Prophezeiung (@Bobby_Andrews)
Hey, Harold, altes Haus, wie geht es dir?« Joshs Stimme kam viel zu laut aus dem Telefonhörer, den Harold unwillkürlich weiter von seinem Ohr weghielt. Er war ja nicht taub! Noch nicht.
»Ein bisschen mehr Respekt, ja?«, grummelte er und bahnte sich unbeholfen einen Weg von seinem Bett bis zum Küchentisch.
Auf dem Weg dorthin stieg er umständlich über ein paar Bücher und umrundete teure, wenn auch leere Weinflaschen, die er dort achtlos abgestellt hatte. Müde schaltete er die Kaffeemaschine ein und wartete darauf, dass sein Agent am anderen Ende der Leitung ihn an die Deadline für sein Manuskript erinnern würde. Drei, zwei, eins.
»Ich habe heute mit Richard gesprochen und er ist schon ganz wild darauf, deine neue Story zu lesen. Er will sie endlich verlegen dürfen«, fuhr Josh fort. Der Vollautomat gab ein glucksendes Geräusch von sich und spuckte die letzten Reste schwarzer Brühe in Harolds einzigen noch sauberen Becher. »Wann dürfen wir denn mit deinem Manuskript rechnen?«
Harold kniff die Augen zusammen. Tief durchatmen. Er wusste ja, dass die Frage kommen würde. Und er würde es noch einmal mit seiner Ausrede versuchen müssen. Auch wenn er an diesem Morgen kaum die Kraft besaß, seinen Agenten anzulügen, konnte er ihm auch nicht die Wahrheit sagen. »Du weißt, was ich von unfertigen Manuskripten halte, Josh«, fing er vorwurfsvoll an. »Ich schicke euch die Unterlagen, sobald ich damit fertig bin.«
»Und wie lange soll das dauern?« Josh klang nun deutlich ungeduldiger als noch vor ein paar Sekunden.
Harold konnte es ihm nicht verübeln. Die Frist für die Abgabe seines neuen Buches hatte der Verlag mehr als einmal verschoben. Man hoffte wohl darauf, dass Harold Keynes erneut einen Bestseller schreiben würde, und gewährte ihm gewisse Freiheiten, das wusste er. Doch jetzt schien die Geduld des Agenten offenbar am Ende.
»Es ist so, Harold«, fing Josh nun etwas milder an. »Wir glauben an dich! Wirklich! Aber wenn du uns nichts geben kannst, müssen wir ein anderes Buch vorziehen. Und deinen Vorschuss ...«
»Ich bin fast fertig!«, sagte Harold schnell, ohne groß nachzudenken. »Gib mir noch zwei Wochen und ich verspreche dir, das wird spektakulär. Vertrau mir, ich werde euch nicht enttäuschen!«
Was für eine Lüge. Harold schämte sich, dass er dem Agenten nicht sagen konnte, dass er rein gar nichts hatte! Seit Monaten saß der einstige Bestsellerautor vor seinem PC und grübelte. Wie viele Ideen hatte er inzwischen angefangen und wieder verworfen? Wie viele Stunden hatte er recherchiert und geplottet, um danach alle Notizen in einen Ordner mit der Aufschrift »ungenügend« zu verschieben? Harold vermochte es nicht zu sagen. Er war seit einigen Wochen nicht mal mehr in der Lage, einen vernünftigen Satz zu Papier zu bringen. Denn damit hatte er aus purer Verzweiflung wieder begonnen. Der klassische Notizblock lag jedoch beinahe unberührt auf seinem Schreibtisch neben den leeren Weingläsern und dem vollen Aschenbecher. Das Einzige, das der Fünfzigjährige sich noch zutraute, war eine Karikatur seiner selbst zu sein. Ein gescheiterter Autor mit Schreibblockade. Leer und einfallslos. Und ohne Lichtblick, allein da rauszukommen.
»Ich freue mich, dass du schon angefangen hast!« War da etwa Hohn in Joshs Stimme? Verdammt, der Mann kannte ihn wohl zu lange. »Hör zu«, meinte er plötzlich verschwörerisch. »Wenn du nicht weiterkommst oder Inspiration brauchst, frag doch einfach mal ChatGPT. Vielleicht bringt es dich auf neue Ideen oder kann dich unterstützen.«
»Chad wer?« Harold fühlte sich aus seinen Gedanken gerissen. Mit wem sollte er jetzt schon wieder sprechen? Ein neuer Praktikant womöglich?
»ChatGPT, das KI-Programm! Du hast doch sicher schon davon gehört?!«, fragte Josh ungläubig.
Harold brummte. »Keine Ahnung, was das ist! Sowas wie Tick Tack oder Telegramm?«
Josh lachte gequält. »Du bist wirklich ein Dinosaurier, Harold! Wenn du langfristig erfolgreich bleiben willst, solltest du dich mit diesen Dingen auseinandersetzen. Auch du kannst den Fortschritt nicht ignorieren!«, mahnte der deutlich jüngere Mann.
