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Die sechste Schriftrolle des Neptuchamun (@Jen3er)

Sie bekam keine Luft, spürte aber den unbändigen Drang, einzuatmen. Ihre Kehle füllte sich mit Staub, überall war feiner weißer Sand, die Körner umhüllten sie, drangen in jeden noch so kleinen Zwischenraum. Unkontrolliert zuckte ihr Körper. Mit den Händen schlug sie verzweifelt um sich, doch sie konnte sich kaum bewegen. Sie hustete, versuchte Luft zu holen, es gelang ihr aber nicht. Sie wollte nicht lebendig vom Wüstensand begraben werden, wollte nicht ersticken.

Aber sie konnte nicht atmen ...

... bis Lyn schweißgebadet aufschreckte und gierig nach Luft schnappte. Ihr Herz raste wild. Hektisch schlug sie die Augen auf und sah sich um.

Es war wieder einer dieser Träume gewesen, sagte sie sich beruhigend. Nur ein Traum. Nur ein Traum.

Während sich ihr wild pochendes Herz langsam beruhigte, nahm Lyn undeutlich ihre Umgebung wahr. Das leise Ticken einer Uhr. Schatten und Umrisse. Eine Stehlampe. Zwei Kommoden. Zwei Betten. Schreibtische. Große Fenster, die hinter schweren Vorhängen von der aufgehenden Sonne erhellt wurden. Eine feuchte Bettdecke. Ein nassgeschwitztes Kissen. Haare, die ihr im Nacken klebten.

Dies war ihr Zimmer an der Westcliff Academy, und Lyn hatte wieder einmal schlecht geträumt.

»Bist du wach?«

»Hmm-hmmm«, machte Lyn und wischte sich die vom Schweiß verklebten Haare aus der Stirn.

»Du hast merkwürdige Geräusche von dir gegeben, Lyn«, informierte sie ihre Mitbewohnerin. Die Decke raschelte, als sie sich aus dem Bett schälte. »Muss ein schlimmer Traum gewesen sein.«

»Ja, war es irgendwie«, murmelte Lyn. Sie versuchte, die Bilder aus ihrem Gedächtnis zu verscheuchen und mit ihnen auch das klamme Gefühl des Erstickens, das sie in den letzten Nächten immer wieder erlebt hatte. »Ist ja zum Glück vorbei.«

»Ich mach mich schnell fertig.« Sophie, ihre Zimmergenossin, war bereits aus dem Bett gesprungen und öffnete die Tür zum zimmereigenen Bad. »Heute ist der Ausflug ins British Museum. Der Bus wartet sicher nicht.«

Natürlich wartete der Bus nicht auf die beiden Schülerinnen. Musste er auch nicht. Mit einem Coffee-to-go Becher bewaffnet, erreichte Lyn gemeinsam mit ein paar anderen Schülern gerade noch rechtzeitig den Parkplatz vor dem Internatsgebäude und gesellte sich nach einem kurzen Winken in Richtung ihrer Mitbewohnerin zu ihren besten Freundinnen Ariana und Lauren. Beide hatten bereits auf sie gewartet.

»Lyn, wo steckst du denn?«, fragte Ariana mit einem leichten Vorwurf in der Stimme. Ihre blonden Haare glänzten in der Juni-Sonne. In wenigen Wochen würden sie gemeinsam ihren Abschluss an der Westcliff Academy machen.

Schnell schob sich Lyn den Rest ihres Frühstücks in den Mund und krümelte dabei nicht gerade elegant den grauen Pullover der Schuluniform voll. Mit einer lässigen Bewegung schnippte sie sich die Krümel von der Brust, als wäre nichts gewesen. »Jetzt bin ich ja da, oder?«, antwortete sie mit einer Gegenfrage.

»Zum Glück«, meinte Ariana und nickte in ihre Richtung. »Kann's kaum erwarten, mir staubige historische Artefakte anzuschauen.«

Lauren verdrehte ihre grünen Augen und warf sich die fast schwarzen Haare über die Schulter. Ihre Stimme triefte vor Sarkasmus, als sie sagte: »Das wird wie eine kleine Schatzsuche, nur dass man am Ende nicht mit etlichen Schokotalern belohnt wird.«

»Dafür aber mit einem weiteren Vortrag bei Mr Smith.« Lyn kicherte. Diesen Ausflug mit einem anschließenden Referat zu verbinden, sah ganz nach ihrem Lehrer aus. Auch wenn sie mit den Abschlussprüfungen bereits mehr als genug zu tun hatten.

