Die Wächter des Bundes (@brunoheter)
Endlich habe ich mein Ziel erreicht. Es ist wunderschön - die Schriftzeichen lügen nicht, dessen bin ich mir sicher. Ein unermesslicher Reichtum wartet auf mich. Alles, was ich bisher erreicht habe, scheint mir nichtig und klein. Was bin ich für ein Narr, dem Mammon nachzueilen, wenn es solch unendliche Weisheit und Macht gibt. Doch Gefahr droht, ich spüre sie im Nacken, ich spüre sie in den Knochen, sie ist überall.
So schreibe ich denn diese Zeilen, in der Gewissheit ob meiner letzten Tätigkeit hier auf Erden. Möget ihr mir verzeihen, meine lieben Nachkommen. Ich habe es versäumt, den Heimweg anzutreten, als ich noch die Zeit hatte. Alles Geld, das ich einst besaß, habe ich in meine Suche investiert - und hier bin ich; in meinen Händen liegt der Schlüssel zum Glück, doch ich habe nicht mehr die Kraft, den letzten Weg zu gehen. Alles steht im Papyrus. Eine Wahrheit, für welche die Welt bislang nicht bereit ist.
Dir, Giovanna, vertraue ich den Papyrus an. Beende, was ich begonnen habe. Hüte dich vor jedem, der deinen Weg kreuzt, vertraue niemandem. Du wirst einen Weg finden, das Geheimnis lösen. Drum nimm die Rolle an dich. Entschlüssle das Geheimnis - der Reichtum wird dir gehören.
Joachim Herbert Buchbinder II; Palenque, Mexiko«
Der Notar legte den Brief auf seinen glänzenden Holztisch, faltete mit knorrigen Händen die John-Lennon-Lesebrille und blickte seine Gäste fragend an. Er bekam keine Antworten und es schien, als flimmerten auch über den ihm fremden Gesichtern seltsam außerirdische Fragezeichen. Notar Wermuth räusperte sich, bevor er mit seiner vom Tabak belegten Stimme seine Erklärungen abgab.
»Das ist alles, was wir haben. Es scheint, als sei der lange vermisste Herr Buchbinder wieder aufgetaucht. Ob er noch lebt oder nicht, das entzieht sich unserer Kenntnis, doch hier haben wir ein rechtsgültiges Testament in unseren Händen. - Ist die darin genannte Frau Giovanna anwesend?« Wermuth kannte die Antwort, denn niemand von seinen Gästen sah wie eine Giovanna aus. Hier saßen Joachims, Hans-Dieters, eine Wilfriede oder Kunigunde - aber bestimmt keine Giovanna. Keine Lebensfreude, nur Gier und Geld. Er fragte aus reiner Höflichkeit.
»Das ist meine Tochter«, meldete sich die Kunigunde seltsam unerfreut, distanziert.
»Und Sie sind?« Wermuth konnte Menschen nicht ausstehen, die ständig davon ausgingen, dass die ganze Welt sie kennen müsste.
»Johanna Theodora Pastorelli-Buchbinder, Tochter des vermissten Millionärs und Erbin, zusammen mit meinen drei hier anwesenden Brüdern; ich bin die Frau des erfolgreichen Geschäftsmannes Giuseppe Pastorelli.«
Wermuth reinigte seine Brille mit einem kleinen Tuch, das er längst hätte waschen müssen, wie er an den fettigen Striemen auf den Gläsern resigniert feststellte. »Frau Pastorelli-Buchbinder, ich muss Sie leider enttäuschen. Es gibt nichts zu erben für Sie; für keinen von Ihnen. Hier steht deutlich, dass das gesamte Erbe ausgegeben wurde. Auch bei Herr Buchbinders Banken konnte ich kein Geld ausmachen - die Konten sind geräumt worden. Alles, was wir haben, ist eine kleine Rolle aus sowas Ähnlichem wie Papier, die ich nur Ihrer Tochter Giovanna aushändigen darf, sofern das Mädel volljährig ist.« Er betrachtete die geliftete und mit Botox entstellte, künstliche Blondine, froh darüber, dass seine Brille die schreckliche Erscheinung mit ihren seltsam vorstehenden Brüsten in sanften Fettnebel hüllte.
»Sie ist siebenundzwanzig Jahre alt. - Was heißt das: nichts zu erben?«
»Nichts. Nada. Niente - keine müde Mark. Ihr verehrter Herr Vater hat wohl seinen gesamten Reichtum für eine Suche nach genau diesem Schriftstück hier ausgegeben. - Meine Unkosten werden Sie dennoch begleichen müssen.« Den letzten Satz sprach er nur sehr leise aus, im Wissen, was nun zwangsläufig folgen musste: Streit, Empörung, Wut, Enttäuschung. Wie er es doch hasste, immer richtigzuliegen. Während des Sturms der familiären Entrüstung reinigte er erneut seine Brille, mit einem frischen Tuch diesmal, denn er würde in den nächsten Tagen einen klaren Blick brauchen. Dass er den Erben die letzten Zeilen des Briefes vorenthalten hatte, erschien ihm jetzt gerechtfertigt.
