[06] Der freundliche Tyrann
... LEGTE GANZ SANFT das Plüsch-Pikachu von Sophie auf den Boden.
»Da ist es ja wieder! Vielen lieben Dank, Scotty!«, rief Sophie überglücklich und wie selbstverständlich dem Tyrannosaurus entgegen.
Celine wollte wieder schreien, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sophie pflückte derweil das Plüschtier, das eben noch in dem riesigen Maul des Dinosauriers war vom Boden und schüttelte es anschließend in der Luft herum, als ob sie es gerade aus einem Fluss gefischt hätte.
Der T-rex stand neben ihr, nickte mit dem Kopf und wippte leicht mit dem Schwanz hin und her, als würde auch er sich über dieses Erfolgserlebnis freuen.
»Oh, man, Scotty! Du hast echt ganz miesen Mundgeruch«, sagte Sophie und rümpfte dabei die Nase.
»Oh, tut mir leid. Aas zum Frühstück«, hörte Celine die Stimme des Raubtiers in ihrem Kopf, so wie sie zuvor bereits Lillys Stimme wahrgenommen hatte.
Dann kamen Sophie und der T-rex auf sie zu, woraufhin Celine einen großen Satz nach hinten machte. Ihr Herz begann noch einmal schneller zu schlagen, obwohl sie dachte, das dies gar nicht mehr möglich wäre.
»Ich denke, den kann ich erst mal in die Waschmaschine werfen, wenn wir daheim sind«, sagte Sophie und hielt ihrer kleinen Schwester das Pikachu unter der Nase. »Aber am besten, wenn Mama noch nicht zu Hause ist. Die würde sich fragen, wo ich mich damit herumgetrieben habe.«
Celine stand weiterhin regungslos vor ihrer Schwester. Sie schaute abwechselnd auf sie, das Pikachu, das vor ihrer Nase hin und her baumelte und zu dem Tyrannosaurus, der jetzt genau neben ihr stand und sie neugierig anblickte. Er legte dabei den Kopf genauso schief, wie ein freundlicher Schoßhund, der um Aufmerksamkeit bettelte.
Lilly stand ebenfalls neben ihm und es schien sie nicht im Geringsten zu stören, dass er ein Fleischfresser war. Lediglich die beiden Compies hielten nach wie vor Abstand von dem Räuber.
»Scotty, das ist meine kleine Schwester Celine, von der ich dir erzählt habe«, stellte Sophie dem stellenweise befiederten T-rex ihre Schwester vor.
»Dann hatte ich also recht.« Als das Tier sein mörderisches Maul leicht öffnete, hörte Celine wieder ein Brummen, dieses Mal ähnlich dem eines sehr großen Krokodils und in ihrem Kopf vernahm sie die Worte, die er offenbar sprach. »Wenn ihr im Besitz eines Opals seid, dann könnt ihr auch beide hier herkommen. Unsere Väter und Großväter haben allerdings schon viel eher mit der Rückkehr eines Menschen gerechnet.«
»Unsere Mutter hatte den Opal abgelehnt und unseren Onkeln hätte Oma ihn erst gar nicht gegeben«, war sich Sophie sicher. »Uns jedoch hat sie sehr viel über euch erzählt. Nur hatte sie nie erwähnt, dass sie das alles mit eigenen Augen gesehen hat. Wir wären viel besser vorbereitet gewesen, wenn wir gewusst hätten, dass wir eines Tages hier landen würden. Vor allem Celine.«
Sophie blickte amüsiert zu ihrer jüngeren Schwester, die wie zur Salzsäule erstarrt dastand und den Mund nicht mehr zubekam. Sie sah mit eigenen Augen, wie sich ihre Schwester mit einem Tyrannosaurus unterhielt. Einem der gefährlichsten Tiere, die jemals existiert hatten. Auch, wenn dieser anscheinend noch nicht ausgewachsen war.