»Ganz tolle Aussichten«, sagte Ariana und stöhnte.

In dem Moment kam besagter Geschichtslehrer Mr Smith mit geschäftigen Schritten angelaufen. Ms Wainwright folgte ihm und wedelte mit den Armen in Richtung des Busses. »Bitte einsteigen«, sagte sie und fixierte den einen oder anderen Schüler der Gruppe. Dabei zuckte ihre Augenbraue immer wieder in die Höhe. Die »böse Braue«, wie die Schüler sie heimlich nannten. »Einsteigen.«

Schließlich taten sie wie ihnen befohlen und fanden sich Minuten später auf der Landstraße Richtung London wieder. Die Fahrt war eine Mischung aus aufgeregter Vorfreude und deprimierter Vorahnung auf den langweiligsten Tag ihres Lebens. So ein Museumsausflug war immer so eine Sache. Entweder man mochte ihn oder eben nicht.

Lyn war eher unentschlossen und sah dem Ganzen mit gemischten Gefühlen entgegen. Konnte gut werden, konnte aber auch furchtbar enden. Ihre Freundinnen gehörten eindeutig zu denjenigen, die Museen und damit Geschichtsunterricht nicht mochten.

Deshalb meinte Lauren, als die Gruppe endlich wieder aus dem Bus ausgestiegen war: »Willkommen zu einem Tag voller Staub und Langeweile.«

»Kann's kaum erwarten«, wiederholte Ariana.

»Machen wir das Beste draus.« Lyn nickte zuversichtlich und hoffte, dass zumindest ein paar Informationen und Artefakte ganz interessant sein würden.

»Kommst du, Lynni-Lyn?«, hörte sie neben sich eine vertraute Stimme. Ihr Herz machte einen Satz. Als sie sich umdrehte, sah sie Ben, der ihr galant seinen Arm hinhielt. »Ich hab hier einen Platz für dich reserviert.« Er wackelte mit den Augenbrauen und deutete auf seine Armbeuge.

Grinsend hakte sie sich bei ihm unter und ließ sich von ihm hinter den Lehrern herführen. »Ich hätte große Lust, mich mit dir irgendwo hinter uralten Artefakten zu verstecken«, raunte er ihr dabei ins Ohr. »Wo wir ungestört sind und hemmungslos rumknutschen können.«

Sein warmer Atem an ihrem Ohrläppchen ließ ihr eine Gänsehaut über das Rückgrat wandern. Wieder hüpfte ihr Herz bei jedem seiner Worte.

Ein Museumsguide erwartete die Gruppe bereits und führte sie nacheinander in einige der etlichen Galerien, die sich um den großen Hof gruppierten. Eine Reise vom antiken Ägypten über Griechenland bis hin zum römischen Britannien und dem mittelalterlichen Europa stand ihnen bevor.

Als sich die Schüler und Schülerinnen um den Stein von Rosetta sammelten und der Tourguide anfing, einige Stellen der Inschriften zu rezitieren und zu erklären, wanderte Lyns Blick wie von selbst durch den Raum.

»Das Volk Ägyptens ehrt den glänzenden, gütigen Gott, so wie es rechtmäßig ist, das kann man hier lesen«, sagte der ältere Mann mit der näselnden Stimme gerade. »Auch sind hier Anweisungen zu finden, wie: Man soll den Erlass und die Befehle auf eine Stele von hartem Stein in der Schrift der Gottesworte, in Brief- und in griechischer Schrift schreiben.«

Lyn hörte nicht mehr zu. Ihr Blick heftete sich auf mehrere Schriftrollen, die nicht weit weg auf der anderen Seite vor einer Wand mit einem einzigen ausgerollten Papyrus übereinandergestapelt waren. Wie magisch davon angezogen, löste sie sich von Bens Arm und ging ein paar Schritte weg. Lyn legte den Kopf schief und spielte mit dem Gedanken, ihre Finger nach dem vergilbten Papier auszustrecken und darüber zu fahren. Sicher durfte man es nicht berühren.

