Verflucht und verloren (@Timetravler9)
Scheiße, Scheiße, dreimal verfluchte Scheiße!
Ella konnte ihren Blick nicht von dem Blatt lösen, das an der Wand ihrer besten Freundin hing wie ein unschuldiges Gemälde. Hübsch eingerahmt zwischen der Weltkarte und Karten für ‚Mamma Mia – Das Musical'. Was die meisten für irgendein billiges Stück Papyrus aus einem Museum halten würden, war eine Hiobsbotschaft. Ein harmloses Schriftstück, dessen Inhalt schlimmer nicht sein konnte.
Jojos Zitat von Sokrates – Jojo zitierte nie – hallte wie ein fernes Echo, das von ihren eigenen Gedanken in Form eines ratternden Zuges übertönt wurde. Dabei wollte sie nur kurz bei ihrer Freundin vorbeischauen, die über WhatsApp nur kryptische Aussagen über Totenrituale und zwielichtige Händler auf dem Basar erzählt hatte. Nun ahnte sie auch, dass ein unscheinbares Stück Papier daran schuld war.
Jojo hatte von ihrem Studiums-Praktikum im Museum in Kairo erzählt und von dem Kulturevent, das sie organisiert hatte. Während ihrer Zeit in Ägypten war sie nur ein einziges Mal auf einem berühmten Basar gewesen, da sie sogleich von einem seltsamen Händler übers Ohr gehauen wurde. Er hatte ihr den Papyrus als echte Rarität angepriesen und sie beinahe schon bedrängt, ihn zu kaufen. Dabei hatte sie auf die Wand gedeutet und schmunzelnd hinzugefügt, dass Ella es lesen könne. Denn die Einundzwanzigjährige hatte sich durch ihr Archäologie-Studium, bei dem sie sich im sechsten Semester befand, intensiv mit den Hieroglyphen und dem Stein von Rosetta beschäftigt. Einige der Zeichen auf dem Papyrus kannte sie nicht und das hatte ihre Neugier geweckt. Jojo hatte die Keksdose geöffnet und sie hatte Tee eingeschenkt.
Verdammt, der Tee!
Ella stellte die Kanne ab, wobei ihre Hand zitterte. Jojo starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an, ihre Tasse schwamm im Tee. Die Hand, die vorher die Tasse festgehalten hatte, war nass und an ihren Körper gepresst. Sie hatte Jojo verletzt. Ihre beste Freundin, seit sie in der fünften Klasse gemeinsam ein Referat über das Alte Ägypten halten mussten.
„Oh mein Gott, Jojo, bist du okay?" Ella sprang auf und eilte an ihre Seite. „Habe ich dir Tee auf die Hand geschüttet? So ein Mist. Schnell, halte deine Hand in der Küche unters kalte Wasser."
Die Worte sprudelten aus ihr heraus wie immer, wenn sie nervös oder panisch war, ganz im Gegensatz zu ihrer Freundin. Sie führte Jojo zum Wasserhahn und drehte ihn voll auf.
Das Plätschern füllte die seltsame Stille zwischen ihnen. Es war grundsätzlich nichts Ungewöhnliches, dass sie schweigend nebeneinandersaßen. Es war eine angenehme Ruhe, in der sie beide sich eine Art Pause nahmen.
Nachdem Jojo ihren Finger genügend gekühlt und Ella den Wasserhahn zugedreht hatte, standen sie ohne ein Wort zu wechseln in der Küche. Ihre Blicke trafen sich, nur um wieder zu Boden zu sinken. In der Stille wogten die Fragen, die ihr und vermutlich auch Jojo durch den Kopf schwirrten. Ihre Freundin knibbelte an einem Haargummi herum und ließ es ab und zu gegen ihr Handgelenk schnacken.
„Was ist los, Ella?", ergriff Jojo schließlich das Wort. Sie hatte das Band von ihrem Arm gezogen und schaute sie direkt an. „Dich bringt doch sonst nichts so leicht aus der Ruhe."