»Scotty ist für uns nicht gefährlich«, hörte sie Lilly sagen. »Er gehört unserer Allianz gegen unsere Feinde an, gegen die eure Großmutter damals schon gekämpft hat. Er frisst nur Erst-Geborene. Uns Wieder-Geborenen tut er nichts.«
»Entschuldige, dass ich wieder so dumm frage, aber was bedeutet das? Erst-geboren, wieder-geboren?«, fragte Celine und merkte, dass Sophie ebenfalls keine Ahnung von dieser Thematik hatte, denn auch sie drehte sich interessiert zu Lilly um.
»Die Wieder-Geborenen haben bereits gelebt. In eurer Welt und wurden jetzt in dieser Welt wiedergeboren«, erklärte Lilly und Scotty nickte zustimmend. »Die Erst-Geborenen wurden hier zum ersten Mal geboren. Sie sind sozusagen normale Dinosaurier. Ihr solltet bei denen vorsichtig sein, da ihr nicht mit ihnen reden könnt.«
»Du weißt also doch ganz schön viel über das alles hier«, konnte sich Celine einen Seitenhieb auf Lilly nicht verkneifen, die sich zuvor recht bedeckt gehalten hatte.
»Sind die beiden Kleinen hier auch Erst-Geborene?«, fragte Sophie, die bemerkte, dass die fiepsigen Laute der Compies nicht in ihrem Kopf übersetzt wurden.
»Richtig. Diese zwei Quälgeister sind gewöhnliche Tiere, in euren Augen«, stimmte Lilly zu. »Meine Oma hat mich darauf schon sehr früh vorbereitet, dass ich mit dem Zweibeiner reden muss, der irgendwann in unsere Welt kommen wird. Sie selbst kann dies nicht.«
»Weil sie eine Erst-Geborene ist«, schlussfolgerte Celine.
»Genau. Ich kann mich mit ihr unterhalten und ich kann mit jedem anderen Wieder-Geborenen reden. Aber ich kann nicht mit Erst-Geborenen sprechen, die einer anderen Art angehören«, führte Lilly ihre Lehrstunde fort. »Deshalb muss ich noch mal ganz deutlich betonen: Nehmt euch vor erst-geborenen Räubern in Acht. Wir können euch eventuell nicht vor ihnen Beschützen und auch nicht jeder Wieder-Geborene wird euch freundlich gesinnt sein.«
»Hättest du mir das alles nicht vorhin schon erzählen können, anstatt mich unwissend in die Arme eines Tyrannosaurus laufen zu lassen?«, grummelte Celine leicht beleidigt ihrer langhalsigen Freundin zu.
»Ich war nicht darauf vorbereitet, dass du überhaupt nichts von uns und unserer Welt weißt«, entschuldigte sich Lilly. »Und ich wollte Poseidon nicht ins Wort fallen.«
»Wenn ich richtig informiert bin, durfte Wilhelmine niemanden in ihrer Welt etwas von uns erzählen. Die Menschen sind nicht immer so gut, wie sie es war, hat man mir gesagt«, meinte Scotty. »Es tut mir übrigens sehr leid, dass ich dich vorhin erschreckt habe. Ich fürchte, du musst dich erst an den Anblick eines Tyrannosauriers gewöhnen, was? Dabei bin ich noch ein ganz junger Hüpfer. Warte, bis du meine Mutter Sue kennengelernt hast.«
Scotty schaute Celine erneut wie ein Hündchen an und wäre er nicht so groß, hätte sie ihn mit Sicherheit sehr niedlich gefunden. Ein wenig hoffte sie jedoch, dass sie das irgendwann tun würde, denn schließlich waren Dinosaurier ihre Lieblingstiere - eigentlich.
»Und was meintet ihr mit Feinden? Gegen wen hat unsere Oma damals gekämpft?«, fragte Sophie und die Anspannung war ihr anzumerken.
