Epilog (@allanrexword)
Zischend schoss ein schwarzer Schlangenkopf von der Größe eines Kindes mit gelb glühenden, geschlitzten Augen auf ihn zu. Das Maul mit den handlangen Giftzähnen war zum tödlichen Biss geöffnet. Er hechtete vorwärts, rollte sich mit der Schulter ab und landete hinter einem mannshohen Felsen. Der Kiefer der Bestie schnappte an der Stelle zu, wo er eben noch gestanden hatte. Zischelnd fuhr die armlange, gespaltene Zunge heraus und versuchte, ihn aufzuspüren. Langsam, ohne rasche Bewegung, richtete er sich auf und zog sein Schwert. Sein Herz pochte bis zum Hals. Fliehen war keine Option. Als der Kopf hinter der Felskante hervorlugte, schlug er zu. Der wuchtige Hieb seiner Klinge durchtrennte Muskeln und Sehnen. Grünes Blut spritzte hervor, dann lag das Ungetüm reglos vor ihm.
„Danke, Seth, für die Kraft, die du mir gewährst", sagte er deutlich und verbeugte sich, überzeugt, dass die Götter jede seiner Bewegungen hier in der Duat, der labyrinthischen Zwischenwelt, beobachteten. Seit Tagen – oder waren es Wochen? – wanderte er durch das dunkle Höhlenlabyrinth.
Am Anfang war er in einer Felskammer erwacht. Frisch und ausgeruht. Er erinnerte sich noch daran, wie er bei einem Ausritt vom Pferd gestürzt war. Offensichtlich hatte er nicht überlebt. Das war kein würdiger Tod für einen König, aber für ihn war es in Ordnung. Mehr als sechzig Mal hatte er die Überschwemmung des Nils miterlebt, und es war ihm gelungen, den Wohlstand in seinem Reich zu erhalten.
Die größte Herausforderung war die Hungersnot gewesen, die ihn zum verfluchten Orakel des Anubis geführt hatte. Noch immer fragte er sich, ob er damals richtig gehandelt hatte, als er die Prophezeiungen verbrennen und den Tempel zumauern ließ. War der Gott deswegen zornig auf ihn? Schließlich war er der Herr der Toten und der Begleiter ins Jenseits. Sicherlich hatte er seine Gründe gehabt, ihm die Sprüche zu diktieren. In diesem Fall wäre er wohl zum endlosen Dahinsiechen in der Duat verdammt, bis er eine der Prüfungen nicht bestanden hätte. Dann würde Ammit ihn direkt holen und seine Seele verschlingen. Dieser zweite Tod würde ihn endgültig auslöschen. Es gäbe kein Totengericht und keine Chance auf ein ewiges Leben im Jenseits.
Umso erstaunlicher war es, dass sich in der Kammer neben vielen Schutzamuletten, reichlich Nahrung und dem Totenbuch auch eine Trommel mit allen vierundzwanzig Prophezeiungen befand. Das konnte nur eines bedeuten: Der junge Priester hatte nicht Wort gehalten und am Ende wurden sie ihm sogar mit ins Grab gegeben. War das gut? Würde es Anubis besänftigen? Oder würde der Gott ihn erst recht verdammen? Er wusste es nicht. Deshalb packte er neben dem Totenbuch auch die Trommel mit den Schriftrollen und eine Auswahl an Waffen ein.
Zuerst las er die Seiten des Buchs. Dort hatten weise Priester die Prüfungen der Duat beschrieben und Hinweise hinterlassen, wie er sie bestehen konnte. Doch die Beschreibungen hatten ihn nicht auf dieses tödliche Labyrinth und die vielen Monster vorbereitet, die in den Gängen lauerten. Die Waffen, Schwerter, Speere, Pfeil und Bogen, die man ihm mit ins Grab gegeben hatte, waren hier besonders nützlich. Hunger und Durst blieben ihm erspart.
