Kapitel 1
Wie sehr er Touristen hasste. Okay, hassen war vielleicht ein wenig gemein, da er außerdem selbst auch irgendwie ein Tourist war. Aber er verabscheute zumindest diejenigen, die sich verhielten, als gehörte ihnen der Ort, an dem sie sich aufhielten. Und dabei war Leon schon an so vielen Orten der Welt gewesen, hatte auch überall Touristen getroffen und die Meisten waren tatsächlich einfach anstrengend. Irgendetwas passte immer nicht, sei es das Essen, der Platz am Strand oder das Wetter. In diesem Fall war es Leon, der einer Familie aus Deutschland anscheinend so gar nicht in den Kram passte. "Das Eis sah auf den Bildern im Internet aber viel besser aus", beschwerte sich gerade die älteste Tochter, die ungefähr zwölf sein musste.
Leon war vor drei Tagen in dem kleinen Küstenort in Kroatien angekommen, hatte bei einem Campingplatz nach einem Job gefragt und 20 Minuten später war er am hauseigenen Eisstand angestellt.
Jetzt lächelte er das Mädchen höflich an. "Tut mir Leid, ich arbeite auch nur vorübergehend hier und habe die Bilder im Internet nicht gesehen. Aber probier das Eis doch einfach mal." Doch es murmelte nur irgendetwas unverständliches und stapfte schmollend richtung Strand während die Mutter Leon noch einen bösen Blick zuwarf und mit ihrem Mann und ihren Söhnen dem Mädchen folgte. Leon hätte der Familie am Liebsten das Eis über den Kopf gegossen, aber er brauchte den Job, um etwas Geld zu verdienen, also wäre das nicht sonderlich förderlich gewesen.
Seit einem Jahr bereiste Leon nun schon die Welt. Den Wunsch danach hatte er schon verspürt, als er noch ein kleiner Junge war. Er hatte Flaggen verschiedenster Länder gesammelt, sich Ziele aufgeschrieben oder Landkarten auswendig gelernt. Doch wirklich erreichbar war es ihm nie vorgekommen. Seine Eltern waren Anwälte, die schon immer auf beruflichen Erfolg und Karriere fixiert waren und früh versucht hatten, ihm das Reisen auszureden. Beinahe wäre Leon auch tatsächlich nach der Schule an die Universität gegangen, hätte wie seine Eltern Jura studiert und ein Leben als Anwalt geführt. Doch ihm wurde quasi über Nacht klar, dass er es seinen Eltern nicht rechtmachen musste. Es war sein Leben und niemand zwang ihn, in die Fußstapfen seiner Familie zu treten. Also war er nicht an die Universität gegangen, hatte seine Koffer gepackt und sich mit seinem Ersparten ein Flugticket nach Rom gekauft. Raus aus der schnöden Großstadt, rein in einen Ort, der sich neu und vertraut zugleich anfühlte. Das war der Anfang gewesen, der ihm gezeigt hatte, wie gerne er Reisen wollte. Trotz der enttäuschten Mienen seiner Eltern und dem Kontaktabbruch zu fast all seinen Freunden, könnte er nicht glücklicher sein. Denn wenn Leon da so saß, nach einem Tag als Eisverkäufer in einem kroatischen Dorf und der Sonne zusah, wie sie langsam am Horizont versank und das Meer vor seinen Augen in ein verschwommenes, rotes Licht tauchte, wusste er, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte.
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