***
Der Plan
Giovanna drehte das uralte Schriftstück ehrfürchtig, sie wagte kaum, es zu berühren. »Nonno, was hast du dir nur dabei gedacht?«, murmelte sie gedankenverloren. Im Wohnzimmer stritten sich ihre Eltern mit ihren Onkeln und Tanten - die ganze Familie lag seit Tagen im Erbstreit. Millionen hatten sie vermutet, nichts davon schien mehr da zu sein. Der wache Geist der braungelockten, quirligen Reiseleiterin drängte sie längst, den Papyrus zu entrollen, doch sie wagte es nicht. Fasziniert und gleichzeitig vorsichtig sinnierte sie darüber, was die Rolle ihr wohl offenbaren werde; was es für ihren Großvater Wert war, sein Leben dafür zu geben. Sie griff zum Telefon, wählte die Nummer ihrer Schwester und wartete auf das fröhliche ›Pronto‹, das zwangsläufig folgen musste.
»Pronto!«
Giovanna lächelte. »Roberta! Ich bin's! Wo steckst du?
Die Familie hat Krise und ich brauche dich!«
»Du weißt, ich hab's nicht so mit Familienstreit ...
Kommst du zu mir? Ich habe Muffins gebacken.«
Giovanna konnte das breite Grinsen ihrer jüngeren, rothaarigen Schwester durch die Funkwellen sehen und kündete sich, zufrieden und dankbar, in einigen Minuten an. Rasch steckte sie den Papyrus in ihre alte Reisetasche, die sie bereits an jeden erdenklichen Winkel des Planeten geschleppt hatte, und schlich sich aus dem noblen Haus.
Rasant kurvte Giovanna ihren in die Jahre gekommenen Alfa-Romeo durch die Innenstadt Bochums, wich den brav rollenden Sonntagsfahrern auf allen ihr zur Verfügung stehenden Spuren aus, mal rechts, mal links, die Hupzeichen ignorierend. Wenige Minuten später parkte sie ihren Silberpfeil, wie sie den Wagen nannte, vor dem Mietshaus in der Nähe des Bermuda3Ecks, des Kulturplatzes der Stadt. Schmunzelnd bemerkte sie die seltsame Übereinstimmung des Namens, dessen echter Bedeutung und ihrer momentanen Situation: Was, wenn diese Rolle ihr eigenes, privates Bermuda-Dreieck wird und sie darin untergeht? Dann klingelte sie, wartete auf den Summer und stieg die Treppen bis zur Dachwohnung hoch.
Die Schwestern umarmen sich. »So schlimm?«, fragte Roberta, als sie die Kraft der Umarmung bemerkte.
Nach einer typisch italienischen Handbewegung stieß Giovanna Luft des Ärgers aus. »Du hast keine Ahnung, Kleine! Es ist der blanke Horror. Alle rufen nach dem Geld, keiner fragt, ob Nonno glücklich war.«
»Kaffee? - Setzen wir uns doch auf den Balkon. Nimmst du die Muffins mit?« Roberta trug die Kaffeekanne und ein Tablett mit Geschirr voraus, Giovanna schnappte sich den Teller mit den verführerisch riechenden Teigknollen und trottete ihrer Schwester hinterher. Immer wieder wurde sie neidisch, wenn sie die Aussicht von der Dachterrasse sehen konnte, die abschätzige Bezeichnung ›Balkon‹ wurde dieser Anlage nicht gerecht. Am Horizont konnte man bei klarer Sicht gar die umliegenden Halden erkennen, die Sicht auf die Stadt und den Stahlturm des Bergbau-Museums war atemberaubend.
»Du weißt schon, wie schön du hier wohnst, oder?« Giovanna blickte verträumt auf den Horizont.
Roberta lachte. »Das sagst du jedes Mal, Schwesterherz. Ja, ich weiß, aber ein kleines Häuschen im Schmechtinwiesental wäre schon erstrebenswert. Ich möchte einen kleinen Garten haben.«
Die Schwestern setzten sich gemütlich hin und plaudern über den Familienstreit, der seit der Testamentseröffnung über ihre Eltern und Verwandtschaft gekommen war, wie ein Heuschreckenschwarm über ein Kornfeld, aggressiv und vernichtend.
»Dann zeig mal her, was Nonno dir vererbt hat, Giovanna.« Roberta betrachtete die Rolle, doch sie griff nicht danach, sie zögerte. »Warte - ich hole Handschuhe.« Sie entfernte sich und kam kurz darauf wieder, ihre Hände in weiße Handschuhe aus Baumwollstoff gehüllt. »So, jetzt kann ich es anfassen. Gib her - du traust dich ja doch nicht.«
Roberta griff vorsichtig nach der Rolle; als Studentin in Ägyptologie kannte sie sich mit antiken Dokumenten aus. Sie löste das Band und entrollte den Papyrus auf dem gereinigten Tisch. Ein Text aus seltsamen Schriftzeichen offenbarte sich, ohne einen Sinn zu ergeben. Es sah beinahe nach einer Zeichnung aus, einer Karte aus Worten vielleicht, schwungvoll und dennoch filigran gezeichnet. Die Schwestern erstarrten und blickten auf die kunstvolle Schrift.
»Kannst du es lesen?«, flüsterte Giovanna hoffnungsvoll, wurde aber durch das Kopfschütteln ihrer Schwester sogleich enttäuscht.
