
10. Der Kuss
Henry
Meine Nacht war der blanke Horror. Ich konnte um den besten Willen nicht einschlafen. Ich kam einfach nicht zur Ruhe, aber wie konnte ich auch? Ich hatte noch nicht einmal vor vierundzwanzig Stunden einen geliebten Menschen verloren.
Ich verweilte auf meinem Zimmer in der Ecke und weinte. Was hätte ich auch tun können? Würde sich das Leben je wieder normal anfühlen? Könnte ich einfach damit Leben, dass sie fort war? Wie schafft man es, stark zu sein, wenn sich jeder Knochen in deinem Körper förmlich nach einem Zusammenbruch sehnt? Auf keine meiner jämmerlichen Fragen, der Art, wusste ich eine glaubhafte Antwort. Am liebsten würde ich mein restliches Leben hier drinnen verbringen. Warum sollte ich auch das Interesse haben nach draußen zu gehen? Ich wechselte kein Wort mit meinen Eltern. Wir alle waren unfähig einander in die Augen zu sehen und zu sagen, dass alles gut werden würde. Meine Mom war die erste, die sich nach Tagen etwas beruhigt hatte und sich scheinbar damit abgefunden hatte, dass Piper tot war. Trotz, dass ich ein paar Tage Schulfrei bekam musste ich heute zurück zur Schule. Und jeder würde mich kennen, weil alles in den Nachrichten verbreitet wurde.
Früher war es mir egal, was andere über mich dachten, doch dieser Henry lag jetzt irgendwo zusammen mit Piper unter der Erde. Ich machte mir furchtbar viele Gedanken, darüber, wie die Leute mich ansehen würden. Als Kid Danger war es normal, erkannt zu werden, doch mit meiner echten Identität war es anders. Meine Gedanken wurden in Sekundenschnelle weggewischt und durch Lucy Gestalt ersetzt. Ich dachte an ihr Gesicht und ihren zärtlich riechenden Duft nach Freiheit und Blumen. Ich dachte daran, wie bei ihren Berührungen mein Blut in den Adern pochte und ich vergaß zu Atmen. Hatte sie gespürt wie mein Herz raste? Erging es ihr auch so? Meinen quälenden Gedanken versetzte ich einen Strich durch die Rechnung, als hätte ich sie per Knopfdruck ausgeschaltet.
Auf dem Weg zur Schule, gemeinsam mit Lucy schwieg ich, und war ihr dankbar, dass sie es mir gleichtat. Der Schulweg war in diesem Fall viel zu kurz, ich hätte gerne die Zeit hinausgezögert, nur damit ich nicht erscheinen musste. Doch es war zu spät, vor meinen Augen lag die Schultür.
«Henry?», flüsterte Lucy zaghaft.
Ich blickte sie an und zeigte ihr mit einem Nicken, dass ich ihr zuhörte.
«Du muss das nicht alleine machen. Ich bin bei dir. Versprochen.»
«Versprich nichts, was du bereuen könntest.»
Lucy nahm meine Hand in ihre, drückte sie leicht und öffnete die Türe.
Da war ich nun, mitten im Geschehen als Hauptaktion. Überall wo ich hinsah wurde ich mitleidig betrachtet. Ich versuchte meinen Blick abzuwenden, aber es gelang mir nicht wirklich.
Ich starrte zurück.
Lucy drückte meine Hand fester, als Zeichen, dass sie wie versprochen bei mir war. Charlotte' und Jaspers demütigende Aussagen, darüber, "wie viel ich durchmachen musste und wie leid es ihnen tut, dass meine Schwester nicht mehr unter uns weilt", Worten schenkte ich keinerlei Beachtung. Sie haben sie doch alle gehasst! Sie sollen nicht so lügen!
An diesem Tag war mir jeder egal, ich war mir selbst egal. Aber für Lucy hatte ich jederzeit Platz in meinen Gedanken. Hauptsache es ging um sie. Im Endeffekt drehte sich nämlich alles um sie. Wenn ich ihn ihrer Nähe war, fühlte es sich an, als würde ich schweben, auf einer Wolke schweben, ganz weit oben und würde auf die Erde hinuntersehen. Diese Gefühle waren unbeschreiblich schön, traurig, für all die, wo sie nie erleben würden. Wie täglich verging der Unterricht ohne meine geistige Anwesenheit und ich machte mich auf den Weg zurück nach Hause.