Genug gegrübelt. Stöhnend erhob er sich und wischte seine Klinge an seinem fleckigen Umhang ab. Das Schlangenblut breitete sich in einer Lache aus und floss träge in den nahen Lavasee, wo es zischend verdampfte. Sein Blick wanderte über die Wände und die Kuppel der riesigen Höhle. Hier hätte ein ganzer Tempel Platz gehabt. Doch sie war vollständig mit dem glühenden Steinmeer ausgefüllt. Unterbrochen nur von langen schwarzen Dornen, die mehr als mannshoch aus dem Boden und der Decke wuchsen. Die Luft war warm und roch nach heißem Stein und Schwefel.
Was stand in dem Buch? Ein See aus Feuer, bewacht von Dämonen. Er zog den schweren Folianten aus seinem Rucksack und betrachtete die Worte. Zumindest einen der Bewacher hatte er gerade getötet. Wie schon ein Dutzend auf dem Weg hierher. Es war nicht viel Zeit geblieben, um irgendwelche Schutzzauber zu sprechen. Noch einmal ließ er seinen Blick über die rot glühende, brodelnde Lava gleiten, die nur stellenweise von einer dünnen Ascheschicht bedeckt war. Immer wieder zerplatzten einzelne Blasen und gleißende Feuerfontänen schossen in die Höhe. Er würde es mit dem Zauber versuchen müssen.
Mit geschlossenen Augen hob er am Ufer die Arme und intonierte die Sätze, die in dem Buch geschrieben standen:
„Oh großer See des brennenden Feuers, höre meine Worte!
Ich bin der, der die Wahrheit trägt, die Maat ehrt, dessen Herz leicht ist wie die Feder der Göttin. Lass deine Flammen erlöschen vor meiner Ankunft, dass ich sicher schreite, unversehrt und stark.
Im Namen des Ra, des ewigen Sonnenfeuers, verschließe deine Feuerzungen und weiche vor mir. Ich bin beschützt von den Worten der Götter, meine Schritte sind geborgen in ihrer Kraft.
Dämonen des Feuers, seht mich an und flieht!
Ich, der das heilige Wissen bewahrt, befehle es. Im Zeichen des Anubis und unter dem Auge des Horus, überquere ich diesen See, den Weg des Lebens zu betreten. So sei es, von der ersten Stunde bis zur letzten."
Als das letzte Wort verklang, änderte sich – nichts. War es ein Problem, dass sich der Zauber auf Anubis bezog? Aber gut, es ging um die Person, die beschützt werden sollte, nicht darum, dass der See erlosch. Die flirrende Hitze stieg weiter vor ihm auf und brannte auf seiner Haut. Niemand hatte gesagt, dass es leicht werden würde. Konnte er noch etwas tun? Nein. Bei diesen Prüfungen ging es nicht nur um Kraft und Mut, sondern auch um Vertrauen. Vertrauen, dass die Götter ihn beschützen würden. Und wenn nicht, dann hatte er es nicht anders verdient. Ein letztes Mal atmete er tief durch, hob den Fuß und trat in die Lava.
Die Oberfläche gab nach! Er schrie auf, verlor das Gleichgewicht und stürzte vorwärts. Mit Händen und Knien schlug er auf die glühende Masse. Ein Schrei entrang sich seiner Kehle – aber er lebte. Seine Handflächen gruben sich in den flüssigen Stein. Es war nicht heißer als erhitzter Sand an einem Wintertag, und er sank nicht tiefer als in eine Düne. Unangenehm, jedoch erträglich.
„Danke, oh Ra, dass du mir auf meinem Weg hilfst." Damit erhob er sich und bewegte sich wankend durch die zähe Masse zum anderen Ufer, wo ein Höhlengang auf ihn wartete. Mit einem lauten Knall platzte neben ihm eine Lavablase und eine Feuersäule schoss in Richtung Decke. Er sprang zur Seite und starrte nach oben. Mit einem weiteren Sprung wich er einem herabstürzenden Felsbrocken aus, den die Explosion hochgeschleudert hatte. Auch mit dem Schutzzauber war der Weg nicht ungefährlich. Unterwegs musste er noch einem reißenden Strom aus flüssigem Stein ausweichen. Nach einer Ewigkeit, deren Dauer er nicht einschätzen konnte, erreichte er erschöpft das andere Ufer. Vor dem Eingang erkannte er zwei schwarze Gestalten, die sich von den Felsen abhoben. Gehörnte Wesen mit rötlicher Haut und langen Speeren in den Händen. Ihre Körper waren kräftig und doppelt so groß wie die der Menschen. Mattschwarze Panzerplatten bedeckten die mächtigen Gliedmaßen. Hinter den Sehschlitzen ihrer Helme funkelten grüne Augenpaare, und aus ihren Mäulern ragten fingerlange Fangzähne.