Was sollte sie bloß sagen? Die Wahrheit? Sie war immerhin ihre beste Freundin und Ella wollte sie nicht belügen. In jedem anderen Fall hätte sie ihr ohne zu zögern alles erzählt. Doch das, was auf dem Papyrus stand, war etwas ganz anderes. Das, was sie hatte übersetzen können, war verstörend gewesen. So verstörend, dass Ella für einen kurzen Augenblick fürchtete, sich übergeben zu müssen. Die Worte waren vor ihren Augen verschwommen, bis sie ein einziges, düsteres, schwarzes Chaos gewesen waren.
Seit Jojo den Händler erwähnt hatte, hatte sie das Gefühl, etwas Ähnliches bereits gehört zu haben. Aber woher? Der Teil, den sie übersetzen konnte, klang nicht sehr gut. Das klang nach einem langen Abend voller GoogleSuchen und vielleicht würde sie auch in der Universitätsbibliothek nachschauen müssen. Bevor sie nichts Näheres herausgefunden hätte, würde sie die Wahrheit für sich behalten.
Wer weiß, wie viel Zeit mir noch bleibt ...
„Ich habe deinen Papyrus gelesen." Sie deutete auf das Blatt an der Wand. „Ich bin noch nicht vollständig dahintergekommen, was da steht, aber es klingt sehr interessant. Könnte ich mir den aus Forschungszwecken ausleihen?" Das war zumindest nicht ganz gelogen. Ella war erschrocken über sich selbst, wie schnell ihr Kopf diese Lüge zusammengesponnen hatte. Sofort hatte sie ein schlechtes Gewissen. Nein, sie musste sich zusammenreißen. Es ging um das Leben ihrer Freundin, verdammt.
Ein Grinsen schlich sich auf Jojos Gesicht. „Du bist so ein Nerd, Ella" Sie ging kichernd zur Wand, nahm den Rahmen ab und überreichte ihn ihr. „Sollte ich ein seltenes Beweisstück gefunden haben, möchte ich schon in deiner Rede für den Nobelpreis erwähnt werden." Sie zwinkerte ihr zu.
Ella zwang sich, auch zu lächeln. „Keine Sorge, dich werde ich nicht auslassen." Sie warf einen Blick auf die Uhr in der Küche. „Wenn es für dich okay ist, würde ich gehen. Ich muss noch einen Bericht über die letzte Ausgrabung schreiben und na ja, ich habe noch nicht angefangen. Und er muss morgen fertig sein."
„Das ist so typisch du." Jojo brach in Gelächter aus und Ella stimmte mit ein. Lachend hielten sie sich an den Schränken fest, um nicht umzukippen. Ein Blick genügte, um sie erneut zum Lachen zu bringen. Sie umarmten sich schließlich, beide noch am Kichern. „Bis ähm irgendwann. Wir schreiben."
Jojo nickte und begleitete sie zur Tür.
„Auf Wiedersehen!"
„Tschüsli Müsli!"
Ihre gute Laune hielt noch das gesamte Treppenhaus durch, aber vor der Tür verabschiedete sie sich in den Keller. Ella musste sich an der Hauswand abstützen, um nicht in sich zusammenzusacken. All die Gefühle, die sie während ihrer Unterhaltung mit Jojo weggedrückt hatte, drängten sich an die Oberfläche. Die Angst um ihre Freundin. Die Wut auf ... den Händler, der solche Rollen verkaufte. Und Panik, die sich ganz langsam dazugesellte.
Sie merkte, dass ihr Atem schneller geworden war. Sie musste sich beruhigen. Panik war das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte. Jojo wäre damit nicht geholfen.
Oh unglückliche Tochter der Jordis, die du diesen heiligen Papyrus führst
Aus dem Schutz der Schatten breitet das Schicksal sich aus Verborgenes antwortet auf deinen Ruf, sobald du die Rolle berührst
Denn eine dunkle Seele wird kein Licht spenden, ist sie einmal in der Kriegerin Haus
Der Anfang klang schon nicht sehr gut, aber immerhin konnte sie alles übersetzen. Ella musste alles geben, dass die Prophezeiung sich nicht bewahrheitete. Am besten, sie ging rational an das Ganze heran. Genauso wie sie es Jojo erzählt hatte, als wissenschaftliches Objekt.
