Kapitel 4.3
Mein Kopf brummte, als ich mich zu schnell aufsetzte, sodass ich mich direkt wieder nach hinten fallen ließ und an die erdige Decke starrte. An manchen Stellen war sie leicht feucht, es musste wohl über Nacht geregnet haben. Und vor allem an den Rändern wuchs ein wenig Efeu, das sich in einem schönen Muster die Wand entlang schlängelte.
Hatten die drei das hier etwa selber gebaut? Vermutlich, aber wie? Immerhin mussten sie sich durch Stein und Wurzeln graben. Oder waren diese Räume schon hier, als sie hier angekommen waren? Und wie waren die ganzen Möbel überhaupt hier hinunter gekommen?
Schritte ließen mich aufhorchen und ich blickte auf. Blaue Augen trafen auf schöne graue. Liv.
,,Geht es dir schon besser?" Fragte sie, während sie sich an die Wand lehnte und mich lächelnd musterte.
,,Ja, danke." Antwortete ich und warf ihr ein ehrliches Lächeln zu, woraufhin sie über beide Ohren strahlte und langsam auf mich zukam.
Ich setzte mich wieder auf und klopfte neben mich auf die Matratze. Liv setzte sich hin und starrte die Wand an, ich ebenfalls. Es lag eine etwas unangenehme Stimmung in der Luft. Niemand wusste, was er sagen sollte.
Aber vielleicht war das auch gut so. Wir beide hatten eine harte Vergangenheit in den Laboren. Ein bisschen Ruhe tat uns beiden ganz gut.
Einige male öffnete ich meinen Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn jedoch direkt wieder. Ich wollte die Stille nicht zerbrechen, sondern sie genießen so gut es ging.
Und solange ich es noch konnte. Denn wer wusste schon, was in den kommenden Tagen passieren würde?
Ich saß hier mit einer mehr oder weniger fremden Person, die ich erst seit einem Tag kannte und die augenscheinlich mehr über mich wusste, als ich über sie. Das einzige, was ich über sie wusste, war das, was sie mir gestern Abend erzählt hatte. Ich kannte ihre Mutation, die Zeitspanne ihrer Zeit im Labor und ihr Alter. Über ihre Familie und wie sie früher gelebt hatte, wusste ich gar nichts. Sie jedoch auch nicht über mich.
Ich zuckte zusammen, doch Liv schien es nicht bemerkt zu haben. Die Erinnerungen an den Tag, als ich entführt worden war, hatten sich in mein Gedächtnis eingebrannt und ließen sich nicht lösen. Sie waren zu schmerzhaft, als das ich sie je vergessen könnte.
Ich ließ meinen Kopf in den Nacken fallen und sah mir die Decke genauer an. Mein Blick glitt über das zwarte Efeu, dass sich in die verschiedensten Richtungen ausbreitete und formte. Mal sah es aus wie Buchstabe, mal wie eine Welle und in der Ecke glaubte ich ein Herz zu erkennen.
Plötzlich ertönte ein Schluchzen und zerstörte die ruhige Atmosphäre. Mein Blick schnellte nach links und ich sah in Livs Gesicht. Doch dort waren keine Spuren von Tränen. Ihre Haut war nicht gerötet, sondern so blass wie vorher auch.
Anscheinend hatte sie dieses Schluchzen auch gehört, denn ihr Blick glitt zu dem Gang, aus dem sie eben gekommen war. Ihre Augen wurden leicht glasig, als sie anschließend auf den Boden blickte und schwieg.
Ich hatte plötzlich das Bedürfnis, sie zu umarmen und zu trösten. Was war dort los? Wer weinte? Liv war es nicht, dann blieben nur noch Daphne und 67 übrig, die sich wohl noch in dem kleinen Raum mit dem Tisch befinden mussten. Denn meines Wissens nach, befanden sich keine anderen Bewohner in diesem... Haus? Konnte man es Haus nennen? Nein, eher nicht. Ich würde sagen, dass Höhle besser zu dem Ganzen hier passen würde.
