Brücke zur Erneuerung (@_Jay_M_)
»Bitte Maelle - encore une chose. Wirklich nur noch eins möchte ich dir mitteilen. Und höre mich einmal zu Ende an, s'il te plaît. Die Übersetzung folgt dann auch in der nächsten Nachricht«, begann die Sprachnachricht ihres lieben väterlichen Freundes mit einer ebensolchen Stimmfarbe. »Du solltest vorsichtig sein. Wieso wurde die Rolle erst jetzt gefunden? Schon ein Wunder, dass sie jetzt auftaucht, vor - wann war es? Zwei Wochen? Und dass ausgerechnet du sie in Rennes in einer Bibliothek entdeckt hast, oder? Ich kann ...«
Schmunzelnd drückte Maelle die Stopp-Taste und brachte die Wiedergabe damit zum Verstummen. Aus die Maus.
»Ach Pierre, es ist mein Job als Historikerin, solche Dinge zu entdecken«, sprach sie leicht trotzig gen Anrufbeantworter. Natürlich hörte er sie nicht - doch es machte sowieso keinen Unterschied, ob er es tat oder nicht. Wie oft hat er diese Floskel, dass sie vorsichtig sein sollte, schon genutzt? Auch ohne in den Genuss der restlichen Worte zu kommen, konnte sie sich nur zu gut vorstellen, was noch von ihm folgen würde. Schwamm drüber. Der Tag ging zur Neige. Es gab Wichtigeres.
Daher schlenderte Maelle die wenigen Schritte zurück in den kleinen Flur, wand sich dabei aus ihrem olivgrünen Poncho und hängte diesen über den Garderobenhaken. Eilig machte sie sich wieder auf den Weg in ihre Wohnküche zu ihrem Festnetztelefon. Ihre Finger verharrten über den Tasten ihres geliebten Gerätes. Obgleich sie schon ein paar Lacher für ihre Altmode einkassieren durfte, hatte ihr dieses Teil gewiss gute Dienste erwiesen.
Offenbar auch an diesem Tag, denn endlich war sie da, die Botschaft ihres Fundes. Seltsam erregt befahl sie dem Anrufbeantworter, mittels Tastendrucks mit der nächsten Nachricht fortzufahren.
»Ich hoffe, du nimmst dir meine Worte von eben wirklich zu Herzen.« Maelle rollte unvermittelt mit den Augen bei der Vorrede von Pierre. Er konnte es einfach nicht lassen. »Hier nun die versprochene Übersetzung.«
Doch anstelle dieser folgte eine Pause. Sie hörte Pierre atmen. Ob er mit sich rang? Mit leicht geneigtem Kopf und tippelndem Fuß betrachtete sie ihr Telefon, als könnte sie ihn dadurch drängen. Ein Schnaufen von Pierre brummte durch den Lautsprecher. Kurz darauf schloss sich ein Knacken an. Das jedoch wurde von ihrem Kiefer verursacht. Ohne es zu bemerken, hatte sich ihr ganzer Körper massiv angespannt. Sich schüttelnd lockerte sie ihre Gliedmaßen und reckte danach ihren Kopf empor. Bitte lass Pierre nun endlich weitersprechen. Nach einer für sie schier endlos langen Zeit verriet ein Räuspern, dass sie erhört wurde.
»Also ...«, fing er an, woraufhin Maelle gebannt jedem einzelnen Wort lauschte und versuchte, sich alles einzuprägen. Ebenso flutete ihr Geist sie mit Bildern aus ihren Erinnerungen.
Das Artefakt aus Papyrus mit den handgeschriebenen Zeichen. Faserig, erhaben und machtvoll. Die Nische der alten Bibliothek in Rennes. Ein Gefühl - oder vielmehr Gespür? -, das sie dorthin geführt hatte. Es schien auch jetzt noch, dass sie ihm nicht entkommen konnte; dass sie dem Ganzen gegenüber machtlos war.
Der Ort in Rennes begann vor ihren Augen zu schwanken. Als würde Maelle in einen Sturm auf hoher See geraten. Das Bild war nicht mehr zu greifen, da die Wellen von den Blickwinkeln ins Zentrum schwappten. Erst nach der Flut erschien ihr die nächste Szene.
Sie sah sich bei einer ihrer ersten Erkundungen in Ägypten. Vor etlichen Jahren, als sie in Luxor gewesen war. Eine geführte Tour durch das einst so erhabene Reich vorbei an den Tempeln; durch das Tal der Könige und Königinnen. Es war eine Etappe, die sie zu ihrer Profession gebracht hatte. Oder vielleicht auch die, die sie zu ihrem wahren Ziel führte.