»Nein. Das sind sehr alte Schriftzeichen. Ich habe keine Ahnung, was hier vor uns liegt, aber Nonno hat dafür sein Leben und sein gesamtes Vermögen hergegeben. Giovanna, wir müssen der Sache auf den Grund gehen. Ich helfe dir, wenn du möchtest.«
Die Ältere lächelte dankbar und legte ihre Hand auf jene ihrer Schwester. »Zusammen sind wir stärker. Das war schon immer so. Danke, Robbie. Das sieht mir aber eher ägyptisch aus, nicht mexikanisch. Was wollte Nonno in Mexiko?«
»Das, meine liebe Vanna, werden wir herausfinden. Willst du hier bei mir übernachten? Wir könnten was kochen und dann morgen gleich in der Früh zu meinem Professor für altägyptische Schriften fahren.«
Giovanna umarmte ihre Schwester erneut. Gemeinsam genossen sie erst ihren Tee, bereiteten danach ein leichtes Abendessen zu. Bis spät in die Nacht hinein spielten sie ein Siedler-Kartenspiel, lachten und tranken Tee. Der unheilige Familienstreit schien meilenweit entfernt.
Fackeln beleuchten die Plattform auf halber Höhe der Stufenpyramide. Zwei überdimensionierte Figuren ragen auf beiden Seiten als Säulen in den Nachthimmel. Seltsam bemalte Menschen, nur mit Schürzen bekleidet, stehen schweigend im Halbkreis um einen Altar, auf welchem Roberta liegt, nackt, an Armen und Beinen gefesselt. Nur unweit entfernt kann sie ihre Schwester erkennen, ebenfalls gefesselt und nackt auf einem Felsbrocken liegend. Ein Mann mit einer goldenen Maske hält den Papyrus über ihren Körper. Drei Ägypter, auch sie mit golden und blau verzierten Masken, gesellen sich dazu. Sie murmeln in unverständlichen Worten, scheinbar ohne jemals Atem zu holen.
Wie aus dem Nichts erklingt eine Botschaft, eine sehr tiefe Stimme spricht deutlich in Deutsch; angstvoll versucht Roberta den Sprecher ausfindig zu machen, doch außer den murmelnden Menschen ist niemand zu sehen.
»Du sollst nicht danach suchen. Die Rolle ist ein Band, das nicht getrennt werden kann. Seit die ersten Besucher unser Land betreten haben, sind wir durch den ewigen Schwur miteinander verbunden. Dies besiegelt die Schrift. Wer danach trachtet, den Bund zu trennen, den wird das Unheil aufsuchen. Du sollst nicht danach trachten.«
Dann herrscht plötzlich Stille. Kein Vogelzwitschern, kein Flackern des Feuers. Alle Menschen richten ihre Augen auf Roberta, die noch immer auf dem Stein liegt, schweißgebadet. Durchdringende Blicke, ohne Zwinkern. Tote Augen, von denen sie sich nicht lösen kann. Wie ein Schatten nimmt sie den Dolch wahr, der auf einmal über ihr schwebt; der Mann mit der goldenen Maske hält ihn exakt über ihrem Herzen. Dann sticht er zu.
Roberta schrak auf. Klitschnass und außer Atem saß sie auf ihrem Bett. Neben ihr drehte sich Giovanna unruhig hin und her, bis auch sie plötzlich die Augen aufriss und sich kerzengerade hinsetzte.
»Schlechter Traum?«, stammelte Roberta, noch immer nach Luft ringend. Giovanna nickte bloß. »Ich auch.«
Sie erzählten sich ihren Traum, stellten fest, den exakt gleichen Traum gesehen zu haben. »Vanna, wir sollten vielleicht die Finger davonlassen. Was meinst du?«
»Nein, Robbie. Jetzt will ich es erst recht wissen. Wir werden morgen zu deinem Professor gehen. Ich will wissen, was auf diesem Papyrus steht. Das da ist vielleicht die Lösung für den Familienstreit.« »Aber eventuell auch dessen Ursache.«
***
Die Prophezeiung
1100 vor Christus; das neue Reich neigte sich langsam seinem Ende zu; Ramses XI hatte seine wichtigsten und ältesten Ratgeber zu sich in den Tempel geladen. Vor ihnen lag ein Papyrus, der sehr alt schien. Der Pharao erklärte seinen Gelehrten, dass es sich dabei um eine Rolle handle, die vor vierhundert Jahren vom damaligen Pharao Neptuchamun aufgeschrieben worden sei; als Niederschrift des Orakels.