Wörter brannten auf meiner Zunge. Sie formten sich zu Fragen, die ich unbedingt loswerden wollte. Wer weinte und vor allem...warum? Was war in der Vergangenheit passiert? Warum traf es Liv so, dass sie gar nicht mehr aufsah?
Ehe ich eine Frage stellen konnte, hob sich plötzlich die Matratze neben mir wieder ein Stück an. Liv war aufgestanden und blickte mich nun aus ihren Augen an, die an einen kühlen Wintermorgen erinnerten.
,,Komm mit." Mit diesen Worten wandte sie ihren Blick ab und trat einige Schritte nach vorne. Nun erhob auch ich mich von der dünnen Matratze und stellte mich neben sie.
Als sie bemerkte, dass ich neben ihr zum stehen gekommen war, ging sie weiter voran und bedeutete mir, ihr zu folgen.
Wir liefen über den erdigen, leicht feuchten Boden. Die kleinen Steinchen und die Wurzeln knirschten leise unter meinen Schuhen, während Liv keinen Laut von sich gab. Völlig lautlos schritt sie voran, immer weiter auf den kleinen Torbogen zu, der uns von dem kleinen Raum und dem Zimmer mit Tisch trennte.
Kurz vor dem Bogen kam sie zum stehen und wartete kurz, bis ich neben sie trat. Dann lugte sie vorsichtig um die Ecke, ich tat es ihr gleich. Und was ich sah, schockierte mich völlig.
Dort am Tisch saßen 67 und Daphne. Sie befanden sich an denselben Plätzen wir vorhin, doch ihre Haltung hatte sich geändert.
Daphne hatte ihren Kopf auf ihre Hände gestützt, die von ihren braunen Haaren verborgen wurden. Einen Blick auf ihr Gesicht konnte ich nicht erhaschen. Ihre Haare versperrten mir die Sicht in ihre Augen.
Doch ihr zittern verriet, dass sie es war, die weinte. Ihr Körper wurde unregelmäßig von Schluchzern heimgesucht, wobei sie ein leises Wimmern verließ. Ihr Brustkorb hob und senkte sich schnell.
Links neben Daphne saß 67 und schaute sie mitfühlend an. In ihren Augen spiegelte sich der Schmerz, den Daphne fühlte. Ihre Flügel waren ausgebreitet und mir wurde warm ums Herz, als ich sah, dass sie einen ihrer Schwingen liebevoll um Daphne gelegt hatte und sie so stützte, während sie unaufhörlich wimmerte.
Liv neben mir verkrampfte sich kaum merklich, doch ihr Zucken war mir nicht entgangen. Da hob die Adlermutation ihren Blick und sah uns überrascht an. Doch dann bedeutete sie uns, uns zu ihnen zu setzten, worauf sich Liv in Bewegung setzte.
Ich verharrte in meiner Bewegung, zwiegespalten, was ich nun tun sollte. Die drei waren wie eine Familie, die sich offenbar schon lange kannten, während ich erst gestern hier eingetroffen war. Ich wollte die traurige, aber auch liebevolle Stimmung, die sie umgab, nicht zerstören.
Doch die Entscheidung wurde mir abgenommen, als Liv mich entschieden zu sich winkte. Ich setzte mich neben sie, keiner sprach. Wir alle blickten zu Daphne, die soeben ihren Blick gehoben hatte und sich mit dem Handrücken über die Augen gefahren war. Ihr Blick wanderte über uns, als sie jedoch bei mir ankam, zogen sich ihre Augen wieder schmerzlich zusammen und ihre giftgrünen Augen verschwanden hinter ihren Lidern.
Ich stutzte. Hatte ich etwas falsch gemacht? Hilfesuchend richtete Ich meinen Blick auf 67, die daraufhin seufzte und ihre Lippen in die Nähe von Daphnes Ohr führte. Sie Flüsterte Daphne leise etwas ins Ohr, was man nicht verstehen konnte, woraufhin Daphne zögerte, dann jedoch nickte und sich zusammenriss.