Zeitgleich als die letzten Silben von Pierre erklangen, erfasste sie, wie vor etwa zwei Wochen ein eisiges Kribbeln. Deutlich zu spüren an den Fingerkuppen, sich reinfräsend in den gesamten Körper. Erschöpft ließ sie sich von ihrem rot-braunen Sessel in Empfang nehmen. Während sie mit ihren Fingerspitzen über den samtenen Bezug strich, schloss Maelle ihre Augen.
So lange hatte sie darauf gewartet. War es wirklich möglich?
Ein unliebsamer Piepton, der ihr signalisierte, dass keine weiteren Nachrichten auf dem Anrufbeantworter waren, durchbrach die einsetzende Stille. Doch dann - tiefer im Polster ihres Sessels hineingesunken - genoss sie das Gefühl der aufkommenden Ruhe. Ihr Körper schien ausgelaugt zu sein. Ihre Frage würde zunächst unbeantwortet bleiben müssen - Körper und Geist erzwangen sich eine Ruhepause. So entschwand Maelle in einen rastlosen
Schlaf.
Als sie erwachte, unternahm Maelle erst gar keinen Versuch aufzustehen. Ihre Knochen bleiern, ihr Kopf matt und dumpf. Es war noch vor dem Morgengrauen, sie konnte nicht lange geschlafen haben.
Noch drangen keine Lichtstrahlen zu ihr durch, dafür jedoch nach und nach die prophetischen Worte - jede einzelne Silbe der Prophezeiung hatte sich bereits in ihrem Geist fest verankert.
›Seid unbekümmert, es wird jemand in Erscheinung treten. Einst wird es jemanden geben, der begreift. Während Re, der Sonnengott, verschmolzen mit Harachte, geschmückt mit einem Falkenkopf emporragt.‹
Verschmolzen mit Harachte - sie wusste, dass damit der Sonnenaufgang gemeint war.
›Einst. So wie Thot, der Gott der Weisheit und Magie, sein Wissen mit Seschat, der Göttin der Rechen- und Schreibkünste, teilte und doch niemals gänzlich alles preisgab. So wie Thot stets mit Maat, der Göttin für Wahrheit und Gerechtigkeit, verbunden war und sie doch jeder für sich blieben. So wie sich Sachmet, die Göttin der Zerstörung und Furcht, ihrer Macht bewusst war, gleichsam jedoch unterlag. Und so wie Sobek, der Gott des Wassers und der Fruchtbarkeit, seit jeher für den stetigen Fluss sorgte und Ptah, der Erschaffer der Erde, fortwährend über die Mutter blickte. So wird sich auch dies einst ereignen.‹
Maelle musste zugeben, dass sie diese Aufzählung noch nicht gänzlich einzuordnen wusste. Andererseits ... Wieder stellte sie sich die Frage, ob es möglich war. Ihr Name ... Maelle Sol Dupont. Die Ehrgeizige und die Sonne, die die Brücken bauen kann.
›Entgegen aller Götterahnungen wird sich jemand aus der Menge der Menschen erheben und das vervollständigen wollen, was einst in unseren Händen lag. Und die Brücken zwischen allem verknüpfen.‹
Mit jedem Herzschlag floss pure Energie durch ihre Venen; ihre Adern; ihre Muskelstränge. In ihr pulsierte es. Berauscht gab Maelle Sol Dupont sich dem hin, fühlte dem nach, wusste instinktiv, was zu tun war - es geschehen zu lassen.
Düfte und Aromen - Weihrauch, Myrrhe und Lotus - stiegen ihr in die Nase, feine Dämpfe tänzelten um ihren Körper und herberen Rauch, der die Luft beschwerte, meinte sie aus der Ferne ausmachen zu können.
Ein Gemurmel setzte ein. Erst leicht, dann drängte es sich stetig vor zu ihren Ohrmuscheln. Bis es die Gerüche übertünchte und sie die Augen nicht mehr geschlossen halten konnte.
Maelle stand erneut im Tal der Könige und Königinnen. So wie sie es damals erleben durfte. Doch der zweite Blick enthüllte einen tieferen Einblick. Als würde sich eine weitere Schicht an Bildern auf Maelles Erinnerungen schieben. Sie versuchten sich miteinander zu verzagen. Vereinzelte Gebäude verschmolzen - in andere, sie flossen in die Natur. Ein Gesamtes kam zum Vorschein.