Was waren das für Kreaturen? Sicher weitere Wächter, die den Durchgang bewachten. Er hockte sich in den Schatten eines Felsdorns und blätterte im Totenbuch. Es wäre wichtig gewesen, ihre Namen zu kennen, aber diese Wesen wurden nicht erwähnt, ebenso wenig wie ein spezieller Schutzzauber. Was blieb ihm übrig? Gegen sie kämpfen? Nein, zuerst musste er versuchen, mit ihnen zu reden. Mit klopfendem Herzen stand er auf, drückte den Rücken durch und ging erhobenen Hauptes auf sie zu.
„Hört mich an! Ich bin Neptuchamun, König und Herr der zwei Länder, Oberbefehlshaber der Heere und Eroberer Nubiens. Ich verlange Einlass. Tretet zur Seite!"
Statt beiseitezutreten, richteten sie ihre Speere auf ihn. Der Linke stieß ein grollendes Gelächter aus. „Wirklich? Ich würde sagen, du warst einmal ein König. Jetzt sehe ich nur noch einen kleinen Mann mit einem Stock in der Hand."
Auch der Zweite wandte sich ihm zu, seine Stimme war heller als die des ersten. „Was soll das, Menschlein? Du kannst uns nichts befehlen, und vor deinen lächerlichen Waffen haben wir keine Angst. Warum gehst du nicht und suchst dir einen anderen Weg?"
Was konnte er ihnen anbieten, damit sie ihn passieren ließen? Gewiss war es eine Prüfung. Aber keine, wie sie im Buch stand. Worum ging es? Um seinen Stolz? Wie konnte er ihnen beweisen, dass er immer ein demütiger Diener seines Volkes gewesen war? Ihm kam eine Idee.
„Bitte verzeiht mir mein forsches Auftreten, Ihr habt recht. Ich bin hier kein König, sondern ein einfacher Bittsteller auf dem Weg zum Totengericht." Er kniete nieder und legte seine Waffen ab. „Darum bitte ich Euch, lasst mich durch, damit ich den zweiundvierzig Göttern meine Reinheit erklären kann. Sie sollen über mich urteilen, nicht Ihr, ehrbare Torwächter."
Stille folgte, nur das Brodeln der Lava und sein Herzschlag waren zu hören.
„Ho ho, da hat einer doch so etwas wie Manieren", antwortete der Wächter auf der rechten Seite. „Komm herein und lerne deine Lektion."
Die beiden hoben ihre Speere und traten beiseite. Erleichterung durchströmte ihn. Es war einfacher gewesen, als er gedacht hatte. Er schulterte seine Sachen und griff nach seinen Waffen. Bevor er sie anrührte, zögerte er. Seinen Mut und seinen Kampfeswillen hatte er bereits unter Beweis gestellt. Welche Prüfung auch immer folgen würde, sie würden ihm vermutlich nicht helfen. So richtete er sich auf, ließ sie liegen und machte sich auf den Weg durch das Tor.
Die grün glühenden Augen der riesigen Wächter schienen jeden seiner Schritte genau zu beobachten. Hatte er etwas übersehen? War die Prüfung noch nicht vorbei? Vor ihm zeichnete sich ein dunkler, felsiger Korridor ab, der von flackernden Fackeln erhellt wurde. Bevor er über die Schwelle in den Gang trat, hielt er erneut inne.
„Was soll das heißen, ich soll meine Lektion lernen? Ich dachte, das hier wäre eine Prüfung gewesen?"
Grollendes Gelächter ertönte. Sie schüttelten sich, stampften mit den Füßen und hielten sich die Bäuche, als hätte er den besten Witz der Unterwelt erzählt. Irritiert wartete er ab.
