seine Arme in die Luft.
«Tut uns ja auch leid», sagten wir drei fast schon synchron. Worauf wir uns entsetzt anschauten und danach anfingen zu Lachen.
«Also, was ist der Plan?», fragte ich, nachdem ich mich beruhigt hatte.
»Ach so, hier.» Ray winkte mit seiner Hand zu sich und stellte sich neben Schwoz.
«Wir wissen noch nicht den genauen Standpunkt. Wir gehen stark davon aus, dass die Kinder zusammen an einem Ort sind. Den müssen wir allerdings noch genau herausfinden.»
Ray stand die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben. Ich bekam Mitleid mit ihm und seufzte leise. Wir hatten absolut keine Ahnung mit dieser Situation, darum war Ray auch so fertig. Hoffentlich würde alles gut gehen ...
«Hört sich nach einem Haufen Arbeit an», sagte Charlotte, die aufmerksam zugehört hatte und sich schon auf den Stuhl vor dem Bildschirm setzte und anfing zu Arbeiten. Charlotte war unglaublich fleißig, fand ich zumindest.
«Aber wissen wir nicht eigentlich, wo die Kinder sind? Auf der Party wo Henry eingeladen war, seine Einladung allerdings weggeworfen hat.» Bei letzterem bekam ich einen finsteren Blick zugeworfen.
«Welche Party? Was weißt du Henry?» Ich zuckte nur unwissend die Schultern und machte unauffällig den Vogel in Richtung Jasper. Ray schien zu verstehen und unterdrückte sich sein Lachen. «Jedenfalls solltet ihr in der Schule die Augen aufhalten.» Ray wartete immer noch auf eine Antwort. Ich legte meinen Arm auf Rays Schulter und zog ihn in eine Ecke, wo wir aus Jaspers Reichweite waren. Der zwar sowieso schon schlecht hörte, aber man konnte nie vorsichtig genug sein. Ich flüsterte Ray die ganze Geschichte zu (weil er sie hören wollte), die ich Jasper verkauft hatte und Ray konnte sich vor Lachen kaum halten, da Jasper es auch noch glaubte.
Wir drehten uns um und setzten uns auf das Sofa, wo Jasper sich bereits hingesetzt hatte.
«Habt ihr nicht letzten was von einem neuen Mädchen geredet?», fragte Ray plötzlich, worauf ich mich ertappt fühlte.
«Ja, ich werde sie mir vor Henry schnappen. Er hat Angst», provozierte er mich. Es fing an in mir zu kochen. Doch ich dachte mir, dass ich einen von meinen Weisheiten als Antwort bringen würde.
«Angst ist gut.» Ich sah ihn erst an.
«Angst ist ein völlig normales Gefühl von unserem Körper, es beschützt uns vor Gefahr. Sei es vor beängstigen Schritten, einer unbekannten Gestalt, Hunden oder der Angst, verletzt zu werden, in dem jemand einfach nur Nein sagt.» Es erinnerte mich an den Tag wo ich Lucy nachhause begleitet hatte und ich sie fragte, ob sie mal etwas mit mir unternehmen würde. Jedoch war Jasper schneller. Was sollte ich da jetzt noch machen? Sie würde ihn ganz bestimmt bald mehr als nur mögen und die Vorstellung tat verdammt nochmal weh.
«Wow. So habe ich noch nie gedacht. Ich wusste immer du bist schlauer als ich!», kicherte Jasper überrascht und zwinkerte mir mal wieder einen zu.
Ray hob etwas zweifelnd eine Augenbraue an. «Dann ist gut, dass du Angst hast. Du dürftest eh nicht mit ihr zusammen sein, weil du ihr erzählen würdest, dass du Kid Danger bist», konterte er. Vielen Dank. Wahrscheinlich aber, hatte er Recht. Ich musste meine Gefühle einfach begraben, wenn da überhaupt was war.
«Hah, ich habe gewonnen!», lachte Jasper. Wie gern ich ihn geschlagen hätte.
«Noch hat sie deine 'Gefühle' nicht erwidert», zwinkerte ich ihm diesmal zu und beschloss mich wieder auf den Nachhause Weg zu begeben. Viel konnte man wegen der verschwundenen Kinder nicht tun.
Ich dachte an Lucy. Was sie wohl gerade tat?
Die frische Luft entspannte mich. Nichts hält für immer. Genau daran dachte ich, als ich Lucys Stimme hörte, die leicht verängstigt klang. Hoffentlich konnte ich ihr helfen, falls es ein Problem gab. Desto näher ich kam, desto besser konnte ich erkennen, dass Mitch bei ihr war. Ich schluckte. Er gab wohl nicht auf, was Lucy betraf. Wie Mutig.
«Ich warne dich», drohte Lucy ihm, «fass mich bloß nicht an!»
«Sonst was?»
Ich beeilte mich und tauchte hinter Lucy auf.
«Sonst hast du es mit mir zu tun!» Mitch schaute mich entsetzt an. Lucy neben mir drehte sich überrascht um und wirkte sichtlich erleichtert. Sie flüsterte mir leise ein liebevolles 'danke' in mein Ohr.