Es musste in dieser Welt nach wie vor etwas geben, das die Dinosaurier bedrohte und die Mädchen befürchteten, dass sie es sein würden, die sich dieser Gefahr entgegenstellen müssen.
»Ich denke, es ist besser, wenn Poseidon euch das alles schildert«, sagte Scotty und senkte nachdenklich den großen Kopf.
»Er hat recht. Es ist jetzt nicht mehr weit bis zum Strand. Lasst uns weitergehen«, stimmte ihm Lilly zu und gemeinsam setzten sie ihren Weg fort, an dessen Ende hoffentlich viele Fragen ihre Antwort finden werden.
»Komm schon, Sophie«, flüsterte Celine ihrer Schwester zu, als Scotty ein paar Schritte vorausgegangen war. »Erzähl mir nicht, dass du nicht auch Todesangst hattest, als plötzlich dieser T-rex auf dich zukam und du ihm ganz allein gegenüber standest.«
»Ich war nicht allein«, antwortete Sophie und schaute nachdenklich in den fast wolkenlosen Himmel, der sich über ihnen erstreckte.
»Ja, der Compie war bei dir. Aber der hätte dir nicht helfen können. Was hast du getan? Hast du stillgehalten, wie in Jurassic Park oder wolltest du wegrennen?«, ließ Celine nicht locker, die Wahrheit über das erste Zusammentreffen ihrer Schwester mit dem T-rex zu erfahren.
Die Vierzehnjährige lächelte nur in sich hinein und schaute wieder in den Himmel.
»Es war vorher noch jemand anderes bei mir«, sagte sie und schien irgendjemanden über sich anzulächeln. »Er hat mir gesagt, dass er Scotty holen würde und, dass ich vor ihm keine Angst haben müsse.«
»Wer?«, fragte Celine und streckte ihre Nase ebenfalls in den Himmel.
Zunächst konnte sie nichts sehen und schaute ihre Schwester fragend an. Doch dann sah sie auf dem felsigen Boden zu ihren Füßen auf einmal einen großen Schatten, wie von einem Segelflugzeug, der langsam zu wachsen schien.
»Schön, dass ihr beide euch gefunden habt!«, rief eine Stimme in Celines Kopf, die zu einem fremdartigen Krächzen zu gehören schien, welches über ihrem Kopf erklang. »Ich habe Poseidon Bescheid gesagt, dass ihr auf dem Weg zu ihm seid, und er hat mir zum Dank ein paar Fische aufgescheucht.«
»Das freut mich zu hören, Hermes!«, rief Sophie dem Flugsaurier zu und winkte freundlich.
Das riesige fliegende Geschöpf schlug geschickt einen Haken in der Luft und flog über den Dschungel davon.
»Vor dem hätte ich mich aber genauso erschrocken«, murmelte Celine und blickte ihm so lange nach, bis nichts mehr von ihm zu sehen war.
»Das ist Hermes. Ein alter Ornithocheirus«, erklärte Sophie. »Er saß unweit neben mir, als ich ankam. Ich hatte ihn nur nicht wahrgenommen zwischen den Felsen, die ähnlich gefärbt waren wie er selbst. Dann hörte ich aus heiterem Himmel seine Stimme in meinem Kopf. Er ist so etwas wie der fliegende Botschafter zwischen den Landsauriern und Poseidon, der wiederum der Stellvertreter eines gewissen Kronos sein soll, der hier etwas Ähnliches wie eine Gottheit ist.«
Celine nickte stumm. Wo war sie hier nur gelandet? Ist diese Welt wirklich real und die Inspiration für Oma Willis aufregenden Dinosaurier-Geschichten? Würden sie und Sophie jetzt ihre eigenen Abenteuer erleben?
Als sie noch darüber nachdachte, erkannte sie am Horizont viele kleinere Flugsaurier auf und ab fliegen. Sie schienen zu fischen, wie es heutige Möwen taten. Sie hatten endlich das Meer erreicht.
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