»Das wird doch völlig überbewertet!« Harold trank den letzten Schluck von seinem Kaffee, der inzwischen fast kalt geworden war. Er musste unbedingt neue Bohnen kaufen. »Es gab schon immer Schriftsteller und immer schon haben Menschen Bücher gelesen. Ob sie es im Laden mitnehmen oder sich neuerdings nach Hause schicken lassen, ist mir egal. Aber das andere Zeug, von dem du da sprichst, das brauche ich alles nicht.«
Eine kurze Stille entstand zwischen den Männern, die mehr als nur zwanzig Jahre trennten. Schließlich hörte Harold Josh sagen: »Schreib das Manuskript und schick es mir. Ich gebe dir drei Wochen. Wenn ich dann nichts von dir habe ... Ach, verdammt! Lass es bloß gut sein!«
»Es wird dich umhauen!«
»Das muss es auch!«
Als Harold den Hörer auflegte, sank er erschöpft in seinem Stuhl zusammen. Wie sollte er das nur schaffen? Er hatte nicht mal eine Idee!
Eine Weile saß er auf dem unbequemen Küchenstuhl und sah schweigend aus dem Fenster. Da draußen gab es eine Welt, an der er viel zu lange nicht mehr teilgenommen hatte. Sie drehte sich immer schneller und schneller, und Harold fiel es schwer, ihr hinterher zu eilen. Manchmal kam er sich vor, als sei er nach der Trennung von Hellen einfach stehen geblieben und als sei seine Muse einfach weitergelaufen, ohne dass er eine Chance hatte, sie einzuholen. Ob sie jemals auf ihn warten würde?
Das plötzliche Klingeln seines Handys ließ Harold zusammenzucken. Ohne auf das Display zu schauen, nahm er das Gespräch an. »Ja?«
»Dad? Hier ist Millie! Ich brauche deine Hilfe!«
***
Harold warf bereits zum dritten Mal einen Blick auf seine teure Armbanduhr, nur um festzustellen, dass er immer noch viel zu früh dran war. Der Anruf seiner Tochter hatte ihn tatsächlich motiviert, sich zu duschen, die Wohnung aufzuräumen und einkaufen zu gehen. Sie hatte ihm einen spannenden Nachmittag versprochen, ihn dann aber nur mit kryptischen Andeutungen hingehalten. Er müsse schon zum Treffpunkt kommen, wenn er wissen wolle, was sie entdeckt hatte. Natürlich hatte sie ihn damit am Haken. Denn als Schriftsteller wusste Harold, dass man immer neugierig bleiben musste. Und deshalb stand er einen Tag später – frisch rasiert und in Kleidung, die nicht mehr den Anschein erweckte, als hätte er sie wochenlang getragen – vor dem alten Gebäude der Kunstgalerie und wartete.
Gerade wollte er wieder die Uhr konsultieren, als er sie sah: Ein junges, fröhliches Gesicht mit wilden braunen Locken, die lose zu einem Zopf zusammengebunden waren, wobei einige Strähnen sich bereits gelöst hatten. Ihr Outfit – eine waghalsige Kombination aus knöchelfreier Hose, Turnschuhen und einem langen Lederblazer – hätte direkt aus einer dieser trendigen Streaming-Serien stammen können, welche die jungen Leute heutzutage schauten. Wer trug so etwas? Harold schüttelte den Kopf. Mode war schon lange nicht mehr seine Stärke. Eine bequeme Jeans und ein grauer Pullover reichten ihm vollkommen aus. Aber immerhin trug Emilia noch ihre Brille. So eitel war sie also doch nicht geworden.
»Dad!« Ihr Gesicht strahlte auf, als sie ihn erblickte und auf ihn zulief.
Harold widerstand dem Drang, eine der herausgefallenen Locken zurück in den Zopf zu schieben, und umarmte seine Tochter stattdessen. »Emilia, mein Mäuschen! Wie geht's dir?«
Millie lachte, schüttelte ihren Kopf und ließ die Haare wippen. »Dad, niemand nennt mich Emilia! Das weißt du doch!«
Harold nickte langsam. Daran würde er sich wohl nie gewöhnen. »Na klar,« sagte er dennoch mit einem schiefen Lächeln. »Wie läuft die Uni? Anscheinend gibt es da ja etwas Spannendes, an dem du gerade arbeitest?«
Millie grinste breit und wies auf das Gebäude hinter ihm. »Was sehr Spannendes, Dad. Und dafür brauche ich deine Hilfe. Du musst etwas für mich ersteigern!«
Harold zog eine Augenbraue hoch. »Was du wohl eher brauchst, ist mein Geldbeutel.«
Millie klimperte mit den Wimpern, und Harold seufzte. Sie wusste genau, wie sie ihn um den Finger wickeln konnte. »Um was geht's denn? Und warum hast du nicht Mama und ihren Freund gefragt?«
Millie hob abwehrend die Hände. »Die würden das nicht verstehen. Aber du weißt, dass man bestimmte Dinge einfach braucht, um weiterzukommen. Und diese
Schriftrolle, die heute versteigert wird, ist genau so etwas! Sie war jahrzehntelang verschollen und wurde nie vollständig entschlüsselt. Wenn ich das schaffen würde, wäre das ein riesiger Schritt für mich – beruflich und persönlich! Du kannst das nachvollziehen, Dad. Du bist auch ein kreativer Geist!«
Sie sprach sich in eine solche Leidenschaft hinein, dass Harold ein Grinsen unterdrücken musste. »Was sagt Mama denn dazu, dass du deine Zeit weiterhin mit den Toten vergeudest?«, neckte er. Seine Frau war nie begeistert davon gewesen, dass Millie ihre Fähigkeiten nicht für eine, ihrer Meinung nach, vernünftige Ausbildung nutzte.