»Diese unsere Rolle hier beschreibt die freundschaftlichen Beziehungen zum Volk der Schlangen und des Jaguars. Seit hunderten von Nilhochwassern entsenden wir Bauleute und Gelehrte in dieses fremde Land und erhalten dafür Nahrung, den seltenen und wertvollen Kakao und Früchte, wie sie in unseren Ländern nicht gedeihen. Es ist nun an der Zeit, die Rolle dahin zu bringen, wo der Vertrag einst geschlossen wurde. Sie soll verwahrt werden in einer Pyramide, den unsrigen nicht unähnlich, mitten im dichten Wald. Ich schicke unsere besten Krieger mit dieser heiklen Aufgabe auf die Reise über das unendliche Wasser.«
»Oh Pharao! Was steht auf dem Papyrus geschrieben? Diese Zeichen kann ich nicht lesen.«
»Siptah, mein Schriftgelehrter; das ist eine sehr alte Schrift. Es ist das Orakel selbst, das den ewigen Bund unserer Kulturen besiegelte. Solange der Vertrag von beiden Seiten eingehalten wird, gibt es Fruchtbarkeit und Frieden. Sollte jedoch eine Seite die Macht des Bundes zu ihren Gunsten ausnutzen wollen, wird Verderben und Tod über alle hereinbrechen und das Land untergehen. Nur wer frei ist von Gier und Selbstherrlichkeit, kann den Fluch brechen und den Vertrag in Frieden auflösen.«
»Was jetzt, oh Pharao? Was beabsichtigst du zu tun?« »In der vergangenen Nacht hat Re zu mir gesprochen. Die Länder unserer Freunde werden bald von fremden Seefahrern angegriffen und benötigen den Schutz des Bundes. Wir reichen den zweiten Teil der Schrift weiter, zum Zeichen, dass wir es gut mit ihnen meinen. Die Rolle soll dort den gleichen Wohlstand bringen, wie sie es uns so lange bescherte. Das Sonnenvolk benötigt den Schutz dringender als wir.« Der Pharao riss die Rolle in zwei Teile. Den ersten Teil mit der Verheißung von Reichtum ließ er in seine Sammlung von wichtigen Schriften bringen. Den zweiten Teil übergab er seinem Diener.
So geschah es, dass eine alte Prophezeiung, die Hälfte einer geheimnisvollen Schriftrolle, auf einem Schiff von Ägypten in Richtung Mittelamerika segelte, um ihren vom Orakel beschlossenen Schutz einem fremden Volk zu gewähren, welches seit hunderten von Jahren vom Volk des Nils lernte und gedieh.
***
Joachim Herbert Buchbinder II
»Ein Vertrag, hat dein Professor gesagt? Ein Vertrag zwischen den Ägyptern des Altertums und dem Volk der Maya in Mittelamerika? Das soll einer verstehen.« Giovanna konnte die Erklärungen des Geschichtsgelehrten nicht einordnen. »Was hat das mit unserem Großvater zu tun?«
»Die Schrift, welche wir hier haben, verspricht Reichtum und Frieden für den, der die Rolle weise einzusetzen weiß«, versuchte Roberta ihrer Schwester zu erklären.
»Meinst du, Nonno war auf der Suche nach der geheimnisvollen Stadt aus Gold?«
Roberta legte den Kopf in die Hände und atmete angestrengt aus. »Ich weiß es nicht. Ich traue es ihm zu. Er hatte Geld und Einfluss; doch es war ihm nie genug. Er wollte Macht. Ich denke, er war auf einer Art Schatzsuche, ja. - Aber seit Nicolas Cage wissen wir, dass sich die goldene Stadt beim Mount Rushmore befindet.« Beide Schwestern lachten über den Hollywood-Film, der sich mit exakt der gleichen Schatzsuche beschäftigte.
Giovanna beruhigte sich als Erste. »Sag, was weißt du von Nonno? Ich meine, was weißt du über sein Leben?«
»Die Buchbinders wurden mit Bergbau reich«, begann Roberta mit ihrer Erklärung, »Ihnen hat irgendeine der Zechen hier im Ruhrgebiet gehört. Sie waren im Krieg an der Herstellung von Stahl beteiligt, was sie zu mächtigen Männern werden ließ. - Aber das weißt du auch.«
»Ja. Aber woher kamen der unermessliche Reichtum und die Gunst, welche der Familie immer zuteilwurden?« Giovanna deutete auf das Schriftstück.
»Du meinst, das Orakel hat unsere Familie reich gemacht? Das glaube ich nicht.«
»Ich bin mir da nicht sicher. Schau: Joachim Herbert der Erste und sein Vater Herbert Albert waren sehr erfolgreich. Sie investierten ihren Gewinn aber zu einem beachtlichen Teil in die Infrastruktur für ihre Arbeiter. Sie bauten ihnen komfortable Wohnungen, errichteten Schulen und förderten die Gesundheit - etwas, was zu dieser Zeit außerordentlich selten war. Dafür gab es in ihrer Firma niemals Streiks und das Geschäft boomte.«
»Worauf willst du hinaus?«
»Ist das nicht offensichtlich? Roberta, unser Großvater war der dritte Patron, die dritte Generation. Er wurde gierig und dachte vor allem an seinen Nutzen.«
Es dauerte eine Weile, bis Roberta die Worte ihrer Schwester begreifen konnte. »Das Orakel! Es bringt Unheil über unsere Familie. Streit, Eifersucht, Missgunst und nun auch noch Armut. Das klingt nach unserem Traum,
Vanna.«
Giovanna hob beide Arme in die Höhe. »Du hast es erfasst. Genau das meine ich damit. - Das Orakel besagt, dass jene vom Zerfall eingeholt werden, die versuchen, die Macht für sich selbst zu nutzen. So hieß es doch im Traum.«
»Wir müssen in Erfahrung bringen, wie unsere Familie an das Schriftstück gelangt ist. - Ich rede nochmals mit meinem Professor.«
»Und ich mit unserer Verwandtschaft«, ergänzte Giovanna die aufkeimende Aktivität ihrer Schwester.
