𝖎𝖓 𝖆𝖌𝖒𝖎𝖓𝖊
Viele fragen sich, was für ein Leben sie leben oder welchen Sinn es hat. Besonders in schweren Zeiten des Lebens stellen sie sich diese Frage. Meiner Meinung nach, ist das Leben wie eine Zugfahrt. Mit vielen Haltestellen, Umwegen und Unglücken. Wir steigen ein, treffen Menschen und denken, dass sie immer mit uns auf Reise sein werden. Aber an irgendeiner Haltestelle werden sie aussteigen und wir setzen unsere Reise ohne sie fort. Doch es werden viele Passagiere in den Zug steigen. Zum Beispiel unsere Geschwister, Eltern, Großeltern, Cousins, Freundinnen und Freunde, womöglich sogar die Liebe unseres Lebens. Einige werden aussteigen und eine große Leere hinterlassen. Bei anderen werden wir gar nicht merken, dass sie ausgestiegen sind. Es ist eine Reise voller glücklichen Momenten, Leid, Begrüßungen und Verabschiedungen. Wir wissen nie welche Haltestelle für uns der letzte Stop sein wird. Deshalb gilt es mit Freude zu leben, zu lieben, zu verzeihen und dafür das Beste zu geben. Denn irgendwann kommt der Moment, in dem wir aus dem Zug aussteigen und unser Platz leer ist.
Seufzend lasse ich den Füllfederhalter sinken und schaue nachdenklich aus dem Zugfenster. Klirrend schlagen meine Gedanken aneinander. Immer dieselben Gedanken. Immer derselbe Schmerzen in der Brust. Immer dieselbe schlechte Luft zum Atem.
Heute sollte es eigentlich ein schöner Abend werden. Aber er sollte es nur werden, denn in Wirklichkeit war es der schrecklichste Tag in meinem Leben und plötzlich war er wieder da. Dieser stechende Schmerz, der irgendwo in der Nähe von meinen Bauch begonnen hatte und sich ganz langsam in meinem gesamten Körper ausbreitete. Ich schlucke. Wann hört das eigentlich wieder auf? Ich war mit ihm auf einem Essen gewesen. Es war perfekt. Wir waren mit seinem neuen Wagen hergekommen. Eigentlich hatte ich vorgehabt, ihn im Juli zu heiraten, aber es jetzt kam alles anders. Leider. Stumm laufen mir wieder Tränen die Wange hinunter. Als er mich bei mir Zuhause abgeholt hat und wir dann gemeinsam losgefahren waren, hätte ich niemandem geglaubt, der mir gesagt hätte, dass er es auf diesem Essen mit einer Schlampe treiben würde. Aber das hat er nun mal getan. Und das schlimmste waren danach seine Worte gewesen.
„Ich wollte es dir schon viel früher sagen, ehrlich. Wahrscheinlich wäre es das beste, wenn wir das mit der Hochzeit vergessen."
Es fühlt sich an wie tausend Stiche, die man am ganzen Körper spürt und man kann nicht einmal mehr atmen. Ich fasse mir an die Brust, in der Hoffnung das es besser wird, aber das wurde es nicht. Heiße, brennend heiße Tränen schueßen wieder in meine Augen, während ich mich an diesen Moment erinnere. Es tat so weh. Es tut immer noch so weh. Es gibt für mich im Moment nichts schlimmeres als diesen Schmerz. Ich hole zitternd Luft. Warum muss das mir passieren? Warum uns? Aber was glaubte dieser Kerl denn überhaupt? Wahrscheinlich wäre es besser wenn wir die Hochzeit vergessen... dachte er wirklich, dass ich ihn noch hätte heiraten wollen? Ganz sicher nicht. Verärgert reibe ich mir über die Augen. Aber mein Ärger gilt nicht nur ihm und dieser Schlampe, nein, auf mich selbst bin ich viel wütender.