»Theben«, hauchte Maelle ehrfurchtsvoll. Dies mussten Bruchstücke des damaligen Theben sein. Eine merkwürdige Kühle ergriff sie, die ihr vertraut vorkam.
Aus Rennes, als ich den Papyrus in der Nische der alten Bibliothek entdeckte. An beiden Tagen schien sie widerstandslos zu sein. Vielmehr drängte es sie, in diese Macht einzutauchen. Es war eisig, doch ebenso auffordernd. Weder verursachte es Schmerz noch ein Zittern. Ja, beinahe herausfordernd.
Wie ihre Aufgabe. Ihre Verantwortung, ihr Sinn und Daseinszweck - all das wurde ihr in diesem Moment gewahr. ›Derweil Re sein Gefieder abschüttelt und sich nun mit dem Haupt eines Widders dem Tage kraftvoll entgegenstellt - als Amun-Re.‹
So wie Re sich immer wieder aufs Neue dem Zyklus hingab, erhob auch sie - als Sol - sich nun gleichermaßen. Im Geiste, körperlich losgelöst, seltsam schwerelos. Gab es noch letzte Zweifel, so waren diese im Wüstensand erstickt worden. Sie verstand; begriff die Zusammenhänge und konnte sie zu einem Ganzen zusammenfügen.
Re, Thot, Seschat, Maat, Sachmet, Sobek, Ptah. Sie alle waren wichtig. Sonne und Licht, Wissen und Wahrheit, Macht und Kunst, Erde und Wasser. Alles war verbunden; würde immer miteinander verwoben sein. Doch es brauchte jemanden, der die Führung übernahm und alles vereinte, um es der Welt bieten zu können.
›Der auserwählte Mensch wird erkennen, was er in den Händen hält und jeglicher vermeintlichen Gefahr trotzen. Das Ziel vor Augen. Der Glaube an das Wissen - verbunden mit dem Wissen an den Glauben.‹
So wie Maelle Sol Dupont es sich immer vorgestellt hatte. So soll es sein. Sie würde die Göttin sein. Für Wohlstand, Bildung, Weisheit. Sie würde sich nicht vor dieser mächtigen Verantwortung verstecken, sondern sie annehmen. Für sie alle. Und für die Gottheiten, die Natur und die Erde. Alles würde sich endlich ändern. Kein Schaden mehr. Keine Lügen mehr. Alle werden Bildung erhalten sowie die Natur und Erde ehren. Dafür werde ich sorgen, ja, nur ich kann dafür Sorge tragen. Ich bin die Auserwählte.
Gedanklich breitete sie ihre Arme aus und fokussierte sich auf ihre Vorstellungen. Karge Wälder füllten sich. Baum an Baum - und ihre Wurzeln reichten bis tief hinein in die Erde und verflochten sich in die Weite. Wüsten - so klar und rein. Und die Ozeane, welch ein Schauspiel. Blasen stiegen auf und verpufften. Sie würden sich regenerieren. Und mitten drin und überall Pflanzen und Tiere. Unzählige. Die Natur und die Erde schienen sich an ihrer neugewonnenen Freiheit zu erfreuen und beschwingt zu sein. Die Schwingungen hallten in Maelles Körper wider und ließen sie euphorisch wachsen.
Maelle wurde sich bewusst, dass sie sich nicht vor der Macht zu fürchten brauchte und was es damit auf sich hatte. Alle werden es endlich wissen. Alle dienen mir. Niemals wieder vermeintlichen Gottheiten oder Trugbildern oder Illusionen - dafür werde ich sorgen. Ihre Macht schien kein Ende zu haben.
Die Visionen waren vollendet - wenn auch lediglich zunächst in ihren Gedanken. Sie schwelgte dahin, besah sich ihrer Ergebnisse, wie sie sich von nun an selbst entwickelten. Sie hätte vor Freude schreien können.
Nein! Sie entdeckte einen Fehler. Flüsse quollen über, fluteten alles um sie herum. Meere wurden ebenso wie die Erde erschüttert. Die Gewässer waren kaum noch zu unterscheiden. Hastig blickte sie sich um. Die Wüsten, Menschen und Tiere! Sie kam nicht hinterher, es geriet außer Kontrolle. Warum tut denn keiner was?