Am Abend saßen sie wiederum bei Tee auf der Terrasse und tauschten die Ergebnisse aus. Der Professor hatte anhand einiger Dokumente aus dem Ersten Weltkrieg herausfinden können, dass die Schriftrolle zur Zeit der deutschen Eroberungen in Nordafrika nach Europa gelangt war und wahrscheinlich auf diesem Weg zu den Buchbinders gefunden hatte. »Aber: es war immer nur die Rede von Reichtum, Macht und Friede. Mit keinem Wort ist die Verdammnis je erwähnt worden. Erinnerst du dich daran,
dass die Rolle in zwei Teile gerissen ist?«
»Ja, klar, was bedeutet das?«
»Der Professor meinte, um genauere Aussagen machen zu können, müsste er die zweite Hälfte begutachten können. Großvater hat nur den ersten Teil gekannt und war wohl auf der Suche nach dem zweiten. - Was hast du in
Erfahrung bringen können?«
Giovanna hatte in alten Fotobüchern auf dem Dachspeicher ihrer Eltern Fotos finden können, die ihren Urgroßvater zusammen mit Soldaten der Deutschen Armee kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zeigte. Ihr Großvater war auf anderen Bildern gar mit Soldaten der SS zu sehen. Ihr wurde unwohl bei dem Gedanken, welche Geheimnisse der Mann, den sie immer nur als Nonno kannte, gehütet hatte.
»Das bringt uns nicht weiter«, ihre leise Stimme verriet die Enttäuschung, als Roberta die Fotos betrachtete. »Meinst du, wir sollten nach Mexiko fahren?«
***
Mexiko
Die Reise in einem Familienjet war deutlich angenehmer als im mit Touristen überfüllten Linienflieger. Giovanna und Roberta konnten das Flugzeug entspannt und ausgeruht verlassen. Unterwegs hatten sie nochmals alle Unterlagen ihres Großvaters durchgesehen. Durch die Bankbelege konnten sie ungefähr erahnen, wohin er gefahren war.
Viele Stunden später bezogen sie ihr Zimmer in einem Hotel ganz in der Nähe der berühmten Pyramiden aus der Mayazeit. Roberta tigerte aufgeregt in der Suite umher, überprüfte die Ausrüstung und plapperte unentwegt.
Giovanna hatte es sich mit angewinkelten Beinen auf dem Sofa bequem gemacht und beobachtete ihre Schwester amüsiert.
»Woran sind die Indianer hier zugrunde gegangen?« Roberta blieb stehen. »Maya, Vanna, sie hießen Maya. Niemand weiß das genau. Ihre Kultur verschwand auf eigenartige Weise.« Die Archäologin hielt inne. »Du meinst doch nicht etwa ...?«
»Wäre doch immerhin möglich, oder nicht?«
»Vanna, du machst mir Angst. Das Wissen um einen uralten Geheimbund und um die Ursache des Untergangs der Hochkultur - das hätte Großvater auf einen Schlag berühmt gemacht und ... Ich darf gar nicht daran denken.«
»Ich sehe es so: Die Indianer - Maya, ich weiß - konnten dank des Orakels und dem Vertrag mit den Pharaonen vom Nil diese Kultur hier aufbauen, die Tempel, die Pyramiden und all das. Dann aber wurden auch sie gierig und wollten mit dieser Macht die Europäer besiegen - das ging dann schief; sie wurden bestraft und ihre Kultur verschwand.«
»Demnächst werden wir mehr erfahren, hoffe ich.« Roberta hielt die zwei Tickets für den Besuch der Pyramide triumphierend hoch. Giovanna prostete ihr mit einem Mate-Getränk zu.
***
Auf Touristenpfaden
Brav folgten die Schwestern den zahlreichen Touristen aus Europa, den USA und vor allem aus Asien. Den Papyrus trug Giovanna in ihrer alten Tasche bei sich. Immer wieder blieb die Reiseleiterin stehen und erklärte auf Spanisch, was man an diesem speziellen Ort erkennen könne.
Bereits seit Beginn der Führung war Giovanna der leicht dunkelhäutige Mann aufgefallen, der nicht wie ein Tourist aussah, eher wie ein Bankier; elegant gekleidet, maßgeschneidert, teuer, aber auf eine Art auch funktionell. Unter dem Anzug konnte sie einen durchtrainierten Körper erahnen und sie ertappte sich dabei, darüber nachzudenken, wie der Mann wohl in Strandbekleidung aussehen würde. Er blickte ihr plötzlich in die Augen, grinste, worauf sie sich peinlich ertappt wegdrehte. Sie hatte gestarrt, das war offensichtlich; und darüber ärgerte sie sich. Vor allem jedoch war sie alarmiert, denn ihr Großvater hatte ihr ausdrücklich geraten, niemandem zu vertrauen.
»Du suchst am falschen Ort.« Seine tiefe Stimme erklang leise an ihr Ohr. Er stand auf einmal nur wenige Zentimeter hinter ihr, sie rückte etwas weg. »Wie bitte? Was sagen Sie?«
Roberta folgte unterdessen der Reisegruppe in die Pyramide. Sie war bereits nicht mehr zu sehen. Giovanna wollte ihr folgen, doch der Mann hielt sie am Arm fest.