Schließlich antwortete die rechte Wache: „Nur, weil du gut mit Worten umgehen kannst, heißt das noch lange nicht, dass du auch meinst, was du sagst. Drinnen warten die zweiundvierzig Götter darauf, dass du ein reines Zeugnis ablegst."
Der andere Bewaffnete beugte sich zu ihm hinunter und sagte mit verschwörerischer Stimme: „Und sie erkennen sofort, wenn du es nicht ernst meinst – oder sie anlügst. Ich würde sagen, Ammit freut sich auf ein leckeres Seelenhäppchen, das ihr gleich serviert wird."
„Was?!" Heißkalte Schauer liefen ihm über den Rücken. „Warum? Natürlich ist es mir ernst. Ich habe meinem Volk gedient und versucht, ein gerechter König zu sein! Aber niemand ist vollkommen. Sicher ist mir hin und wieder etwas durchgerutscht."
„Oh nein, edler Herrscher", die Wache spuckte die Worte förmlich aus, „es geht nicht darum, dass du aus Versehen gesündigt hast."
Was meinten sie damit? Er hatte sich immer bemüht ... Dann wurde ihm klar, worum es ging: Die Trommel mit den vierundzwanzig Schriftrollen, die über seiner Schulter hing, schien plötzlich Tonnen zu wiegen und ihn in den Abgrund ziehen zu wollen. Er hatte die Prophezeiungen des Anubis geschändet. Er hatte sie verbrennen lassen. Warum hatte er sie nicht seinen weisen Priestern übergeben, damit sie darüber urteilten? Aus Angst vor dem Gott der Toten und aus Stolz, weil er selbst den Inhalt nicht verstand. Außerdem hatte er den Tempel zumauern lassen, vielleicht mit Menschen darin. Aber nicht nur das. Während seiner gesamten Regierungszeit hatte er auf diese Weise verhindert, weitere Orakelsprüche zu empfangen. Dabei hätte es zu seinen Lebzeiten genügend Gelegenheiten gegeben, zumindest den Versuch zu unternehmen, das wieder in Ordnung zu bringen. Und, Anubis um Verzeihung zu bitten.
Sein Gesicht glühte. Diesmal vor Scham. Er hatte es wirklich verdient, dass seine Seele Ammit zum Fraß vorgeworfen wurde. Was war er für ein König, der nicht zu seinen Fehlern stand?
„Ich verstehe. Ihr meint die Prophezeiungen des Anubis und den Tempel", brachte er mit hängenden Schultern hervor. „Ihr habt recht. Aber ich kann es nicht rückgängig machen. So will ich mich der Strafe der Götter stellen."
Damit richtete er den Tragegurt der tonnenschweren Rollen und wollte nach vorne treten.
„Das ist wahr. Aber", hielt ihn die grollende Stimme der Linken wieder zurück, „zum Glück hattest du einen Untertanen, der weniger ängstlich und weitsichtiger war als du."
„Ihr meint, weil die Schriftrollen erhalten geblieben sind und mit mir im Grab lagen?" Seine Gedanken kehrten zu Ma'atkara zurück. Zu dem Priester, dem er den Auftrag gegeben hatte, sie zu verbrennen, als er noch jung und unerfahren war. Später war der Mann dank seiner eigenen Klugheit und Weitsicht in den Reihen der Gläubigen aufgestiegen. Und nicht zuletzt durch die Fürsprache Neptuchamuns zum Hohepriester geweiht worden. „Ma'atkara hat damals meinen ausdrücklichen Befehl missachtet. Damit hat er ebenfalls gesündigt. So wird also eine Sünde durch eine andere ausgeglichen?"
„Nein. Er hat nicht gegen deinen Befehl gehandelt. Die ursprünglichen Schriftrollen wurden verbrannt. Aber er hat sie auswendig gelernt und neu geschrieben."
Er konnte nicht verhindern, dass sich ein Lächeln auf seine Lippen legte. Was war Ma'atkara für ein Fuchs gewesen. Hätte er nur selbst diese Weisheit besessen. Aber das bedeutete ... „Mein treuer Untertan hat also den Frevel meiner Sünde wenigstens gemildert. Ich wünschte, ich könnte ihm danken." Und er meinte es genau so, wie er es sagte. Auch das war nicht mehr zu ändern.