»Danke für alles. Vielleicht sehen wir uns später.» Ich verabschiedete mich mit einer Umarmung von Lucy und meine Stimmung ging ganz langsam wieder bergauf.
«Ich denke nicht das wir uns heute noch sehen werden, so gerne ich es auch hätte. Ich gehe mit Jasper im Park Picknicken.» Bei ihren Worten hörte mein Herz auf zu schlagen. Sie hatte ein Date mit Jasper? Ich wusste, dass es eines Tages so kommen würde, aber heute?
Am Nachmittag trugen mich meine Füße wie von selbst in den Park, ich wusste nicht, ob es aus Eifersucht und Neugier war oder einfach um die frische Luft in meinen Lungen zu spüren. Ich spazierte eine Weile den Weg durch den Park entlang und kam an einem kleinen Teich mit vielen Bäumen im Kreis herum vorbei. Er war wunderschön, wie aus den Träumen eines Paradieses.
Und dort saßen sie; Lucy und Jasper nebeneinander auf einer rot-weiß karierten Picknickdecke. Auf der Decke ein Korb mit Essen. Ich bekam eine Gänsehaut, als ich beobachtete, wie Jasper Lucy immer näherkam. Schließlich trafen seine Lippen auf Lucys. Ich wollte mich umdrehen und verschwinden, als wäre ich nie hier gewesen, doch so blöd wie ich war, trat ich auf einen Ast der laut knackte, so dass sich beide erschrocken umdrehten. Jasper sah mich mit wutentbrannten Augen an. Mir entwichen unumgänglich ein paar Tränen, die ich schnell wegstrich doch Lucy sah sie - und kam mit schnellen Schritten auf mich zu. Ich drehte mich um, ich hatte keine Lust auf ihre blöde Notlüge. Jasper hatte sie um den Finger gewickelt. Es war zu spät. Meine Chancen waren vergangen.
«Henry, warte, bitte. Ich kann es erklären», versuchte sie es wieder hinzubiegen. Ich blieb stehen, aber drehte mich nicht zu ihr um. Solle sie denken, ich wäre beleidigt, solange sie meine Tränen nicht sah, die immer unaufhaltsamer würden.
«Was willst du erklären? Dass du ihn magst? Ich weiß, dass da was zwischen euch läuft.» Meine Worte sprudelten nur aus meinem Mund, lieber hätte ich geschwiegen oder wäre einfach weitergelaufen.
«Hör zu, sei bitte nicht sauer. Ich will, dass du es verstehst», redete sie auf mich ein. Ich drehte mich schließlich doch herum und starrte sie mit Verachtung in meinen Augen an. Sie wich einen Schritt zurück und ihr kullerte eine Träne die Wangen hinunter. Mit meinem Zeigefinger fing ich diese auf, bevor sie auf den Boden tropfte.
«Hör du mir zu! Gefällt es dir mit meinen Gefühlen zuspielen? Findest du es toll, was du tust? Waren denn all die Dinge gespielt und gelogen? Hast du jemals das kribbeln auf deiner Haut gespürt? Ist dir je aufgefallen, dass sich mein Herzschlag in deiner Gegend beschleunigt? Nein, entschuldige, natürlich ist es das nicht.» Ich ignorierte ihre Worte, da ich sie eh nicht verstand und lief weiter. Und ich wusste, dass dieser Abend alles verändert hatte. Lucy Hale war für mein erstes gebrochenes Herz verantwortlich. Und ich dachte mir, ich würde daran sterben.
Ich wünschte Piper wäre jetzt hier, sie würde mich verstehen, aber das war sie nicht. Etwas später rief mich Ray, erzählen tat ich ihm nichts. Ich sagte nur, dass es mir gut ging, was es nicht tat, aber das wusste er schließlich nicht. Und ehrlich gesagt, war ich enttäuscht von Ray. Ich war der Meinung, er hätte Piper retten können, aber er sagte nur, dass er es nicht noch schlimmer machen wollte und darauf vertraute, ich würde alle retten. Mochte sein, dass ich die Kinder retten konnte, aber hier hatte ich versagt, was ich mir selbst bis in alle Ewigkeit vorwerfen würde ...
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