»Du willst Antworten zu deinem Großvater? Dann folge mir. Das hier ist nicht der richtige Ort.«
Obwohl der Mann sehr attraktiv war, fürchtete sich Giovanna vor ihm. Etwas in seinem Blick verhieß nichts Gutes, sie wollte sich losreißen, doch er hielt ihren Arm fest.
»Keine Angst, ich kannte deinen Großvater, Giovanna Pastorelli. Ich kann dir geben, wonach du suchst.«
Ihr Blick verriet den Schrecken, den sie verspürte, als sie ihren Namen hörte. Sie konnte nicht reden, nur stammeln. »Ich brauche meine Schwester. Lass sie mich holen.« Als er ihren Arm losließ, blieb sie noch einen Moment erstaunt stehen, so sehr hatte sie damit gerechnet, entführt zu werden. Wiederum ertappte sie sich dabei, leicht enttäuscht darüber zu sein, es nicht zu sein - verdammt, der Mann hatte sie in der Hand. Er lächelte nur.
Giovanna hastete durch den schmalen Steingang in die erste Kammer der Pyramide, woher sie Stimmen hörte. Roberta war in eine Diskussion mit der Reiseleiterin vertieft, doch als sie den Gesichtsausdruck ihrer Schwester entdeckte, folgte sie ihr, einige Entschuldigungen hinterlassend.
»Vanna! Was ist los? Warum schleppst du mich aus der Pyramide? Es war gerade interessant geworden ...« Dann prallte Roberta in den wartenden Mann auf der Treppe.
»Hoppla! Seid ihr zwei immer so stürmisch?«
Roberta blickte vom Mann zu ihrer Schwester und wieder zurück. Sie musterte ihn, sprach aber zu Giovanna. »Kennt ihr zwei euch?«
»Kennen nicht gerade. Aber er kannte Nonno - behauptet er.«
»Keine Behauptung«, wehrte er sich. »Ich kannte ihn. Und wie gesagt, ich kann euch geben, wonach ihr sucht.«
»Klingt spannend. Wer bist du?« Roberta streckte ihm die Hand hin. »Ich bin Roberta, Giovannas jüngere Schwester, Archäologin und Single.« Ihr Grinsen war breiter als die Treppe vor der Pyramide.
»Lasst uns gehen«, sagte er nur trocken und stieg die Steintreppe hinab.
Roberta zeigte ihrer Schwester ein weiteres italienisches Handzeichen, ›Was soll das?‹ bedeutete es; gleichzeitig formte sie mit ihren Lippen die drei Buchstaben O-MG. Giovanna schubste sie vorwärts, schüttelte den Kopf und lachte.
»Wir werden vorsichtig sein müssen. Noch traue ich dem Kerl nicht. Handy eingeschaltet?«, flüsterte Giovanna, Roberta nickte.
»Hast du auch einen Namen?«
»Entschuldigt, das war sehr unhöflich von mir. Aber natürlich habe ich einen Namen. Ich bin Leandro. Euer Großvater wollte mir etwas verkaufen. Eine alte Rolle Papier. Doch dann verschwand er auf einmal.«
»Warum wusstest du, dass wir die sind, die du suchst?«
»Der Anwalt aus Europa, Señor Wermuth, hat euch angekündigt. Ich arbeite für ihn. Apropos - habt ihr den Papyrus dabei? Die eine Hälfte, meine ich?«
»Ja. Warum fragst du?« Giovanna hielt ihre Tasche fest.
»Da drin? Nicht sicher. Lege ihn hier hinein: Wasserfest und diebstahlsicher.« Leandro hielt ihr eine massive Ledertasche hin, eine Art Rucksack, welcher auf der Innenseite mit einem synthetischen Material ausgekleidet war, vermutlich einem Stich sicheren Gewebe, wie man es bei Schutzwesten verwendet, dachte sich Giovanna. Doch sie schenkte Leandro noch immer kein Vertrauen.
»Wie lange kanntest du meinen Großvater?«, erkundigte sich Roberta, welche das Misstrauen ihrer Schwester nicht teilte. Sie schnappte sich den Papyrus, legte die Rolle in den Rucksack und blickte Vanna streng an.
»Viele Jahre«, kam die Antwort von Leandro, »seit er nach Mexiko gekommen war. Er hatte mich hier aufgesucht. - Lasst mich raten: Señor Wermuth hat euch den letzten Satz des Briefes nicht vorgelesen, korrekt?« Das Grüppchen ging weiter, fast schien es Giovanna, als hätte Leandro gelächelt, als er die Rolle in seinem Rucksack verstauen konnte.
»Welchen letzten Satz?«, fragte Giovanna.
Leider redete Roberta lauter, wodurch die Frage unterging. »Und du hast ihn hierher begleitet, in diesen Dschungel?«
»Ja, ich war sein Begleiter und habe Señor Wermuth Bericht erstattet.« Leandro ging auf Giovannas Frage nicht ein.
Giovanna blieb stehen. »Dann wusstet ihr die ganze Zeit, wo sich unser Großvater aufhielt? - Was steht noch in dem Brief?«
»Ja. Aber wir durften es niemandem sagen, er hatte es uns verboten - das steht noch in dem Brief. Entschuldigt bitte. Es ist kompliziert. Bitte, hier entlang.« Er nahm einen schmalen Weg in den dichteren Dschungel hinein; von Blättern und Astwerk geschützt. Wäre er nicht dort lang gegangen, hätten Giovanna und Roberta den Pfad nicht gesehen. Sie folgten ihm nur zögerlich.