„Richtig", antwortete der Rechte mit seiner hellen Stimme. „Und nun geh und folge deinem Herzen. Du wirst erwartet. Ich bin sicher, die Götter wissen deine späte Einsicht und die Treue deines Untertanen, der dich sehr geliebt haben muss, zu schätzen."
Für einen winzigen Augenblick flackerte das eine Auge des Wächters. War es ein Zwinkern? Die Worte nahmen etwas von der Last von seinen Schultern. Er war sich immer noch nicht sicher, ob es ausreichte, aber er würde sich dem Urteil stellen, egal wie es ausfiel. Entschlossen trat er vor.
***
Der folgende Gang schien kein Ende nehmen zu wollen. Längst war der Eingang mit den Wächtern im flackernden Dämmerlicht verschwunden. Hier gab es keine Monster, aber er kam regelmäßig an Kreuzungen, Abzweigungen und runden Hallen mit verschiedenen Ausgängen vorbei. Um nicht im Kreis zu laufen, nahm er einen herumliegenden Stein und ritzte eine Markierung in die Wand. Was hatten die beiden gesagt? „Folge deinem Herzen." Daher hielt er sich immer links. Nach vielen Tausend Schritten fand er seine eigene Markierung wieder und fluchte ausgiebig. Zu Recht, wie er dachte, also war es keine Sünde. Er hatte den Rat befolgt und es hatte nicht funktioniert. Wie sollte er ohne Wegweiser einen Ausgang finden? Langsam fragte er sich, ob seine Strafe ein ewiges Umherirren in diesem nervtötenden Zwielicht sein würde. Auch das Totenbuch gab ihm keinen Hinweis, wie er diesen Irrgarten überwinden konnte.
„Folge deinem Herzen." War damit etwas anderes gemeint? Wahrscheinlich. Nicht im wörtlichen, sondern im übertragenen Sinne ihm folgen. Aber wie sollte er das anstellen? Das war sicher eine weitere Prüfung. Worum ging es, wenn man seinem Herzen folgte? Liebe. Instinkt. Vertrauen. Kontrolle aufgeben. Sich auf andere verlassen. Auf seine Götter. Darauf, dass sie ihm den richtigen Weg weisen würden. Wie zeigte er ihnen, dass er ihnen vertraute? Ihnen blind vertraute. Das war es! Er sollte sich nicht auf weltliches Wissen und Können verlassen, sondern sich ihnen ganz hingeben.
So legte er das Totenbuch und alle anderen Gegenstände bis auf die Trommel mit den Prophezeiungen nieder, schloss die Augen und atmete tief durch. Ruhe erfüllte ihn.
Sie würden ihn führen. Andernfalls würde er gegen eine Wand prallen, dann hätte er es in seiner Einfalt nicht anders verdient.
Vorsichtig machte er einen Schritt nach dem anderen. Es kostete ihn Überwindung, die Hände nicht tastend auszustrecken. Aber wenn dies eine Prüfung war, würden ihn seine Götter führen – oder bestrafen. Das hier war die Duat und keine Mutprobe für Kinder. Noch einmal straffte er die Schultern und beschleunigte mit neuer Zuversicht seinen Schritt. Die Mauer ... kam nicht. Sonst hätte er sie längst erreicht haben müssen. Aber wann war es Zeit, die Lider wieder zu öffnen? Egal. Auch das würde sich fügen. Nach einer endlosen Wanderung mit geschlossenen Augen und einer inneren Ruhe, die er so noch nie erlebt hatte, bemerkte er durch die Lider, dass die Umgebung sich aufhellte. Die feuchte Kühle der Höhle war verschwunden. Der Duft von frischem Gras stieg ihm in die Nase, und das Pfeifen der Vögel drang an sein Ohr.