Millie zog die Schultern hoch. »Keine Ahnung, hab's ihr nicht erzählt. Sie und Alfi sind im Urlaub.«
Harold brummte. »Du meinst Alfred. Diese Spitznamen sind doch albern. Der Mann ist über vierzig!«
»Dad, bitte!« Millie versuchte, seine aufkommenden düsteren Gedanken zu zerstreuen. »Also, hilfst du mir?«
***
»So viel Geld für ein altes Stück Papier ...« Harold fühlte sich ausgenommen.
Seine Tochter hingegen strahlte vor Freude. »Dass wir den Zuschlag bekommen haben, ist unglaublich! Weißt du eigentlich, wie selten solche Artefakte sind? Wenn es denn wirklich echt ist«, fügte sie hinzu und hielt das Behältnis, in dem die gerollte Papyrusseite sicher verstaut war, fest umklammert.
»Unglaublich ist wohl das richtige Wort«, brummte Harold und dachte an die horrende Summe, die er seiner begeisterten Tochter gerade – auf unbestimmte Zeit – geliehen hatte. »Und was meinst du mit: Wenn sie wirklich echt ist?«
»Ich muss den Papyrus und die Hieroglyphen erst untersuchen, um sicherzustellen, dass sie echt sind. Aber ich glaube schon, dass es tatsächlich aus dem Nachlass dieses Professors stammt, der unter mysteriösen Umständen gestorben ist. Eine spannende Geschichte!« Millies Augen funkelten begeistert.
»Eher unheimlich«, murmelte Harold und schüttelte den Kopf. »Wirst du mir erzählen, was darauf steht, wenn du es endlich entschlüsselt hast?«
»Versprochen, Dad!« Millie grinste breit. »Aber es könnte eine Weile dauern. Solche Geheimnisse lüften sich nicht über Nacht.«
Harold nickte und lächelte leicht. »Ich hoffe, es ist die ganze Mühe wert. Und das Geld ...«
»Es wird sich lohnen, du wirst schon sehen«, sagte Millie, ehe sie ihn noch einmal fest umarmte. »Wir reden bald, ja?«
»Mach's gut, Mäuschen«, antwortete Harold, der Millies fröhliche Energie vernahm, als sie sich voneinander lösten. Während sie wegging, sah er ihr nach und spürte, wie eine seltsame Mischung aus Stolz und Sorge in ihm aufstieg.
Mit einem letzten Blick auf die Galerie ging er in die entgegengesetzte Richtung, seine Gedanken noch immer bei der mysteriösen Schriftrolle, die sie gerade ersteigert hatten.
***
»Wenn das Herz des Wüstengottes aufbricht, wird das Ende der Tage beginnen?« Harold kratzte sich mit der linken Hand nachdenklich am bereits ergrauten Haarschopf. In der anderen Hand hielt er das Telefon, über das Millie ihm aufgeregt ihre Übersetzung erläuterte. Leider konnte er damit zunächst wenig anfangen. »Das klingt schon sehr kryptisch, oder?«
»Es ist nicht die ganze Botschaft, Dad! Da steht noch etwas von ›Sternen, die Seth im Sand verstreut‹ und dem ›Fluss der Toten, der sich im Schein des zwölften Mondes wie Blut färbt‹. Aber der Kern der Botschaft ist eindeutig.«
»Die Apokalypse!« Harold richtete sich auf. Das war die Idee! »Du bist genial, Millie!«, rief er ins Telefon.
»Danke! Endlich hat sich das Studium ausgezahlt, oder?« Sie machte noch ein paar Witze über die altägyptische Sprache und dass Totgeglaubte länger leben, doch Harold war bereits in Gedanken woanders. In seinem Kopf formten sich Bilder zu Szenen, Worte zu Sätzen, und tief in seinem Inneren sah er seine Muse mit offenen Armen auf ihn warten.
Um seine Tochter nicht unhöflich zu unterbrechen, hörte er noch eine Weile ihren Erklärungen zu und schrieb eifrig mit. Nachdem sie sich verabschiedet hatten, machte er sich sofort ans Werk. Er schrieb und schrieb und schrieb – zwei Wochen lang. Bis die Geschichte um die ›Prophezeiung‹ fertig war.