Etwas Verborgenes also – handelte es sich hierbei um die dunkle Seele, die eine Zeile später erwähnt wurde –, was ausgelöst werden würde, wenn man den Papyrus berührte und kam zu denjenigen, der die Rolle angefasst hatte. War mit der Kriegerin Jojo gemeint?
Ein einziger Moment, der die Zukunft besiegelt und seinen Willen entfesselt
Seine Klauen suchen nach (?) und deine Seele wird ihm (?) reichen
Alte Weisheiten sein Schwert, das zu (?) er dich lehrt
Gegen jene, die dich gesegnet von des Krokodiles Reich
Dieser Teil war etwas kryptischer. Zumindest wusste sie nun ein bisschen mehr. In dem Papyrus schien – definitiv Konjunktiv – eine Seele gefangen zu sein und Jojo gab ihm irgendetwas. Machte er sie im Gegenzug weise? Wissen war anscheinend sein überzeugendendes Argument, wodurch Jojo das Schwert gegen jemanden richtete. Doch gegen wen? Warum machte er das? Was erhoffte er sich davon? Und was sollte der Teil mit dem Krokodil?
Aus geopferter Asche, gerissen (?) Krokodiles Blutes erhebt (?)
Seine Weisheit, der du verfielest, (?) vermag er nicht (?) Deines Leibes Eigen will er (?), doch solltest du (?) List erkennen
So erhebe, Kriegerin, sein Schwert und ziehe (?) des Lebens, bevor (?) erlischt
Irgendjemand oder irgendetwas sollte geopfert werden. Wobei, es war wieder von dem Krokodil die Rede ... und dessen Blut. Also wurde ein Krokodil geopfert? Für ihn? Für Jojo? Ihr kam ein unheilvoller Gedanke. Musste sich etwa Jojo für diese ... Seele opfern? Würde er sie dazu bringen, sich selbst zu töten und ihm ihr Blut zu geben? Vielleicht reichte ein Tier. Oh je, diese Vorstellung durfte sie Jojo nicht erzählen, die war Vegetarierin. Aber es gab anscheinend eine Lösung, indem die Kriegerin – Jojo? – etwas zog?
Nun kam der Teil des Satzes, der ihr Sorgen bereitete.
Die unbekannten Zeichen könnten alles bedeuten, auch ...
Eine einsame Träne rann ihre Wange hinab. Ihre Gedanken terrorisierte sie mit blutigen Szenarien, bis Backen und Jacke benetzt waren. In Strömen liefen die Tropfen über ihr Gesicht. Sie sank an der Hauswand hinab und vergrub den Kopf zwischen ihren Armen. All die Fragen, die sie plagten, mündeten letzten Endes in die eine ein: Warum? Warum ihre beste Freundin? Jojo war die einfühlsamste Person überhaupt und half, wo sie konnte. Sie hatte es verdammt nochmal nicht verdient. Wenn Ella darüber nachdachte, wünschte sie dieses Schicksal niemandem.
Wind kam auf und fuhr ihr durch das schwarze Haar, das mit einem Dutt zusammengehalten worden war. Nun fiel es ihr ins Gesicht, als sie den Kopf hob. Kalte Spätherbst-Luft trieb ihr wieder Wasser in die Augen. Die Straße war verlassen und die Bäume kahl. Keine bunten Blätter, die im Sonnenlicht schimmerten. Kein Rauschen, das die unheimliche Stille füllte.
Langsam richtete Ella sich auf und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Sie sah bestimmt furchtbar aus. Stopp, Trübsal blasen brachte nichts. Sie straffte die Schultern und warf einen Blick auf den Papyrus in ihrer Hand. Es kostete sie viel Überwindung, ihn nicht auf den Boden zu schmeißen oder drüben im Park im See zu versenken. Sie würde hinter das Geheimnis kommen. Sie würde dieses Problem lösen!
***
Die Einladung kam zwar unerwartet, aber Ella hatte sofort alles darangesetzt, sie anzunehmen, auch wenn Jojo aus einem ihr unbekannten Grund wollte, dass Ella den Papyrus mitbringt. Abgesehen davon war der Vorschlag, gemeinsam Tee zu trinken und Kuchen zu essen das Normalste, was Jojo seit Langem von sich gegeben hatte. Wenn sie sich morgens an der Bushaltestelle trafen, kam Jojo murmelnd an und bemerkte Ella erst gar nicht. Falls sie sich dann unterhielten, wurde ihr Blick so ungewohnt leer, als würde sie in die Ferne starren.