Was bin ich auch für eine dumme Gans? Hab ich ehrlich gedacht mit diesem Mann einen neuen Lebensabschnitt beginnen zu können? Ich war und bin überzeugt gewesen, dass er mich geliebt hat. Aber was ist, wenn ich nje mehr war, als eine kleine Bekanntschaft. In mir zieht sich alles zusammen. Als ich ihn erwischt hatte, habe ich auf dem Absatz kehrt gemacht und war davon gestürmt. Wenn man mein stolpern und weinen so nennen kann.
Jetzt war es halb zwölf und die Tränen auf meinen Wangen sind getrocknet. Salzige Spuren und die verwischte Wimperntusche zeugen noch von meinen Tränen. Es scheint, ob are Energiereserven aufgebraucht sind. Ich fühle mich nur noch müde und kaputt. Ich muss wieder an seine Worte denken. Doch mittlerweile fühle ich mich, wie ein alter Spiegel und jeder Gedanke an in verschafft dem Spiegel einen neuen Sprung. Aber da gab es noch mehr in mir. Mehr als meine verletzten Gefühle und dieser stechender Schmerz in der Brust. Ein immer stärker werdender Zorn auf den Mann, den ich geglaubt hatte zu lieben. Genervt suche ich in meiner Tasche nach einem Taschentuch, um vielleicht doch die verlaufene Wimperntusche aus dem Gesicht zu wischen. Doch auch so gründlich ich suche, ich finde weder ein Taschentuch, noch einen kleinen Schminkspiegel, den ich sonst immer griffbereit in einem Seitenfach deponierte.
„Ach auch egal.", flüstere ich leise und zog den Reißverschluss meiner Handtasche wieder zu.
Der Zug, in dem ich sitze ist warm, meine Hände sind jedoch eiskalt. Schwarze Linien, die wie zufällige Flussformen aussehen, zieren das raue Papier vor mir. Resigniert stoße ich meine angehaltene Luft aus.
Die Bäume vor den Zugfenstern zischen an mir vorbei, so wirkt es jedenfalls. Plötzlich werde ich von einem Gedanken erfasst und setze mich gerader hin.
Die Bäume zischen doch gar nicht an mir vorbei! Ich bin es doch die sich bewegt, denke ich und schüttel den Kopf bei dem Gedanken.
Der Zug hält quietschend an einem menschenleeren Bahnhof mit zwei Gleisen. Ich lese die Buchstaben auf dem Schild, doch es ist mir zu mühsam, sie zu einem Wort zusammenzufügen und so sitze ich da, lese das Schild und weiß trotzdem nicht, wo der Zug soeben gehalten hat. Eine Frau ist mit ihrem Kind ausgestiegen und geht nun hektisch den Bahnsteig entlang, den kleinen Jungen mit sich zerrend.
Der Zug setzt sich wieder in Bewegung und rattert über die Schienen.
Auf ein Mal höre ich hinter mir Geschrei. Ich drehe mich um und gleich darauf sehe ich die zum Organ zugehörigen Menschen. Die Jugendlichen, die ins Zugabteil kommen, sind betrunken. Schwankend treten sie durch dir Tür, die in regelmäßigen Abständen ein Knarren von sich gibt.
„Josi steht auf mich. Bleib cool, Mann."
„Wen hat se abblitzen lassen, du Clown?"
„Willste mich abflocken?"
Sie schubsen sich, diskutieren, in wen von ihnen „Josi" mehr verliebt ist, so verstehe ich die Unterhaltung jedenfalls. Ich hoffe nur, dass sie an der nächsten Station wieder aussteigen, denn auf diese Typen habe ich nun wirklich keine Nerven. Ich drehe mich wieder zum Fenster, sehe auf Kornfelder, Bäume, den schwarzen Himmel, den fast vollen Mond und schaffe es nicht, die Streiterei völlig auszublenden. Bald riecht es nach Alkohol. Verstohlen schaue ich zurück zu den Jugendlichen. Aus einer umgekippten Flasche auf dem Boden läuft eine weiße Flüssigkeit aus. Beim nächsten einatmen ziehe ich fast automatisch meine Nase kraus. Dieser stechende alkoholische Duft brennt schon in meiner Kehle und ich kann mir nicht vorstellen diese Flüssigkeit jemals absichtlich zu trinken. Ich drehe mich wieder um.