,,Es hat nichts mit dir zu tun, Xenia. Zumindest nicht direkt." Sie blickte mich an und sprach die Worte, als hätte sie meine Gedanken gelesen. Aber nun war ich verwirrt. Was meinte sie damit?
Plötzlich kamen mir ihre Worte wieder in den Sinn. Du erinnerst mich an sie.
Hatte es etwas damit zu tun? Würde ich jetzt erfahren, was sie damit gemeint hatte?
,,Du fragst dich sicherlich, was ich gestern damit gemeint hatte, oder?" Sie wartete gar nicht auf eine Reaktion meinerseits, sondern fuhr unbeirrt fort.
,,Bevor das alles passiert ist. Also bevor es damit angefangen hatte, dass Kinder und Jugendliche in die Labore gebracht wurden, wohnte ich an der Grenze zwischen Ordon und Kenzie. Wir lebten in einem kleinen Haus in der Siedlung am Fluss" Sie machten eine kurze Pause, um sich wieder zu fangen.
,,Alles war perfekt, doch... doch als dieser Mann zu uns kam und mich mit sich nahm, zerstörte er diese schönen Momente mit einem Schlag. An diesem Tag hatte ich mit meiner kleinen Schwester am See gespielt. Wir waren nach Hause gegangen, um gemeinsam Mittag zu essen, doch als wir dort ankamen, stand dieser Mann vor der Tür. Meine Eltern waren nicht Zuhause. Wir hatten Angst... große Angst." Sie stockte.
,,Er kam auf mich und meine Schwester zu. Ich habe sie schützend hinter mich geschoben, als er nach ihr greifen wollte. Meine Schwester hat um Hilfe geschrien, der Mann hat daraufhin Panik bekommen, nach mir gegriffen und mich mit sich gerissen.
Was genau danach passiert ist, weiß ich nicht mehr, aber ihre Schreie werde ich niemals vergessen..."
Während Daphnes knapper Erzählung hatte niemand auch nur einen Mucks von sich gegeben. Doch jetzt, da sie fertig war, atmete 67 laut hörbar aus und nahm Daphne in den Arm. Neben mir hörte ich Schluchzen und auch in meinen Augen hatten sich Tränen gesammelt.
Niemals hätte ich damit gerechnet, dass ihre Geschichte so eine grausame Szene beinhaltet. Ich hatte diese Szene beinahe bildlich vor mir. In meinem Kopf spielte ein Film von einer jungen Daphne, jedoch ohne diese langen Zähne, das giftgrüne in ihren Augen, runden Pupillen und ohne die leichten Schuppen, die ihre Haut zierten.
Auf einmal sah Daphne wieder zu mir und erneut trat ein Audruck des Schmerzes in ihre Augen.
,,Du erinnerst mich an sie. An meine kleine Schwester. Ich weiß nicht richtig wieso, aber dein Lächeln, die blauen Augen, deine ruhige Art... All das hatte sie auch. Selbst das Alter passt. Tut mir leid, falls ich dir das Gefühl gegeben habe, dass du etwas falsch gemacht hast. Das wollte ich nicht, wirklich. Ich möchte sie einfach nur zurück... Diese Ungewissheit, was mit ihr ist, macht mich verrückt." Zum Ende hin wurde sie immer leiser und man sah, wie sie wieder ihren Erinnerungen nachging.
Das war es also...
Jedoch gab es noch eine Frage, die mir auf der Zunge brannte.
,,Wie heißt sie?" Fragte ich an Daphne gerichtet und sah sie neugierig an. Sie zögerte einen Moment, sah mir dann jedoch fest in die Augen und sprach.
,,Sie heißt Kimberly. Oder wie wir sie immer genannt haben, Kim" Als sie den Namen erwähnte, zog sich etwas in mir schmerzlich zusammen.
Kim, wie es ihr wohl gerade geht? Hatten die Soldaten sie mitgenommen oder konnte sie sich in Sicherheit bringen? In diesem Punkt verstand ich Daphne. Diese Ungewissheit machte einen verrückt.
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