Vielleicht war der ganze Spuk jetzt vorbei. Vielleicht war der Fluch gebrochen worden. Vielleicht war alles doch nur ein Traum gewesen.
Hoffentlich habe ich es nur geträumt.
Als Jojo die Tür öffnete, wirkte sie – abgesehen von der dunklen Kleidung – wie immer. Den Kopf leicht zur Seite geneigt, ein schmales Lächeln auf den Lippen. Aus der Einzimmerwohnung duftete es herrlich nach frisch gebackenem Kuchen. Schokolade mit irgendetwas Fruchtigem, wenn sie sich nicht täuschte. Kirschen vielleicht? Oder Birnen? Bitte keine Birnen, die schmeckten ihrer Meinung nach nicht mit Schokolade.
„Hey, Ella." Jojo streckte die Arme aus und Ella erwiderte voller Freude die Umarmung. Wie hatte sie das vermisst ... Die Arme ihrer besten Freundin fühlten sich sicher an, so wie die Geheimnisse, die sie Jojo anvertraute. Ella genoss es und zog sie absichtlich in die Länge. Ein Teil von ihr hätte ewig so stehen bleiben können. Zum Teufel mit ihrer Bachelorarbeit, zum Teufel mit all den Krisen auf der Welt. Solange Jojo wieder die Alte war, konnte sie die ganze Welt mal.
„Ich habe dich vermisst", murmelte Ella in Jojos dunklen Pullover. Die Tage ohne sie waren entsetzlich einsam und langweilig gewesen. Keine, die mit ihr bei einem heißen Latte Macchiato über die neusten Musicals fachsimpelte oder wortlos Taschentücher und Eiscreme hinstellte, wenn sie sich ausheulen musste. Sie hatte niemanden, den sie zum Lachen bringen würde oder mit dem sie ins Kunstmuseum gehen konnte, um sich verrückte Interpretationen auszudenken, ohne ausgelacht zu werden.
„Ich ... ich dich auch." Jojos Stimme klang etwas belegt, irgendwie kratzig. Möglicherweise war sie krank. Halsschmerzen oder Schnupfen. War ja die Jahreszeit dafür. Vielleicht hatte Jojo Fieber gehabt und sich deswegen so seltsam verhalten und kryptische Nachrichten geschrieben. Zum Beispiel hatte sie Ella ermahnt, stets ihr Essen zu segnen und den Göttern für die Frucht der Erde zu danken. Eine leise Stimme in ihrem Kopf bedrängte sie, nicht so naiv zu sein und der Wahrheit ins Gesicht zu schauen. Aber dieser Gedanke wurde von der Hoffnung übertönt, die in ihr hochstieg. Sie wollte, dass es für alles eine simple Erklärung gab. Und wenn man etwas nicht sehen möchte, dann sieht man es auch nicht.
„Komm rein." Jojo löste sich aus der Umarmung und führte sie ins Wohnzimmer, dessen Tisch schon gedeckt war. Zwei kleine Kerzen brannten auf dem Tisch und der Kuchen stand bereit. Bei dem Anblick der flüssigen Glasur lief Ella das Wasser im Mund zusammen. Sie war selbst eine ziemliche Niete, was das Backen anging, und daher sehr froh, dass ihre Freundin das so ausgezeichnet konnte.
„Schoko-Mandarinen-Kuchen", erklärte Jojo, während Ella Jacke und Schuhe auszog. „Der, den ich dir letztes Jahr zum Zwanzigsten gebacken habe."
Ella machte einen kleinen Freuden-Hüpfer. Dieser Kuchen war der Inbegriff von Spätherbst. Wenn man das erste Mal seine Winterjacke anzog und sich schon überlegte, welche Plätzchen man dieses Jahr backen würde.
Sie hängte ihre kleine Umhängetasche über die Stuhllehne und setzte sich gegenüber von Jojo. Ihre Freundin kam mit einem Tablett wieder, auf dem eine Teekanne, zwei Tassen sowie eine Wasserkaraffe und zwei volle Gläser standen.