***
»Mister Keynes, hier entlang! Setzen Sie sich bitte in den Sessel und richten Sie Ihren Blick auf Kamera zwei. Sobald Miss Evans die Sendung eröffnet hat, können Sie mit ihr ins Gespräch kommen – genau wie besprochen. Das wird schon!« Mit diesen Worten klopfte die junge Produktionsassistentin ihm aufmunternd auf den Rücken. Mit prüfendem Blick musterte sie kurz sein Gesicht und tupfte eifrig mit dem Puderpinsel ein letztes Mal über seine Nase. Harold zuckte leicht zusammen und atmete überrascht den feinen Staub ein, was ihn prompt niesen ließ.
Als das rote Lämpchen einer der massiven Kameras aufleuchtete, wusste Harold, dass es gleich ernst werden würde. Nervös glättete er die Krawatte, die man ihm – statt seiner eigenen – in der Maske umgebunden hatte.
»Das Beige passt viel besser zu Ihrer Zielgruppe«, hatte die Assistentin gesagt, und Harold fühlte sich mit einem Mal uralt. War er wirklich ein Dinosaurier, wie Josh es ihm vorgeworfen hatte?
Bevor er den Gedanken weiter ausführen konnte, erklang die Einlaufmusik, und das Licht im Studio wechselte auf die hellen Scheinwerfer. Die Show begann!
Harold spürte, wie sein Herzschlag an Tempo zulegte. Die Kameras bewegten sich, und das grelle Licht blendete ihn unangenehm. Er wollte schon die Augen zusammenkneifen, doch die gut gelaunte Stimme der Moderatorin forderte seine Aufmerksamkeit.
»Herzlich willkommen zu einer weiteren Ausgabe von ›Book Talk‹! Heute begrüßen wir einen ganz besonderen Gast: den gefeierten Schriftsteller Harold Keynes ...«
Harold zwang sich zu einem Lächeln, als die Kamera auf ihn schwenkte. Die Worte der Assistentin klangen ihm immer noch im Ohr: »Das schaffen Sie schon.« Aber seine Unsicherheit ließ sich nicht so leicht abschütteln. Er war nicht mehr der vielversprechende junge Autor, der Interviews spielend meisterte. Sein letzter Roman lag Jahre zurück, und er fragte sich, ob das Publikum überhaupt noch seins war.
Miss Evans wandte sich mit einem strahlenden Lächeln zu ihm. »Mister Keynes, es ist uns eine große Ehre, Sie heute bei uns zu haben. Ihre Bücher haben über die Jahre ganze Generationen begeistert, ein Bestseller folgt dem nächsten. Ihr neuestes Werk hat bereits nach kurzer Zeit enorme Resonanz erhalten.«
Die charmante Moderatorin blickte erwartungsvoll zu Harold. Er räusperte sich, bemüht, die Unsicherheit in seiner Stimme zu unterdrücken. »Vielen Dank. Es ist ... schön, hier zu sein.«
Ein kurzes Schweigen folgte, bevor Miss Evans mit der nächsten Frage fortfuhr. Harold spürte, wie seine Finger erneut nervös an der Krawatte zogen. Das beige Stück Stoff fühlte sich fremd an, als gehöre es nicht zu ihm. »Dinosaurier«, dachte er wieder, bevor er tief Luft holte.
»Bei diesem Buch habe ich meiner Phantasie freien Lauf gelassen«, beantwortete er die Frage nach seiner Inspiration. »Den Anstoß hat mir allerdings meine Tochter gegeben.«
»Sie hat Ägyptologie studiert und schreibt nun an ihrer Doktorarbeit«, fügte die Moderatorin erklärend für das Publikum hinzu. »Sie erzählten mir, dass sie eine jahrtausendealte Schriftrolle entschlüsseln konnte. Darin geht es um eine Prophezeiung. Können Sie uns mehr darüber erzählen? Wird sich diese Vorhersage bewahrheiten?« Miss Evans‹ Augen funkelten vor Neugier, als sie ihn eindringlich ansah. Harold spürte, wie seine Hände erneut nervös an der Krawatte nestelten.
»Ja, es stimmt. Diese Schriftrolle prophezeit das Ende der Welt – ähnlich, wie ich es in meinem Roman beschrieben habe.«
»Erzählen Sie uns doch ein wenig mehr über Ihr Meisterwerk, Mister Keynes«, forderte ihn die Moderatorin mit einem Hauch von gespielter Neugier auf. Harold wusste, dass sie das Buch längst gelesen und sich vor dem Interview eingehend mit ihm darüber unterhalten hatte. Die Fragen waren allein fürs Publikum gedacht. Allerdings störte ihn das nicht – es war seine Gelegenheit, sich und sein Werk in Szene zu setzen.
Je mehr er über die ›Prophezeiung‹ sprach, desto mehr entspannte er sich. Die anfängliche Nervosität verflog, und er ließ sich immer tiefer in den Sessel sinken, während die Worte flüssiger über seine Lippen kamen. Als er seine Ausführungen beendet hatte, war er endlich so locker, wie er es früher immer gewesen war.