»Roberta, hier stimmt etwas nicht. Wir sollten nicht hier sein - und du hättest ihm die Rolle nicht geben dürfen.« Giovanna hielt ihre Schwester am Arm, doch Roberta wollte dem unbekannten Mann weiter folgen.
Der Pfad wand sich nach links, dann wieder nach rechts, stieg an und wurde wieder flacher. Das Blattwerk um sie herum war dicht, sie hörten Tierstimmen und das Licht wurde immer diffuser; sie fühlten sich wie in einem dunklen, feuchten Wald, es war heiß und ihre Shirts klebten an den Oberkörpern wie eine zweite Haut aus Stoff.
»Leandro, ich muss etwas trinken. Ich brauche eine kleine Pause«, keuchte Giovanna, ihre Schwester nickte bloß.
»Es ist nicht mehr weit, wir sind bald da«, kam seine Antwort, dann verschwand er um die nächste Biegung. Kopfschüttelnd folgten sie ihm - doch er war weg. Vor ihnen sahen sie nichts als undurchdringliches Grün und den kaum wahrnehmbaren Pfad, der darin verschwand.
***
Verschollen
»Das darf nicht wahr sein! Wo ist er hin?« Giovanna und Roberta starrten einander an. Ihre Augen zu Schlitzen verengt, in einer Mischung aus Enttäuschung, Müdigkeit und Wut.
»Der soll mir nochmals unterkommen - den werde ich in der Luft zerreißen!«, zeterte Roberta, riss gleichzeitig ein riesiges Blatt einer ihr unbekannten Pflanze ab und warf es in die Richtung, in welcher sie vermutete, dass er verschwunden war.
»Was wetterst du so? Du standest doch voll auf ihn! Und unsere Rolle hast du ihm auch gegeben! Robbie - wir sind mitten im Dschungel und haben den einzigen Hinweis auf Nonno verloren!«
»Weiß ich doch!«, weinte Roberta. »Und es tut mir leid! Hörst du?«
»Schon gut. Wir müssen raus hier. Weiter gehen oder zurück? Er hat behauptet, es sei nicht mehr weit.«
Roberta starrte unterdessen auf ihr Mobiltelefon. Sie stellte resigniert fest, dass sie keinen Empfang hatte. »Weitergehen. Spuren hinterlassen, dann finden wir auch wieder zurück.«
Die Schwestern stampften langsam weiter, folgten dem Pfad und rissen dabei immer wieder Blätter ab oder knickten Äste der säumenden Pflanzen. Es musste unterdessen bereits Nachmittag sein, der typische, warme Regen setzte ein. Durchnässt, verschwitzt und am Ende ihrer Kräfte gelangten sie auf einmal an eine Mauer, die sie nicht weiter deuten konnten. Große, grob behauene Steine waren scheinbar ohne Mörtel ineinandergefügt worden, so exakt, dass keine Klinge dazwischen passte.
Roberta und Giovanna folgten der Mauer. Sie stellten fest, dass es sich um eine Art Gebäude handeln musste, an einem Ort entdeckten sie eine von Pflanzen überwucherte Treppe und zwei verwitterte Säulen, auf welchen zwei Figuren thronten - ein Puma und eine Art Wolfsmensch. Roberta betrachtete die Figuren. »Das ist Anubis, der ägyptische Gott der Toten.« Sie starrte ihre Schwester an, dann strich sie erneut mit ihrer Hand über die Figur, fast ehrfürchtig. »Der hat hier nichts verloren, das war Maya-Gebiet. Es sei denn ... - Giovanna, ich glaube, wir haben gefunden, wonach Nonno gesucht hat.«
Sie stiegen die Stufen hoch, bis weit über die umliegenden Pflanzen, dort erreichten sie eine Plattform, wieder mit mächtigen Säulen umrandet. Die Schwestern konnten erkennen, auf einer Pyramide zu sein, deren Stufen höher als Menschen waren. Der Regen hatte wieder aufgehört und sie konnten Nebel aus dem unendlich scheinenden Wald aufsteigen sehen. Mit Schrecken in ihren müden Augen erkannten sie die Pyramide aus ihrem Traum. Auf der Plattform, in der Mitte vor dem mächtigen Eingang, stand ein quaderförmiger Steinblock, mindestens einen Meter hoch und breit bei einer Länge von etwa zwei Metern. »Der wiegt mehr als fünf Tonnen. Wie ist der hier hochgekommen?« Giovanna war schneller im Rechnen als Roberta, die sich noch immer die Schriftzeichen in den Mauern anschaute. Die Jüngere drehte sich um, dann schrie sie laut auf. Giovanna fuhr zusammen.
Roberta zeigte auf den Stein und etwas, das sich offenbar hinter ihrer Schwester aufhielt. Giovanna drehte sich langsam um und blickte geradewegs in das Gesicht einer Maske. Die Maske, welche sie in ihrem Traum gesehen hatte.
Das Tor hinter Roberta hatte sich geöffnet, beide Schwestern waren von Männern mit Fackeln umzingelt. »Was sucht ihr hier?«, donnerte eine tiefe, klare Stimme.