Ella sprang auf und nahm Kanne und Karaffe vom Tablett herunter und stellte sie auf den Tisch. „Du hättest ruhig etwas sagen können."
„Du bist doch mein Gast. Das gehört sich nicht", erwiderte Jojo trotzig und platzierte die Tassen und die Gläser auf dem Tisch.
„Du weißt, dass das nicht wirklich wichtig ist. Ich helfe dir gerne." Ella seufzte. Zumindest sollte Jojo das wissen ...
Jojo goss Tee ein, der verdächtig nach Kardamom, Nelken und Zimt duftete, und schnitt zwei Stücke. Ella reichte ihr den Teller und nahm mit freudiger Erwartung den Kuchen entgegen. Die Unterseite des Tellers wurde erwärmt und Ellas Freude stieg. Sie liebte warme Backwaren. „Guten Appetit", wünschte Jojo ihr und schaute sie erwartungsvoll an. Ella probierte und schloss genießerisch die Augen. Das Gebäck schmolz förmlich auf ihrer Zunge und die Mandarinenstücke sorgten für die perfekte fruchtige, leicht saure Note.
„Das, wow", brachte sie nur hervor. Ihr fehlten die Worte, um dieses Meisterwerk der Backkunst zu beschreiben. Jojo lächelte überglücklich, kleine Grübchen bildeten sich in ihrem Gesicht.
„Du bischt die beschte Bägerin, Jojo", fügte sie mit vollem Mund hinzu.
„Danke, Michaela, äh ... Ella."
Während des Essens plätscherte ihr Gespräch so vor sich hin. Hauptsächlich erzählte Ella von der Uni und beschwerte sich über ihren Professor für alte Geschichte. Bei seinen Vorträgen würde sie am liebsten einpennen, denn er sprach sehr langsam und einschläfernd.
Währenddessen hatte sie ihr Glas Wasser komplett geleert, Jojo hatte nur eine Tasse Tee getrunken.
„Vergiss nicht zu trinken", erinnerte Ella ihre Freundin, die seufzte und sich Tee eingoss.
„Weißt du noch, als du bei der Wanderung letzten Sommer umgekippt bist?"
Jojo schaute sie nur leer an, als säße sie einer Fremden gegenüber. „Daran erinnere ich mich gar nicht." Ella verschluckte sich beinahe an ihrem Tee. „Was? Das war doch ein riesiges Ding. Der Helikopter ist gekommen und du warst im Krankenhaus. Ich habe dir deine Vorlesungsunterlagen und Mitschriften noch vorbeigebracht, weil du unbedingt lernen wolltest."
Der Blick ihrer Freundin blieb seltsam leer. Sie rührte sich nicht, sondern starrte Ella an. Fast so, als würde nicht Jojo vor ihr sitzen, sondern jemand anderes. Dieses Schweigen war nicht das, was sie von ihr gewohnt war. Ella rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. Das gefiel ihr ganz und gar nicht.
„Du hattest eine Klausur in der darauffolgenden Woche, in ..." Die Erinnerungen verschwammen vor ihrem inneren Auge. Eben waren sie noch klar gewesen, doch jetzt hatte sich ein Nebel davorgeschoben. Ihr Kopf schmerzte ungewohnt und zwar ziemlich heftig. Stöhnend griff sie sich an den Kopf. Was war los mit ihr?
Ella rieb sich über die Stirn. Hatte sie nicht genug getrunken? Nein, das war Jojo, oder, oder doch sie?
Warum schweigt Jojo eigentlich?
Schwindel setzte unerwartet ein und das Wohnzimmer drehte sich vor ihren Augen. Ihre Hände krallten sich am Tisch fest. Sie blinzelte immer wieder. Was zum Teufel war mit ihrem Körper los?
Erst jetzt reagierte Jojo, aber ganz anders, als Ella gedacht hatte. Sie streckte nicht den Arm aus und fragte sie, wie es ihr ginge, ob sie etwas bräuchte. Sie hielt sie nicht fest.