Miss Evans schenkte ihm ein schelmisches Grinsen und stellte ihre abschließende Frage: »Was würden Sie tun, wenn sich die Prophezeiung tatsächlich bewahrheiten würde? Würden Sie wie Ihr Protagonist versuchen, das Ende abzuwenden und die Menschheit zu retten?«
Harold grinste bei dieser provokanten Frage, als ihm ein unerwarteter Gedanke kam. Verschwörerisch lehnte er seinen Oberkörper zu der Moderatorin hinüber und erwiderte bestens gelaunt: »Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass das Ende noch aufzuhalten ist. Darum habe ich bereits vorgesorgt und mir ein abgelegenes Haus in den Bergen gekauft. Ich empfehle Ihnen, dasselbe zu tun.«
Miss Evans lachte amüsiert und leitete geschickt zur Werbepause über. Als die Studiolichter erloschen, atmete Harold erleichtert aus. Sie bedankte sich herzlich, bat ihn um ein Autogramm für ihr persönliches Exemplar der ›Prophezeiung‹ und lobte seinen spontanen Kommentar zum Weltende. Sie versprach ihm, dass die Presse begeistert darauf reagieren würde.
Harold war zufrieden mit dem Interview. Was er nicht ahnte, war, welche Lawine seine scherzhafte Bemerkung über den Weltuntergang noch lostreten würde.
***
Harold war gerade dabei, neuen Kaffee zu kochen, als sein Handy klingelte. Den Klingelton, den Emilia für ihre Anrufe ausgesucht hatte, hallte durch die aufgeräumte Wohnung. Hastig stellte er die Kaffeekanne ab, wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch trocken und griff nach seinem Handy, das auf dem Küchentresen vibrierte. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als er die verspielte Melodie von ›Fireflies‹ leise mitsummte – »Cause everything is never as it seems«.
»Hey, Millie!«, meldete er sich, während er sich auf einen der Küchenstühle sinken ließ.
»Dad, hast du die Nachrichten gesehen?« Millies Stimme klang aufgeregt, beinahe atemlos.
Harold runzelte die Stirn. »Nein, ich habe gerade erst neuen Kaffee aufgesetzt. Was ist denn los?«
»Dein Interview mit Miss Evans!« Sie machte eine kurze Pause, als würde sie nach den richtigen Worten suchen.
»Das war super, oder!« Harold lachte stolz.
»Es geht viral!« Millie klang nicht begeistert, eher aufgeregt.
Harold blinzelte verwirrt. »Viral? Wovon redest du? Ist sie etwa krank?«
»Ach, Dad!« Harold wusste, dass seine Tochter nichts von seinen Witzen hielt. Und die Zuschauer der Fernsehsendung Millie zufolge anscheinend ebenso wenig: »Dein Kommentar über den Weltuntergang und das abgelegene Haus hat sich verselbstständigt! Die Leute drehen völlig durch! Es gibt Blogs, Videos, Memes – manche glauben wirklich, dass du etwas weißt!«
Erschlagen von den Informationen lehnte Harold sich in seinem Stuhl zurück und fuhr sich durchs Haar. Das war Wahnsinn! Warum sollte man seine Aussage ernst nehmen? »Das war doch nur ein Scherz ...! Ein Witz!«
»Ja, aber die Leute glauben dir, Dad. Du musst dir das anschauen. Ich schick dir einen Link zu einem Video.«
Während Harold auf die Kaffeemaschine starrte, die langsam den frischen Kaffee in die Kanne tröpfeln ließ, signalisierte sein Handy eine eingehende Nachricht. Es war der Link zu einem Video mit dem reißerischen Titel: »Die ›Prophezeiung‹ ist echt! Der Weltuntergang wird kommen!«
»Das kann doch nicht wahr sein ...«, murmelte Harold ungläubig.
»Ist es aber! Und es breitet sich schnell aus. Ich dachte, ich ruf dich an, bevor es noch größer wird. Vielleicht solltest du mal ein Statement abgeben oder so«, schlug Millie vor.
Harold schwieg einen Moment. Die Vorstellung, dass ein harmloser Witz aus einem Interview solche Ausmaße annehmen konnte, erschien ihm vollkommen absurd. Dennoch, Millie klang ernst.
»Okay, ich schau mir das an«, sagte er schließlich und versuchte, die Schwere der Situation zu begreifen. »Danke, dass du Bescheid gesagt hast.«
»Natürlich. Und, Dad? Nimmst du mich mit, wenn du in dein Haus in den Bergen ziehst?«
Harold lachte auf. »Du bist die Einzige, mit der ich den Weltuntergang erleben möchte!«
Als er auflegte, fühlte er sich noch immer benommen. Wie im Automodus griff er nach seinem Laptop und öffnete ihn mit einem mulmigen Gefühl im Magen. Das Video war schlimmer, als er es erwartet hatte.