Er hielt inne und öffnete die Augen. Helles Licht blendete ihn, doch schon bald wich es dem Anblick einer saftig grünen Landschaft, wie an den Ufern des Nils. Den lebensspendenden Strom konnte er jedoch weder sehen noch hören. Vor ihm breitete sich halbkreisförmig eine grasbewachsene Lichtung aus. In der Ferne bildeten hohe Pappeln und Büsche die Grenze. Nicht zu übersehen war eine Vielzahl von Holzstelen, die sich in einem Bogen über die Fläche erstreckten. Er schätzte, dass es genau zweiundvierzig waren. Damit war klar, worum es sich handelte: Jede Säule war in der typischen Form des jeweiligen Gottes geschnitzt.
Was erwartete man von ihm? War es ein Gericht oder sollte er nur seine negativen Bekenntnisse ablegen? Am Ende würde es wohl auf dasselbe hinauslaufen, denn die Götter kannten sein Leben. So wandte er sich nach links und ging auf die erste hölzerne Säule zu. Es war Amon. Er neigte sich und sein Haupt. Wie er es als Kind auswendig hatte lernen müssen, sprach er voller Überzeugung sein Bekenntnis zum Sonnengott: „Ich habe nicht gelogen."
Nichts geschah. Vorsichtshalber fügte er hinzu: „Es sei denn, es war zum Besten des anderen."
Als er aufblickte, stand die Stele unverändert vor ihm. Die Götter würden es ihm schon sagen, wenn ihnen nicht gefiel, was er sagte. Also schritt er zur nächsten. Sie hatte die Form einer Katze und symbolisierte Bastet. Dort sprach er: „Ich habe nicht gestohlen." Hier brauchte er nichts mehr hinzufügen.
Es gab keine Reaktion und er ging weiter. Horus. Hier wurde es bereits schwerer. Ich habe nicht getötet, wäre das Bekenntnis gewesen, aber im Krieg hatte er Dutzende von Feinden erschlagen. Er hatte es zum Wohle seines Reiches getan und keine besondere Grausamkeit an den Tag gelegt. Deshalb sagte er: „Ich habe nur getötet, um meinem Volk zu dienen."
Dass nichts geschah, wertete er als Zustimmung. Es folgte Thot. „Ich habe nicht übertrieben. Jedenfalls nicht oft, und ich habe niemandem geschadet."
Die folgende Stele zeigte einen langohrigen Schakal. Er konnte nicht verhindern, dass sein Herz schneller schlug. Es war Anubis. Aber er konnte das Bekenntnis aus voller Überzeugung sprechen. „Ich habe nicht betrogen."
Als nichts geschah, erhob er sich und wandte sich der nächsten Holzsäule zu.
„Bist du dir ganz sicher?", ertönte eine dröhnende Stimme hinter ihm, die er unter tausend wiedererkannt hätte. Es war derselbe Klang wie der des Orakels.
Schluckend drehte er sich um. Wo eben noch Holz war, stand die Gottheit mit verschränkten Armen. Seine Haut war schwarz wie Ebenholz, und über dem muskulösen Oberkörper erhob sich der schlanke Schakalkopf mit den langen Ohren. Er trug nichts als einen Lendenschurz und goldene Armreifen. Der Gott überragte ihn um das Doppelte, ebenso wie zuvor die beiden Torwächter.
„Mein göttlicher Herr", fiel er auf die Knie und beugte sein Haupt. „Ja, ich bin es. Und es tut mir leid, dass ich Eure Prophezeiungen nicht direkt verbreitet habe. Aber es
war nur meine Unwissenheit."
„Ja, das Gespräch hatten wir bereits."
Jetzt fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Die Torwächter. Bestimmt war der Gott einer von ihnen gewesen. Er hatte ihn schon geprüft.
Als hätte Anubis seine Gedanken gelesen, sagte er: „Gut erkannt, Neptuchamun. Und doch hast du betrogen – oder zumindest wolltest du es. Du wolltest die Nachgeborenen um mein Wissen betrügen. Nur weil du es nicht verstanden hast."
„Verzeih mir, oh Herr. So gesehen habt Ihr recht. Aber ich habe den Sinn der Sprüche nicht durchdringen können. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie die Zukunft vorhersagen sollten."
Ein grollendes Lachen ertönte. „Wie kommst du darauf, dass es Prophezeiungen sind?"