Das hämische Grinsen, das sich auf dem Gesicht ihrer Freundin breit machte, zerstörte ihren letzten Halt in der Realität. Ihr Kopf hatte die Ordnung verloren und so purzelte alles wild durcheinander. Doch einen Gedanken konnte sie noch fassen.
Ich sollte wirklich mehr trinken.
Dann stürzte sie kopfüber ins schwarze Nichts und wurde darin für eine Ewigkeit verschlungen. Der Sand rieselte unaufhörlich durch das Stundenglas und wurde nicht weniger.
Ihre Sinne, ihr Verstand, ihr Körper. Ausgeschaltet.
Ausgeknockt.
***
Wie viel Zeit vergangen war, wusste Ella nicht. Minuten? Stunden? Tage?! Ihr Schädel dröhnte zu laut für ihren Geschmack. Wie der Morgen nach einer durchgezechten Nacht. Was zur Hölle war geschehen? War sie eingeschlafen, weil sie mal wieder bis früh morgens gelesen hatte? Nein, eigentlich hatte sie ihren Buchkonsum in letzter Zeit heruntergefahren, um konzentrierter während der Vorlesungen zu sein.
Der Nebel in ihrem Kopf zog sich schleichend zurück und gab ihre letzten Erinnerungen frei. Die weiße Fassade des Mehrfamilienhauses. Die schlichte, schwarze Tür. Treppen. Stufe für Stufe. Erster Stock. Zweiter Stock. Dritter Stock. Die Weltkarte auf der Wohnungstür. Jojo. Kuchenduft. Tee. Reden. Schwindel. Hämisches Grinsen. Jojos Grinsen. Nein, nicht Jojo. Jemand anderes.
Nein, nein, nein!
Es durfte noch nicht zu spät sein. Sie wollte Jojo nicht verlieren. Sie musste es irgendwie verhindern. Aber wie? Während ihr Verstand auf Hochtouren lief, erwachten langsam ihre Sinne.
Ella roch irgendwelche ätherischen Öle mit Lavendel oder Rosen vermutlich. Auch ein leichter Rauchgestank lag in der Luft. Wurde irgendetwas verbrannt? Ihre Stirn fühlte sich feucht an. Schwitzte sie? Dabei war es nicht warm. Vielleicht durch die Hitze von dem, was in Flammen stand. In ihrem Rücken bot die Wand Sicherheit. Lehnte sie daran und stand? Und warum war die Tapete so kalt?
Ein unverständliches Murmeln drang an ihre Ohren. Die Stimme gehörte ihrer besten Freundin und gleichzeitig auch nicht. Es klang seltsam vertraut.
Sollte sie die Augen öffnen? Vielleicht schaffte sie es, Jojo irgendwie von dem Schwachsinn abzubringen. Sie musste es zumindest versuchen.
Ella schlug die Lider auf und sog erschrocken die Luft ein. Exakt sechs Kerzen brannten vor ihr und davor im Schneidersitz, ein blutiges Messer in der Hand, saß Johanna, die sie aus tiefschwarzen Pupillen anstarrte. Als sie an sich herunterschaute, bemerkte sie geschockt, dass sie oben herum nur einen BH trug. Jemand hatte seltsame Zeichen in ihren nackten Bauch gekerbt. Wie hatte sie das nicht mitbekommen können?
„Jojo, ich ...", setzte sie an, aber schrie entsetzt auf, als ihre Freundin in einer flüssigen Bewegung ihr mit dem Messer ein weiteres Symbol um ihren Nabel ritzte. Ella fasste sich an den Leib, bevor sie von Johanna energisch nach vorne gerissen wurde.
„Was zur Hölle, Johanna?", fuhr Ella ihre Freundin an. In ihrem Innerem herrschte ein Heidenchaos. Die Prophezeiung bewahrheitete sich. Johanna opferte sie für irgendeine Seele. Sie war das Krokodil, dessen Blut fließen sollte. Verdammt, wie konnte es nur so weit kommen? Sie musste irgendetwas machen. Jetzt. Schnell. Mit blutigen Händen schritt Ella zur Wand und riss den Rahmen herunter.