»Hey Leute, hier ist wieder Max, mit ›Max‹ magischen Mysterien‹. Ihr wisst, ich bin immer auf der Suche nach Mysterien und ›Oh mein Gott‹, hat jemand von euch letzte Woche das Interview von Keynes bei der Sendung ›Book Talk‹ gesehen? Leute, ich sag es euch, das war voll der abgefahrene Shit! Eigentlich warte ich ja immer, bis die Bücher verfilmt werden, aber diesmal ist es nicht nur ein Buch mit einer Geschichte, es ist eine echte Prophezeiung! Ja, Mann, er hat es selbst gesagt.«
Der Hintergrund des Videos wechselte zu einem Ausschnitt aus der Sendung, als Harold sich sagen hörte: »Ja, es stimmt. Diese Schriftrolle prophezeit das Ende der Welt – [...] wie ich es in meinem Roman beschrieben habe.«
Die Ansicht ging wieder zu dem jungen Mann, der sich wie bei einem Porträt von Edvard Munch die Hände ans Gesicht hielt und einen stummen Schrei ausstieß. Das Bild wackelte dabei theatralisch.
Harold rollte die Augen. ›Das war sehr ungünstig geschnitten‹, dachte er.
»Und wenn ihr das jetzt für unglaubwürdig haltet, hier ist der Beweis, dass es sich um eine echte Papyrusseite handelt. Ich habe nämlich nachgeforscht.« Der junge Mann hielt einen Flyer der Kunstgalerie in die Kamera, auf der die Versteigerung der Rolle vor ein paar Monaten angekündigt wurde.
»Die Tochter des Autors ist Doktor Ägyptologin!« – angehende Doktorin der Archäologie‹, korrigierte Harold stumm und schüttelte den Kopf über die Wortkreation dieses ›Magic Max‹ – »und sie hat die Hieroglyphen decodiert!«
Wieder wurde ein Bild aus der Sendung eingeblendet. Die hübsche Moderatorin hatte das Wort an Harold gerichtet. »Sie erzählten mir, dass sie eine jahrtausendealte Schriftrolle entschlüsseln konnte. Darin geht es um eine Prophezeiung. Können Sie uns mehr darüber erzählen? Wird sich diese Vorhersage bewahrheiten?«
Dann wurde er selbst gezeigt, wie er sich zu Miss Evans hinüberbeugte und sagte: »Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass das Ende noch aufzuhalten ist. Darum habe ich bereits vorgesorgt und mir ein abgelegenes Haus in den Bergen gekauft. Ich empfehle Ihnen, dasselbe zu tun.«
»Das ist doch völlig aus dem Zusammenhang gerissen!« Harold sprang auf und hätte dabei fast den Laptop vom Küchentisch gefegt. »Da fehlt ja das halbe Interview!«
Der junge Mann hörte seinen Einwand nicht. Stattdessen sah man ihn nun mit einem gepackten Rucksack auf dem Rücken in die Kamera winken. »Ich bin dann mal weg, Leute! Ich habe mir auch ein Haus in den Bergen gekauft. Direkt gegenüber von Mister Keynes. Aber wo das genau ist, kann ich euch leider nicht sagen. Ihr wisst schon, wir können nicht alle überleben! Aber kauft euch das Buch!« Max zwinkerte und ließ dem Schluss seiner Sendung den Jingle für seine Videos folgen. Nach der Aufforderung, einen Daumen nach oben dazulassen, wurde das Bild schwarz und es kamen weitere Vorschläge für ähnliche Videos.
Zwei Stunden lang klickte sich Harold durch diverses Bildmaterial von immer wirrer werdenden Verschwörungstheoretikern. Mal nahmen sie unter dem Deckmantel der Wissenschaft Naturphänomene der jüngsten Vergangenheit unter die Lupe und interpretierten einen Tropensturm als ›das Auge Seths, das die Welt aus den Fugen wirft‹. Oder eine Blaualgenplage wurde der Beweis für ›das vergiftete Blut des Ra, der den Fluss des Lebens zerstörte‹. Mit jedem Video, das Harold ansah, schienen sich die Produzenten an Irrsinn und Albernheiten gegenseitig übertreffen zu wollen. Einigen sogenannten Influencern konnte man dabei durchaus Kreativität und einen gewissen Witz zugestehen. Der Ideenreichtum, die Zitate aus dem Buch auf das aktuelle Weltgeschehen zu übertragen, war teilweise sogar plausibel, wenn man den Fakt außer Acht ließ, dass sich die meisten Szenen, auf die sich die illustre Meute bezog, nur der Phantasie des Autors entsprungen waren. Harold hatte die Übersetzung, die seine Tochter ihm gegeben hatte, fast vollständig angepasst. Doch das schien niemanden zu interessieren.
Als das Telefon klingelte, zuckte Harold erschrocken zusammen. Hektisch nahm er das Gespräch an.
»Harold! Es ist der Wahnsinn!« Das war Josh. Anscheinend hatte er auch die Videos gesehen.
»Ja, der pure Wahnsinn«, bestätigte Harold. »Wer glaubt denn allen Ernstes, dass uns die Apokalypse bevorsteht!«
»Ist doch völlig egal, was die glauben«, wehrte Josh ab. »Sie haben dein Buch gekauft! Die Verkäufe gehen durch die Decke. Wir haben bereits Anfragen, das Buch für den ausländischen Markt übersetzen zu lassen. Du hast nicht zu viel versprochen, Harold. Glückwunsch!«
Josh war überglücklich über die Entwicklung. Doch der Schriftsteller fühlte sich mit einem Mal überfordert und schuldig. Was, wenn durch seinen unbedachten Kommentar nun eine Panik ausbrechen würde? Wenn jemand dadurch Schaden nehmen würde?