«Wann verstehst du es endlich? Sie will nichts von dir. Gib auf. Ich habe letztes Mal nicht zum Spaß gesagt, dass ich dafür sorge, dass du sie nicht mehr zu Gesicht bekommst.»
«Ist gut ... Beruhige dich. Sie gehört ganz dir, Hart.» Er zwinkerte mir einen zu und lief davon. Ich atmete überrascht auf. So leicht hätte ich es mir dann doch nicht vorgestellt. Aber, was meinte er mit 'sie gehört ganz dir'? War es so offensichtlich, dass ich etwas an Lucy fand?
«Danke nochmal, Henry! Es hätte so viel schlimmer ausgehen können ... », unterbrach Lucys wundervolle Stimme meine Gedanken. Sie strahlte mit ihren grünen Augen so viel Liebe aus. Der Junge, der eines Tages ihr Herz erobern würde, hatte unfassbar viel Glück. Nur könnte ich niemals dieser Junge sein. Ich war ein Superheld mit geheimer Identität.
Lucy wurde leicht rot. Scheinbar hatte ich ihr zu lange verträumt in die Augen gesehen. Schnell wandte ich meinen Blick ab und schaute starr an Lucy vorbei.
«Nichts zu danken, für mich ist das selbstverständlich.»
Ich strich ihr eine Haarsträhne, die ihr ins Gesicht gefallen war, hinters Ohr, als ich sie wieder ansah.
«Komm, ich bringe dich nach Hause.»
Der Weg war nicht allzu weit und wir waren schnell an Lucys Haustür angelangt. Ich genoss Lucys Anwesenheit. Mit ihr konnte man ausgezeichnet Schweigen. Nicht mal Worte brauchte ich, damit sie mich verstand.
«Was soll ich nur sagen ... Danke, wie immer. Ich hab zwar echt keine Ahnung, warum du das ausgerechnet für mich machst. Aber trotzdem bis morgen.» Ich sah nur noch ihre braunen Haare hinter der Haustür verschwinden, ehe ich meinen Blick abwand.
Mit schnellen Schritten lief ich den Gehweg entlang und bog links zu unserem Haus ab. Mit kurzen Worten begrüßte ich meine Eltern und Piper. Stürmisch kam Piper mir entgegen und lästerte mal wieder über irgendjemanden ab, den ich nicht mal kannte. Schweigend trottete ich die Treppe hinauf in mein Zimmer und machte ihr die Tür vor der Nase zu. Am späteren Nachmittag, klopfte es plötzlich an meiner Zimmertür.
So vertieft wie ich war, schreckte ich bei dem Klopfen zusammen.
«Ja?», rief ich überrascht. Mom trat herein und hielt einen Brief in der Hand. Von wem der wohl war?
«Das lag auf der Veranda. Es steht dein Name drauf.» Sie gab mir den Brief in die Hand.
«Gibt es ein Mädchen von dem ich nichts weiß?» Mom war schon fast wieder aus meinem Zimmer draußen als sie das sagte. Ich setzte mich auf mein Bett, öffnete den Brief und fing gespannt an zu lesen.
Lieber Henry,
Ich hoffe du findest es nicht allzu komisch, dass ich dir einen Brief geschrieben habe. Erinnerst du dich noch an den Tag, wo du mich Nachhause begleitet hast? Wenn ja, würde ich jetzt gerne auf deine Frage zurückgreifen und vorschlagen, dass wir morgen zusammen in die Schule laufen könnten und nachmittags vielleicht mal im Park ein Eis essen gehen oder so. Der Park ist mein Lieblingsort in Swellview. Er ist so wunderschön. Jedenfalls, wollte ich das mal gesagt haben. Ich hätte dich persönlich gefragt, allerdings wollte mein Dad nicht, dass ich heute mein Zimmer verlasse. Da ich nicht bis morgen warten konnte, habe ich dir den Brief geschrieben und schnell vor die Veranda gelegt. Eine Unterhaltung würde zu lange dauern und mein Dad hätte es bemerkt. Deswegen der Brief. Hab noch einen schönen Tag, Henry. Vielleicht winkst du mir ja mal durchs Fenster.
Bis morgen früh dann, schreib mir doch eine SMS über meine Nummer die auf der Rückseite des Briefes steht.
-Lucy
Eine Weile starrte ich vor mich her und legte ich den Brief auf meinen Tisch ab. Es wäre wirklich schön etwas ordentliches mit Lucy zu machen, statt sich in der Schule kurz zu unterhalten. Ich wollte Lucy kennenlernen und all ihre Interessen erfahren. Was ihre Lieblingsfarbe war, wo sie gerne mal hin verreisen würde und noch so viel mehr ...
Aufgeregt tippte ich Lucys Nummer in mein Smartphone ein und musste dabei Grinsen. Für einen Moment, vergaß ich, dass ich ein Superheld war und mir eigentlich hätte sorgen, um die vermissten Kinder machen müsste, aber ich war glücklich.
Und in diesem Moment zählte für mich nur das.
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