„Warum muss immer der Kleine an uns kleben wie ein Köter? Der nervt", schrie einer der Jugendlichen. „Verpiss dich, Tobi. Wir sind kein Babysitterunternehmen. Oder trink was. Hier."
„Nein!" Die zitternde Stimme lässt mich erschaudern.
Ich drehe mich ruckartig um. In dem Abteil stehen vier Jugendliche. Einer von ihnen war kleiner, jünger als die anderen. Ich hörte einen Knall und spüre einen Luftzug.
„Tobi braucht frische Luft!", schreit einer der Betrunkenen. Die anderen stimmen ein. Es erinnert mich an das Anfeuern in einem Fußballstadion. „Tobi braucht frische Luft", grölen zwei im Chor. Der Kleine versucht, sich aus dem Griff von einem langen Blonden zu winden.
Doch vergeblich. Kalte Luft dringt durch das geöffnete Fenster in das Zugabteil. Ich friere und reibe über meine Unterarme.
In einem Blau-violett zeichnen sich die Adern an meinen Armen ab und eine Gänsehaut bildet sich auf meiner Haut.
Ich drehe mich wieder zu den Jugendlichen. Ein langer Blonder mit einem schwarzen Parka hebt den Kleinen hoch, dann mit dem Oberkörper aus dem Fenster.
„Nein, nicht. Nein. Hilfe! Jeremy", schreit der Kleine panisch.
Tränen kullern dem kleinen über die Wangen.
Jemand muss eingreifen. Dem kleinen helfen, denke ich.
„Tobi hat Schiss!", lacht einer.
Der kleine Junge zappelt mit den Beinen. Sein Oberkörper hängt aus dem Fenster. Er schreit. Ich habe Angst, dass irgendein Mast kommt, dass der lange Blonde die strampelnden Beine nicht mehr halten könnte, dass der Kleine aus dem Zug ... nicht auszudenken.
„Tobi, zeig, dass de Mut has'!", grölt einer mit 3-millimeter Haarschnitt.
Ruckartig stehe ich auf.
,, Hey! "
Unnatürlich laut hallt meine Stimme in dem Zugabteil wieder. Wie ein Echo kommt es von den Wänden wieder.
Blitzschnell drehen sich alle Augenpaare zu mir. Mit einem unsicheren Lächeln blicke ich die Gruppe an und setze mich in Bewegung.
„Danke, Tobi, dass du mir letzte Woche das Geld geliehen hast." Nervös spielen meine Finger an dem Armband, dass an meinem linken Handgelenk baumelt.
„Is' was, süße?"
Die tiefe, bassartige Stimme von einem der Jugendlichen holt mich zurück.
Unsicher balle ich meine Hände zu Fäusten, um das verräterische zittern meiner Hände zu verbergen.
Langsam hebe ich meinen Blick vom Boden und sehe ihn an. Sein Haar ist bronzefarben und die Haut schimmert in dem flackernden Licht golden. Durch die Gläser einer schwarzen Brille sehen mich seine grünen Augen an. Mein Herz schlägt Schritt für Schritt schneller als ich näher an die Gruppe heran trete. Nur noch wenige Meter und ich kann die Nähe des jungen Mannes mehr und mehr spüren. Außerdem strahlt er schon jetzt einen ekelhaft riechenden Duft aus. Ich beiße meine Zähne zusammen und setze einen Fuß vor den anderen. Es scheint, als würden aus Sekunden Minuten, aus Minuten Stunden und aus Stunden Tage werden.
Endlich war ich bei der Gruppe angekommen und bleibe vor dem unbekannten mit der Brille stehen.
„Ich will Tobi das Geld wiedergeben. Aber dafür müssen Sie ihn reinziehen." Schluckend mache ich eine kleine Kopfbewegung zu dem Kleinen, der noch immer verängstigt und mit weit aufgerissenen Augen aus dem Fenster baumelt.
„Gib's mir, süße." Ein perverses Lächeln bildet sich auf den Lippen des Jungen.