»Wir müssen das klarstellen, Josh! Ein öffentliches Dementi, irgendwas! Kannst du das organisieren?«
Ein Schweigen füllte die andere Seite des Hörers.
»Josh?«, fragte Harold eindringlich. »Kriegst du das hin? Wir müssen das aufklären!«
***
Es dauerte zwei Wochen, bis Josh einen erneuten Termin bei ›Book Talk‹ organisiert hatte. Zwei Wochen, in denen die wirren Theorien um die Prophezeiung und seine Person immer wilder und haarsträubender wurden. Als Harold endlich die Chance bekam, den ganzen Zirkus aufzuklären, glaubte ihm schon niemand mehr, dass die Sache mit der Erfüllung der Vorhersage nur ein Scherz gewesen war. Die Geschichte war inzwischen so stark eskaliert, dass Harold nicht nur sich, sondern auch seine Tochter in Gefahr sah.
Schaulustige begannen ihm vor seinem Wohnhaus in der Stadt aufzulauern, machten Fotos, wenn er ›für den Weltuntergang‹ einkaufte, und baten ihn um Autogramme. Ein paar hartnäckige YouTuber wollten ihn für ein Interview gewinnen, doch als einer von ihnen sogar in Harolds Wohnung einbrach, um die Schriftrolle zu sehen, reichte es dem Autor. In seiner Wut beschimpfte er den jungen Mann und erklärte, dass die Rolle gar nicht in seiner Wohnung sei. Ein fataler Fehler.
Plötzlich richtete sich die Wut einer kleinen Gruppe Fanatiker auf Emilia, die ihrer Meinung nach ›das Herz des Wüstengottes‹ aufgebrochen, und somit ›das Ende der Tage‹ eingeleitet hatte. Als jemand öffentlich behauptete, der Fluch des Pharaos könne nur gebrochen werden, wenn die Person, welche die Prophezeiung übersetzt hatte, unschädlich gemacht würde, ergriff Harold die Panik.
Er zögerte keine Sekunde, seine Tochter in Sicherheit zu bringen, als sie unter Tränen anrief und von der Drohung gegen sie erzählte. Er bat sie, die Papyrus-Rolle und Kleidung einzupacken und ihn in ›ihrer Hütte‹ zu treffen.
Harold rief sich ein Taxi, um an den einzigen Ort zu kommen, der ihm auf die Schnelle eingefallen war: Das ›Haus in den Bergen‹ war nicht mehr als eine Gartenlaube, die er von seinen zu früh verstorbenen Eltern geerbt und manchmal als Feriendomizil genutzt hatte. Doch es war für ihn und Millie ein Ort, der ihnen immer eine gewisse Sicherheit gegeben hatte und der sie emotional verband. Hier würden sie in aller Ruhe einen Plan schmieden können, wie sie das Unheil aufhalten könnten.
Die Nacht brach bereits herein und ein feiner Nebel lag auf der schmalen Straße, die in geschwungenen Pfaden den steilen Hang am Berg hinaufführte. Der Scheinwerfer des Wagens warf ein fahles Licht auf die Biegung, hinter der Harold den Sandweg zum Haus wusste. Das Taxi wurde langsamer und bog gemächlich auf den Weg zwischen den Bäumen ab, die in der Dunkelheit irgendwie bedrohlich aussahen. Der Scheibenwischer ging an, als der Prius sich durch die dicker werdende Nebelsuppe kämpfte. Gleich würde Harold das die Hütte sehen und in Sicherheit sein. Gleich würde er seine Tochter in die Arme nehmen und trösten. Und dann würden sie gemeinsam einen Plan ausarbeiten, um diesem Albtraum ein Ende zu bereiten.
Die Lichter des Unterschlupfes waren schon zu sehen. Erleichtert atmete Harold aus. Erwartungsvoll blickte er an dem Fahrer vorbei auf die Straße. Doch das Licht kam nicht vom Haus. Aus dem Schatten der Bäume sprang plötzlich ein Mann auf den Weg, eine starke Taschenlampe in der Hand, und blieb vor dem Wagen stehen. Der Fahrer stieg sofort auf die Bremse und das Auto kam auf dem nassen Laub schlitternd zum Stehen.
»Zusperren!«, rief Harold dem Mann zu, der zum Glück schnell reagierte und die Türen zentral verriegelte.
»Wer ist das?«, fragte der Fahrer, doch Harold war wie versteinert, als er sah, wie immer mehr Gestalten aus dem Dickicht auftauchten und das Auto am Weiterfahren hinderten.