»Eine Rolle aus Papyrus führte uns hierher. Das Erbe unserer Familie.« Giovanna sprach ruhig und gefasst, ihre Schwester traute ihren Augen kaum, denn sie selbst zitterte am ganzen Leib.
»Es ist nicht euer Erbe. Es ist das Erbe des Neptuchamun.« In der linken Hand des maskierten Mannes konnte Giovanna die Rolle erkennen.
»Wir suchen die Wahrheit über unseren verschwundenen Großvater - also ist es auch unser Erbe.«
»Du hast Mut, Tochter der Gier. Tretet ein und erfahrt die Wahrheit.« Die Männer stellten sich in zwei Reihen auf, sie wiesen den Frauen den Weg zur Öffnung in der Pyramide. Der Mann mit dem Papyrus schritt stolz voran, die Schwestern folgten ihm zögernd.
»Weißt du, ich habe mal in einem merkwürdigen Buch von einem Außerirdischen in ferner Zukunft gelesen, der auf einer Pyramide wie dieser hier gestrandet war, weil ihn seine KI im Stich gelassen hatte ...« flüsterte Roberta aufmunternd, doch Giovanna kicherte bloß halbherzig. Der Gang war einzig durch die Fackeln beleuchtet, welche die Männer trugen, was den Mauern Leben einheimste. Sie schienen zu tanzen, wichen vor und zurück. Die Luft war unerwartet frisch, Jasmin vermischt mit dem Rauch der Fackeln, Feuchtigkeit des Regens war spürbar, unter ihren Füßen knirschte etwas Sand.
Die Gruppe gelangte in eine Halle, in deren Mitte ein Sarkophag stand. Die Wände waren mit Schriftzeichen versehen, die weder Giovanna noch Roberta verstehen konnten. »Das muss eine sehr alte Sprache sein, wie auf dem Papyrus«, flüsterte Roberta.
Giovanna deutete ihr, ruhig zu sein und wandte sich an den Anführer. »Was ist das hier?«
»Das ist das Orakel des Neptuchamun. Es ist sehr alt und beschreibt die Zusammenarbeit unserer Vorfahren mit dem Volk des Nils. Zusammen wurden sie groß, der Bund verhieß ewigen Reichtum und immerwährende Macht.«
»War unser Großvater hier?«
»Ja.« Der Mann sagte nichts mehr. Die Stille wurde drückend, man konnte nur noch das Knistern der Fackeln hören.
»Was ist mit ihm geschehen?«
»Er kannte nicht die ganze Wahrheit. Er kam im Glauben, hier den Reichtum zu finden. Er war gierig und hat damit den Fluch des Orakels auf sich und seine Familie gezogen. Sie sind dem Untergang geweiht, wie unsere Vorfahren, welche ebenfalls zu gierig geworden waren.« Giovanna und Roberta begriffen, dass damit der Familienstreit und der finanzielle Ruin gemeint sein mussten.
»Wer seid ihr?«, fragte Roberta aus echtem Interesse an der Geschichte.
»Wir sind die Hüter des Orakels und des ewigen Bundes. Wir bewahren das Geheimnis. Ihr seid reinen Gemüts. Deshalb soll euch Gnade gewährt werden.«
Eine Frau, Giovanna und Roberta hatten sie zuvor nicht bemerkt, trug zwei Rollen, ähnlich wie jene, die sie verloren hatten, herbei und reichte sie dem Mann. Sie blickte kurz zu den Schwestern, deutete ein Lächeln an; ihr Haar war schwarz, die Augen aber leuchteten seltsam hell. Danach verschwand sie wieder in die Dunkelheit.
»Diese Schrift ist für dich. Du bist jung, voller Wissensdurst. Das ist die Deutung unserer alten Sprache. Verwende sie weise, ohne Eigennutz und du wirst den Ruhm und die Macht unseres Volkes erfahren.« Er überreichte Roberta die erste Rolle.
Dann drehte er sich Giovanna zu. »Das ist die Geschichte und die Karte, die dein Großvater gesucht hat. Ich vertraue sie dir an, weil ich keinen Egoismus, sondern Güte in dir spüre. Finde den Reichtum und tu Gutes. Im Namen unseres Volkes, damit der alte Bund erneuert werden möge.« Er gab das zweite Dokument Giovanna, welche niederkniete und ihr Haupt senkte, dankbar.
»Nun geht. Der Weg wird euch führen. Fortan tragt ihr das Orakel in euch. Durch das Wissen um den Fluch werdet ihr zu starken Menschen. Verwendet es weise.«
Giovanna und Roberta zogen sich zurück, drehten sich erst im schmalen Gang um. Draußen schien die Sonne, die Treppe war nicht mehr überwuchert, ein breiter, mit Sand belegter Weg führte mäandrierend durch den Wald, in der Ferne konnten sie die andere Pyramide sehen, woher sie gekommen waren. Wortlos schritten sie nebeneinander, sich an den Händen haltend. Erst nach unendlich scheinenden Minuten wagten sie, zurückzublicken.
Der Weg, wie auch die Pyramide, waren verschwunden. Hinter ihnen sahen sie bloß undurchdringliches, sattes Grün, aus welchem einzelne Schreie der Aras erklangen.
Von: brunoheter
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