„Ähm ... Ich dachte, da es ein Orakel war ..."
„Öffne die Trommel und sieh sie dir an", unterbrach ihn der Gott. „Warum sonst hast du sie hierhergebracht?"
Er fühlte sich wie ein Schüler, der von seinem Lehrer auf einen offensichtlichen Denkfehler hingewiesen wird, und folgte der Aufforderung. Mit zitternden Fingern zog er den Lederdeckel ab.
Plötzlich gab das Gras nach. Er fiel, nein, er stürzte in die endlose Schwärze. Wind zerrte an seiner Kleidung und wirbelte ihn um die eigene Achse. Ein Schrei entrang sich seiner Kehle. Würde er gleich in Ammits weit aufgerissenes Maul fallen? Oder war er schon dort? War dies die Strafe für seine Dummheit und seinen Hochmut?
Mit diesem Gedanken stoppte der Fall und er schwebte in der Dunkelheit. Es wurde heller. Nach kurzer Zeit befand er sich in einem schmalen Gang, vor dem sich eine Grabkammer öffnete. Seine Grabkammer, wie er sofort an seiner Königsstele erkannte. Dort standen ein Mann in einfacher Kleidung und eine Frau, die eine sehr seltsame Tracht trug, eine schlauchartige Hose und ein enges Oberteil. Sie nahm eine der Schriftrollen, eine der Prophezeiungen, und studierte sie mit dem anderen.
Nein! Neptuchamun stürmte auf sie zu. Er wollte sie warnen, dass die Sprüche einen dunklen Zauber in sich bargen. Doch als er sie berühren wollte, griff er durch sie hindurch, stürzte vorwärts und in sie hinein. Erschrocken drehte sie sich um. Schien zu schwanken, musste sich stützen. Wurde von dem anderen Mann gehalten. Was hatte er getan?
Laut rief er: „Keine der Weisheiten darf zum persönlichen Vorteil missbraucht werden. Geschieht es doch, so verkehrt sie sich ins Gegenteil und stürzt den Träger ins Unglück."
Es war zu spät, er wurde von der Szene weggerissen und fiel in die Dunkelheit. Hatte sie ihn gehört? Wahrscheinlich nicht. Es wurde wieder heller. Was kam jetzt? Diesmal landete er in einer spärlich beleuchteten Halle, ähnlich einem Tempel, aber uralt. Wurzeln hatten den Stein durchbrochen und die Blöcke waren verwittert. Die
Sprache der fremden Inschriften kannte er nicht. In dem Raum versammelten sich viele Menschen in seltsamer Kleidung, wie er sie sich in seinen kühnsten Träumen nicht hätte vorstellen können. Zwei dunkelhaarige Frauen standen vor einem kräftigen Mann.
Die eine fragte: „Was ist das?"
Und er antwortete: „Das ist das Orakel des Neptuchamun. Es ist sehr alt und beschreibt die Zusammenarbeit unserer Vorfahren mit dem Volk des Nils. Zusammen wurden sie groß, der Bund verhieß ewigen Reichtum und immerwährende Macht."
Neptuchamun verstand zwar jedes Wort der fremden Sprache, trotzdem begriff er nicht, worum es ging. Sie übergaben dem Mann die Hälfte eines Papyrus mit einer der Prophezeiungen. Dann verließen sie die Kammer. Er folgte ihnen nach draußen, aber kurze Zeit später waren sie mit ihrem Führer in einem undurchdringlichen Dschungel verschwunden.
Was hatte das zu bedeuten? Sie schienen den Zauber nicht anwenden zu wollen oder sich auch nur die Mühe zu machen, ihn zu verstehen. Wieder wirbelte er davon und landete in einem seltsam möblierten Gemach einer Frau. Aus einem Kästchen ertönte eine Stimme, die eine der vierundzwanzig Schriftrollen vorlas. „Seid unbekümmert, es wird jemand in Erscheinung treten. Einst wird es jemanden geben, der begreift. Während Re, der Sonnengott, verschmolzen mit Harachte, geschmückt mit einem Falkenkopf emporragt." Und so weiter. Es war einer der längsten Sprüche, an die er sich erinnern konnte.