»Das muss aufhören«, murmelte er und sagte dann lauter: »Fahren Sie einfach durch, ich muss zum Haus!«
Der Mann zögerte. »Aber Mister Keynes ...«
»Fahren Sie schon, die werden schon zur Seite gehen!«
Der Fahrer des Taxis nickte und gab ein lautes Hupsignal, das ein paar der Gestalten zur Seite springen ließ. Das Brüllen des Motors, als der Wagen sich in Bewegung setzte, tat sein Übriges. Die Chance nutzend fuhr das Taxi bis zur Haustür der Hütte, vor der bereits der gelbe VW Käfer von Millie parkte. Harold ließ ein großzügiges Trinkgeld im Prius zurück, griff nach seiner Reisetasche und dem Schlüssel und verließ eilig das Auto. Bevor die wilde Meute ihn erreichte, verschwand er im Haus.
»Dad!« Millie warf sich Harold in die Arme. Ihre Augen waren gerötet, doch sie lächelte bereits wieder, als sie ihren Vater sah. »Ich konnte dich nicht anrufen und warnen, das Netz hier oben ist sehr schlecht! Vielleicht war es keine gute Idee, ausgerechnet hierherzufahren.«
»Die sind doch alle verrückt! Wie haben die uns überhaupt gefunden?«, murmelte Harold und strich Millie über die braunen Locken. Ein liebevoller Kuss landete auf ihrem Scheitel. Der Geruch von Vanille und Rosenwasser stieg in seine Nase und er schloss kurz die Augen. Dieser ganze Ruhm und all die Tantiemen waren es einfach nicht wert, dafür seine Tochter in Gefahr zu bringen. Sie war das Wertvollste, was er noch hatte. Er musste sie vor allem in der Welt beschützen. Und in diesem Moment war es ein aufgebrachter Mob, der vor dieser Hütte mit Fackeln und Heugabeln darauf wartete, sie auf den Scheiterhaufen zu bringen. Zumindest kam Harold sich so vor.
»Wir müssen das beenden«, sagte er sanft und schob
Millie ein Stück von sich weg. »Hier und jetzt!«
»Wie willst du das anstellen? Deine Erklärung im Fernsehen hat nur noch mehr dafür gesorgt, dass die Menschen denken, dass du etwas weißt, dass du nicht teilen willst. Und die Gegner der Theorie haben dich und deine Bücher verrissen. Alle sind gegen uns!« Millies Augen waren feucht, sie sah vertrauensvoll zu ihrem Vater auf. Auch, wenn sie seit der Scheidung nicht mehr bei ihm, sondern bei ihrer Mutter gelebt hatte, wusste sie doch, dass sie sich immer auf ihn verlassen konnte. Sie wusste, er würde eine Lösung finden.
»Hast du die Papyrus-Rolle dabei?«
Millie nickte. Dann deutete sie auf den Behälter, der auf dem Sofa im Wohnraum lag. »Was hast du damit vor?«
Harold zog die Unterlippe ein. Er wusste, wie sehr seine Tochter die Rolle hatte haben wollen und er wusste auch, welch kleines Vermögen er für dieses Stück Geschichte gezahlt hatte. Doch was war das alles wert, wenn er sein Leben in Angst führen musste? Und seine Tochter in Gefahr war?
»Ich werde sie verbrennen! Hier und jetzt, vor den Augen der Welt. Und du wirst mich filmen!« Seine Worte waren von solcher Entschlossenheit, dass Millie zustimmend nickte und ihr Smartphone aus der Tasche zog.
»Und du meinst, dass die Menschen dann zufrieden sein werden? Dass sie aufhören, uns zu bedrohen und ihre Geschichten zu erzählen? Dass der Sturm sich legt?«
Harold hörte die Unsicherheit in der Stimme seiner Tochter. Er konnte ihr nicht versprechen, dass mit der Zerstörung der Rolle alles wieder beim Alten sein würde. Doch er wollte weiterhin an die Vernunft der Menschen glauben und an ihre Fähigkeit, rational zu denken und Dinge zu hinterfragen und ihnen nicht nachzulaufen, nur weil sie plausibel waren.
»Ich hoffe es, mein Mäuschen! Ich hoffe es wirklich!« Er streckte seine Hand nach Millie aus und sie legte ihre hinein.
»Ich vertraue dir, Dad! Lass es uns tun!«
Harold nickte. Dann nahm er die Rolle aus der Hülle und zeigte sie ein letztes Mal Millie, die sie als Beweis für ihre Existenz von oben bis unten abfilmte. Die Zeichen und Hieroglyphen flimmerten im dunklen Zimmer wie lebendige Wesen, als Harold sein Feuerzeug mit der großen Flamme an das alte Stück Papier hielt. Er würde das Chaos, welches er mit einem unbedachten Kommentar losgetreten hatte, einfangen. Er würde die Prophezeiung zerstören und das Gleichgewicht auf der Welt wieder herstellen. Er würde sich und Millie retten!
Als die Flammen den Papyrus langsam in blauen Dunst verwandelten, verspürte Harold Erleichterung in sich aufsteigen. Er hatte das Unheil abgewendet. Doch ein kleiner, spitzer Zweifel blieb ihn ihm zurück und zwickte ihn: War es wirklich das Papier gewesen, welches die Katastrophe ausgelöst hatte? Oder waren sie es am Ende alle selbst?
Von: Bobby_Andrews
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