Doch es konnte niemand etwas tun. Fern ab davon, dass es kaum noch jemanden gab, der hätte eingreifen können, hatte Maelle Sol Dupont alle Macht an sich gerissen. Die Welt wurde düster, finster - ein Schauplatz an Naturgewalten. Nichts und niemand war mehr sicher.
Oh Gott, nein! Das war es nicht, was Maelle gewollt hatte und doch ...
›Noch bevor die Abendsonne mit ihren rotschimmernden Strahlen unsere Erde abzeichnet und als Atum-Re in die Unterwelt eintaucht, wird der Mensch Erleuchtung erlangt haben. Es wird sich zeigen, sobald Re als Chepre - mit einem Skarabäus auf dem Kopf, als Gott der Schöpfung und Wiedergeburt, sich nach Mitternacht erneut aus der Unterwelt schält.
Einst wird es sich ereignen - etwas, das nur in unserer Hand lag ...‹
Mit nochmals zusammengekratzter Energie kreuchte Maelle Sol Dupont vom Sessel hinunter. Richtung Kommode. Wie recht dieses Stück Papyrus hat ... Mit letzter Anstrengung streckte sie ihre Hand nach oben. In der Hoffnung, diese eine bestimmte Taste zu erwischen. Zitternd und kraftlos sackte sie gegen das hölzerne Möbelstück und wartete auf den Klang.
Er setzte ein.
Die ganze Nachricht vom Anrufbeantworter wurde von vorne abgespielt. Jene Nachricht, die sie erst noch mit Glücksgefühlen überschwemmen durfte. Jene, die ihr ihre vermeintliche Aufgabe auf dieser Welt endlich bestätigen konnte. Jene, die sie vorzeitig und arrogant abgebrochen hatte. Maelle wartete gespannt auf die letzten Worte der ersten Nachricht von Pierre. Pierre ... Er war immer ihr Fels in der Brandung.
»... entdeckt hast, oder? Ich kann es nicht fassen, dass ich das jetzt alles sage. Wie du weißt, war es damals typisch, Papyrusrollen als Grabbeigabe mitzugeben, damit sich die Menschen im Totenreich zurechtfinden. Doch ... Die Völker glaubten an Flüche, Maelle. Blende das nicht aus! Ich habe eindeutige Zeichen auf dem Stück gefunden, die nicht als Hilfe, sondern als Falle zu verstehen sind. Es könnte ein grausamer Akt, eine Rache sein. Bitte Maelle, gehe nicht leichtfertig damit um. Achte auf dich.« Zu spät, Pierre.
Mit der erlangten Gewissheit stellte sich Maelle auf das Ende ein, gewiss würden ihr nun die letzten Sekunden bevorstehen. Ein Stückchen mehr sackte sie, noch immer an die Kommode gelehnt, in sich zusammen.
Grelles Licht traf auf sie. Geblendet kniff sie die Augen zu. In der Kuhle, die ihre Wirbelsäule auf dem Rücken entstehen ließ, perlten Schweißtropfen. Die Hitze stieg gewaltig schnell, sodass sie für einen kurzen Moment befürchtete zu verbrennen. Doch dann überkam sie ein weiteres Mal diese eisige Kälte.
Vor Schreck schlug Maelle ihre Augen auf; die gleißenden Strahlen weniger intensiv. Ihr Blick huschte suchend umher und fand das Vermutete. Trotz allem hatte sie es nicht für möglich gehalten. Der Papyrus, den sie Pierre gegeben hatte, schwebte vor ihr. Als wäre dies eine Mahnung oder Belehrung, dehnte er sich immer weiter aus und sprühte Funken um Funken in ihre Richtung.
Bis das Licht verschwand. Oder vielmehr, wie sie bemerkte, dass sie hinfort gesogen wurde, hinaus aus der Helligkeit. Kein Holz schmiegte sich mehr an ihren Rücken, der Boden nicht mehr unter ihr. Ein Blick zurück zeugte jedoch davon, dass ihr eigener Körper unverändert dalag, weiter vom Licht umgeben. Davor der Papyrus, der allmählich schrumpfte, sich dann zusammenrollte und Richtung offenen Fenster wirbelte.
Körper und Geist waren nicht länger im Einklang. Licht und Dunkelheit. Ein Zyklus.
Vielleicht würde sie noch auf eine ganz andere Weise eine Göttin werden können, nachdem sie diese Brücke zur
Erneuerung überschritten haben würde ...
Von: _Jay_M_
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