Kurz darauf lag die Frau in einem bequem aussehenden Sessel und schien einen schlechten Traum zu haben. Sie warf sich hin und her und schrie. Erst später wachte sie auf. Völlig erschöpft ging sie wieder zum Kasten und ließ die Stimme erneut erklingen. Was für ein wundersamer Zauberkasten.
Er hörte noch die letzten Worte des Sprechers: „Ich habe eindeutige Zeichen auf dem Stück gefunden, die nicht als Hilfe, sondern als Falle zu verstehen sind. Es könnte ein grausamer Akt, eine Rache sein. Bitte Maelle, gehe nicht leichtfertig damit um. Achte auf dich."
Oh ja, da verfügte wenigstens einer über eine gewisse Weisheit, denn der Spruch auf der Rolle schien der Frau nicht bekommen zu sein. Und so ging es weiter. Von einer fremden Szene zur nächsten. Er lernte eine unbekannte Welt kennen, seltsame Geräte, Sprachen, Sitten und Gebräuche. Manchmal las man die Worte auf dem Papyrus, manchmal schien es, als seien magische Kräfte am Werk. Aber in keinem Fall hatte das geschriebene Wort eine größere Macht. Sie veränderten nicht die Zukunft, sondern nur den jeweiligen Leser. Auch wurden keine Katastrophen abgewendet, und er konnte nicht erkennen, dass sie einen wesentlichen Einfluss auf dieses komische Volk gehabt hätten.
Nach einer endlosen Abfolge dieser Szenen stand er wieder auf der Lichtung, wo Anubis stoisch auf ihn zu warten schien. Doch die Trommel mit den Rollen war leer.
„Und?", wollte der Gott wissen. „Was glaubst du, was meine Worte bewirkt haben?"
„Ich ..." Es waren keine Prophezeiungen. Zumindest nicht für ihn und auch nicht für die vielen Menschen, deren Erlebnissen er als stummer Beobachter beiwohnen durfte. Aber was dann? „Sie ... haben die Mitglieder dieses seltsamen Volkes geprüft. Jeder von ihnen hat mit einem deiner Sprüche etwas erlebt, aus dem die Person verändert, meist gestärkt oder mit einer neuen Erkenntnis, hervorgegangen ist. Selbst wenn sie den Inhalt gar nicht gelesen hatte."
„So ist es. Es ging nie um die einzelnen Worte, die ich diktiert habe. Sondern darum, sie der Nachwelt zu hinterlassen, die nicht mehr an uns Götter glauben wird. Wenn wir die Menschen schon nicht mehr führen können, so geben meine ›Prophezeiungen‹ ihnen wenigstens neue Kraft und bringen sie auf den rechten Weg zurück. Den einen mehr, den anderen weniger."
Wieder verbeugte sich Neptuchamun. „Ich danke Euch, dass Ihr mich das habt erleben lassen. Ich bin froh, dass mein treuer Priester meinen Fehler korrigiert und so der Nachwelt die Möglichkeit gibt, von Deiner Weisheit zu profitieren."
„Erkenntnis und Vergebung, mein Pharao, sind es, wonach du hier streben solltest. Die anderen siebenunddreißig Götter warten auf dich, bevor ich am Ende dein Herz gegen die Feder der Maat aufwiegen werde. Ob du dann voranschreiten und versuchen darfst, die zwölf Tore zu durchqueren, wird sich zeigen. Dein Eintritt in die Aaru, die Gefilde der Seligen, will wohl verdient sein." Damit verblasste Anubis und nur seine hölzerne Stele blieb zurück.
Er ließ die Ereignisse, die er gerade gesehen hatte, noch einmal vor seinem inneren Auge ablaufen. Tatsächlich konnte er aus den Geschichten, die die Menschen mit den Rollen erlebt hatten, einiges lernen.
Mit neuer Zuversicht wandte er sich der Säule von Khepri zu. Doch seine Hoffnung wurde sofort gedämpft. Das Bekenntnis dieses Gottes lautete: Ich habe den Willen der Götter nicht missachtet.
Oje, das konnte ja was werden ...
Von: allanrexword
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