„Nein! ", bestimmt und laut kommen mir das Wort über die Lippen. ,,Tobi hat es mir geliehen, deshalb gebe ich es auch ihm zurück."
Langsam kommt der Typ bedrohlich auf mich zu. Seine Blicke gleiten über meinen Körper und er leckt sich einmal über die Lippen. Er kommt mir immer näher und ich gehe zurück. Ich will ihm nicht so nahe sein. Nicht jetzt. Nicht nachdem was ich heute erlebt habe. Das verkrafte ich nicht. Der starke Alkoholgeruch steigt in meine Nase und mein Magen dreht sich. Nur schwer kann ich den Würgereiz aufhalten. Immer wenn er einen Schritt nach vorne macht, mache ich einen zurück. Doch plötzlich spüre ich die kalte Wand in meinem Rücken. Panisch suche ich nach einem Ausweg, aber dieser ging an dem Jungen vorbei. Zitternd hole ich Luft. Als er bei mir angekommen ist, streicht er über meine Haare. Wie in Zeitlupe beugt er sich zu mir und drückt mir einen Kuss auf die Haare. Auf meiner Haut bildet sich eine Gänsehaut und ich fange an zu zittern. Mit seinen Fingern fährt er mein Schlüsselbein nach. Ich schließe meine Augen.
Schöne, prunkvolle Kronleuchter, ein roter Teppich und leise Musik. Ich spürte seine Anwesenheit neben mir und automatisch musste ich lächeln. Elegant schritt er über den Teppichboden.
Überrascht reiße ich meine Augen auf. Seine Hände sind überall auf mir. Auf meinen Schultern, meinem Bauch, meinen Oberschenkeln. Überall.
Sein Arm ist liebevoll um meine Hüfte geschlungen. Seine warmen, braunen Augen sehen mich an und funkeln mit den Lichtern an der Decke um die Wette.
Ich bemerke gar nicht das eine Träne meine Wange hinunter läuft, bis eine schwitzige Hand diese weg wischt. Seine kalten Finger streichen über meine Haut und hinterlassen eine nasse Spur. Bewegen kann ich mich jedoch immer noch nicht, denn dafür bin ich viel zu gelähmt, schockiert und müde.
Es war perfekt. Wir hatten einen Tisch in einer ruhigen Ecke, abgeschottet von den anderen. Doch dann stand er auf und ging. Er ging schnellen Schrittes zur Toilette und dann...
Plötzlich wurde der Typ ruckartig an der Schulter gepackt. Ein groß gewachsener Mann mit dunklen Klamotten steht dicht hinter ihm.
„Ich denke es ist besser ihr geht jetzt!"
Ich zucke beim Klang seiner Stimme zusammen, als ob man mir einmal heftig ins Gesicht geschlagen hätte. Seine Stimme ist sehr tief, ganz anders, als man es von einem jungen Mann wie ihm gedacht hätte.
Der Zug hält.
,, Jeremy?! ", die ungläubige Stimme von dem Jungen mit der Brille sickerte langsam zu mir durch.
,, Und du ziehst den kleinen wieder in den Zug. Sofort! "
Der lange Blonde mit dem schwarzen Parka zog den Kleinen abrupt ins Abteil zurück und setzte ihn auf eine Bank. „W... W... Was machst du den hier, Jeremy?", stotterte der Typ mir dem 3-millimeter Haarschnitt.
Der Kleine öffnete den Mund wie ein Fisch, der aus dem Wasser gezogen wurde.
„Wir müssen aussteigen", sagt der lange Blonde plötzlich mit zu Schlitzen verengten Augen und dreht sich sofort um. Stolpernd verlässt er das Abteil. Die anderen folgen ihm ziemlich schnell. Tobi, der kleine Junge auf der Bank, bleibt regungslos sitzen.
Ich sehe aus dem Fenster. Die drei Jungs hasten über den Bahnsteig. Keiner dreht sich um oder hält an. Sie rennen förmlich vom Bahnhof und weg von dem Zug. Ein Pfiff ertönt und die Türen schließen sich.
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