Johanna, die Verfluchte, grinste hämisch. „Wenn du den Papyrus zerstörst, stirbt deine geliebte Freundin mit mir. Das würde ich mir an deiner Stelle gut überlegen, Ella." Ella hätte ihr das Grinsen am liebsten aus dem Gesicht geohrfeigt. Nur Jojo durfte sie Ella nennen und niemand sonst, erst recht nicht ein dahergelaufener Geist. Johanna schlenderte zu ihr hinüber, das Messer in der Hand und Worte murmelnd. Ihre einst saphirblauen Augen schwarze Löcher aus Hass und Vergeltung.
Gleich würde Johanna die Klinge in sie hineinstoßen. Ellas Gedanken rasten und ihr Körper übernahm die Kontrolle, wo ihr Verstand – vielleicht aus gutem Grund – versagte. Ihre Finger krallten sich um den Rahmen.
„Gib mir Jojo zurück!" Sie zog den Gegenstand ihrer Freundin so heftig über den Schädel, dass er zerbrach und der Papyrus darin zerriss. Ein Glassplitter bohrte sich schmerzhaft in ihre Hand. Johanna stolperte rückwärts und hielt sich fluchend den Kopf, einen kleinen Splitter in der Stirn. Ellas schlechtes Gewissen meldete sich, aber sie schob es beiseite. Sie hatte nur getan, was nötig war, um diese dunkle Seele loszuwerden.
Ella lehnte sich an die Tapete, ihr Atem ging schwer. „Was hast du getan?" Schrille, unmenschliche Schreie drangen aus Jojos Mund, während sie sich krümmte. Sie wand sich, das Gesicht verzerrt vor Schmerz und Wut. War es ihre Wut oder die des Geistes? Eigentlich konnte ihr das egal sein. Sie hatte die Seele aus ihrer Freundin vertrieben. Sie hatte es verdammt nochmal geschafft. Ella war stolz auf sich selbst, jetzt musste sie nur noch warten, bis der Geist sich verzogen hatte. Dann würde wieder alles werden wie früher. Keine seltsamen Kommentare. Kein plötzliches Starren. Einfach nur Jojo.
Ella stieg über den auffällig roten Scherbenhaufen, eilte zu ihr, fiel vor ihr auf die Knie und schlang ihre Arme um sie. Ihre Freundin war verstummt und erwiderte die Umarmung nicht. Bestimmt war sie total erschöpft und geschockt und dennoch genauso glücklich wie Ella, dass der ganze Scheiß vorbei war.
„Es wird alles gut, Jojo", flüsterte sie ihr ins Ohr und weinte in Jojos schwarzen Pullover. Endlich. Der Morgen hatte den Albtraum beendet. Ella löste sich aus der Umarmung und sah nun die Tränen, die auch über Jojos Wangen rannen.
Sie legte ihr eine Hand auf die Schulter und strich ihr mit der anderen eine braune Strähne aus dem Gesicht. „Alles okay, hey, wir haben es geschafft. Was brauchst du? Taschentücher? Schokolade?" Sie lächelte Jojo zu, in deren Mimik sich weiterhin Entsetzen spiegelte. War sie noch zu geschockt, um zu grinsen?
Warum sagt sie nichts?
„Brauchst du jetzt Zeit für dich? Jojo? Hey, du wirst ja ganz blass! Was ist los?" Die Person ähnelte mehr einem Geist als ihrer Freundin. Hatte sie etwas falsch gemacht? Hatte sie Jojo zu sehr zugetextet? Hätte sie lieber schweigen sollen?
„Was hast du getan?" Die Stimme gehörte eindeutig Jojo, sie kam leise und zitternd. Die Freude, die Ella eben durchflutet hatte, verebbte so schnell, wie sie gekommen war. Irgendetwas war schiefgegangen. Aber sie hatte die Rolle doch zerstört. Hätte sie das nicht tun dürfen?
Die Splitter in ihrer Hand und in Jojos Stirn begannen zu leuchten.
„Es ist vollbracht." Jojos Stimme war kaum mehr als ein Hauch, als würde ihr jemand den Atem rauben.
Scheiße, Scheiße, dreimal verfluchte Scheiße!
Die Prophezeiung hallte durch die Wohnung. Bewegten sich Jojos Lippen? Woher zum Teufel kam die Stimme? Ella blickte sich suchend um und entdeckte dabei die glühende Schriftrolle. Sprach der Papyrus?
Da packte sie jemand am Hals und zog sie gewaltsam auf die Füße. Sie wandte sich um und starrte entsetzt in Jojos tiefschwarze Augen. Sie musste sich zusammenreißen, um sich nicht zu übergeben, während der Priester Jojos Körper physisch übernahm.
„Wirklich schade um Jojo." Das Grinsen auf seinen Lippen erzürnte sie so sehr, dass sie sich nicht mehr zügeln konnte. Sie stieß ihm ihr Knie in den Bauch und ohrfeigte ihn, nachdem er sie losgelassen hatte. Wut spiegelte sich nun auch in seinem Gesicht. Er ergriff das Messer, stieß es ihr in einer irrsinnigen Geschwindigkeit in den Körper und zog es wieder heraus.
Als ob sich ein Ventil geöffnet hätte, floss das Blut aus ihr. Sofort versuchte Ella das Loch mit ihren Händen zu bedecken, doch die rote Flüssigkeit rann weiterhin zwischen ihren Fingern hindurch.
„Nein, Ella!" brach es in Jojos Stimme aus dem Priester heraus, der sich stöhnend an den Kopf griff. Ella blickte auf, ein Funken Hoffnung in ihrem Blick. Jojo war noch da. Sie kämpfte gegen ihn, dessen Pupillen nun blau waren. Jojo war stark. Sie war eine Kriegerin.
„Du schaffst das, Jojo. Ich glaube an dich." Ellas Worte klangen verwaschen in ihren Ohren. Der Raum wirkte mit einem Mal so beweglich. Die Augen des Geistes flackerten zwischen blau und schwarz. Ella jubelte und feuerte Jojo innerlich an. Seine hämische Maske war zerbrochen und er rang um die Oberhand im Körper.
Ella musste an der Wand anlehnen, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Ihr Atem ging schneller und ihr Puls langsamer. Sie hatte eine rote Spur auf dem Parkett hinterlassen. Überall Blut. Zu viel Blut. Sie musste irgendetwas über ihre Wunde legen ... Ihre Jacke! Und einen Krankenwagen und die Polizei rufen. Ella wankte an dem Priester vorbei, der inzwischen auf die Knie gesunken war und Geräusche irgendwo zwischen Kreischen und Schreien von sich gab.
Geschieht ihm recht!
Ella war so mit dem Priester beschäftigt gewesen, dass sie ihre eigenen Turnschuhe übersah, die sie damals in aller Eile ausgezogen hatte. Sie stolperte und schaffte es nicht, sich mit den Armen abzufangen. Erst schlug ihr Kopf hart auf dem Boden auf, dann folgte der Rest ihres Körpers.
Das kalte Parkett gab ihr Stabilität und Ella atmete einmal durch. Sie drehte sich zur Seite und presste ihre Hände auf ihren Bauch. Ihre Sicht wurde unscharf, flimmerte wie der Bildschirm eines antiquierten Fernsehers.
Das Heulen von Sirenen kam näher. Schritte trampelten die Stufen des Mehrfamilienhauses herauf. Es pochte an der Tür und sie brachte ein schwaches „Hilfe" heraus. Einen Augenblick hörte sie, wie die Tür aufflog. Menschen in Gelb und Blau knieten vor ihr nieder. Fragen prasselten auf sie ein. Ein Sanitäter versorgte ihre Wunde. Das Blau zog an ihr vorbei. Aufgewühlte Stimmen erklangen aus dem Wohnzimmer. Man hob sie hoch und redete ihr beruhigend zu.
Das Blau kehrte zurück, dazwischen Schwarz. Jojo? Lebte sie? War sie wieder die Alte?
Das Treppenhaus hinab. Durch die Tür. Eine Mischung aus Gelb und Weiß. Blaulicht. Flüstern. Andere Menschen? Blendendes Weiß. Schwarz neben ihr. Eine warme Hand. Jojos Hand.
Das grelle Weiß wurde langsam von dunklen Schatten abgelöst. Ella dämmerte ins Nichts. Doch sie wusste, dass Jojos Licht nicht erloschen war und für sie scheinen würde.
Von: Timetravler9
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