Aber irgendwie war es ihr egal. Sie musste einfach wissen, wie sich die Rolle, die zwischen drei weiteren lag und noch abgegriffener aussah als die anderen, anfühlte. Als sie mit den Fingern das Schriftstück berührte, war sie überrascht. Es war fester Papyrus, vollkommen intakt und kaum abgenutzt. Lyn schnappte nach Luft, denn plötzlich begann alles um sie herum zu wanken. Mit zusammengezogenen Augenbrauen versuchte sie, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren, beruhigte ihren Atem und rollte zittrig den Papyrus auseinander. Es waren ägyptische Schriftzeichen, Hieroglyphen, etliche Bilder nebeneinander, die sie nicht entziffern konnte. Dachte sie zumindest, doch kaum hatte sie es für unmöglich gehalten, tauchten die Worte vor ihrem inneren Auge auf. Lyn konnte plötzlich Buchstaben sehen, Worte in englischer Sprache, die sie in der Lage war zu lesen.

»Viele Nöte kommen über die Weltbewohner, weil sie in großem Hochmut gewandelt sind. Sie haben den Höchsten verachtet, sein Gesetz nicht beachtet und seine Wege verlassen, dazu noch seine Pfade zertreten. Sie haben in ihrem Herzen gesprochen, es gebe nichts Überirdisches.

So soll es sein: Die Wurzel des Bösen erstarkt, Krankheit greift um sich, der Tod schreitet voran. Viele werden zugrunde gehen durch ein überirdisches Inferno, das ein neues Zeitalter errichtet.«

Daneben fand sich eine Zahl: 2026.

Mit den Worten und dem Jahr tauchten Bilder auf, die sie bereits aus ihren Träumen kannte. Die Sonne verdunkelte sich. Ein Sturm zog auf. Hohe Wellen peitschten gegen die Küste, ließen Boote und Schiffe bedrohlich wackeln.

War es so einfach?

Vollkommen vor den Kopf gestoßen ließ Lyn die Schriftrolle zu Boden fallen. Das Geräusch, das sie dabei verursachte, hallte durch den Museumssaal, aber sie nahm es kaum wahr.

Stattdessen rastete etwas in ihrem Verstand an der richtigen Stelle ein. All das war bereits passiert – sie wusste es von ihrer Freundin Ariana, die den Untergang von Atlantis miterlebt hatte. Es würde wieder passieren. Der Niedergang stand ihnen bevor, um sich danach wie Phönix aus der Asche neu zu erheben. Die Gewissheit, dass alle zum Sterben verurteilt waren, flammte überdeutlich auf. Es gab kein Entkommen.

»Lyn?«, rief irgendwer ihren Namen, doch sie beachtete ihn nicht.

Außer, die Menschheit würde einen Ausweg suchen. Vielleicht war Lyn zu etwas Größerem bestimmt. Genau diese Einsicht tauchte plötzlich glasklar in ihrem Verstand auf.

»Lyn?«

Offenbar war ihr Platz nicht an Bens Seite, sondern woanders. Nicht auf dem Highgrove Anwesen seiner Familie in Südengland, nicht an der Westcliff Academy, nicht mal als normale Schülerin.

»Lyn?«

Endlich richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf Mr Smith, ihren Lehrer, der neben ihr auf dem Boden kniete und sie besorgt musterte. Lyn hatte gar nicht mitbekommen, dass sie auf die kalten Fliesen gesackt war, aber da saß sie nun und fuhr sich mit klammen Fingern über die Stirn.

»Du hast das verloren«, sagte Mr Smith und hielt ihr die alte Papyrusrolle entgegen. Offensichtlich ahnte er nicht, dass sie eines der Ausstellungsstücke war, das Lyn verbotenerweise angefasst hatte, und war stattdessen der Meinung, sie wäre ihr aus der Tasche gefallen.

Verrückt.

Trotzdem griff Lyn danach und ließ sie schnell in ihrem Rucksack verschwinden. Sie hatte das Bedürfnis, den Text später noch einmal genau zu studieren.

***

Als Lyn nach dem langen Tag spätabends endlich zurück auf ihrem Zimmer war, rollte sie das alte Schriftstück wieder aus und betrachtete nachdenklich die fremden Zeichen, die vor ihren Augen eine Warnung ergaben. Nöte.

Krankheit. Tod. Überirdisches Inferno.

»Hast du die im Museumsshop gekauft?«, ertönte eine Stimme.

Lyn zuckte erschrocken zusammen. Mit Sophie, die sich neugierig über Lyns Schulter beugte, hatte sie nicht gerechnet. Normalerweise hielt sie etwas mehr Abstand.

»Sieht interessant aus«, meinte Sophie und richtete sich wieder auf. »Ergibt für mich aber nur merkwürdiges Kauderwelsch.«

»Du kannst es lesen?« Schnell fuhr Lyn herum und sah ihre Mitbewohnerin überrascht an. »Die Hieroglyphen?«

Sophie legte den Kopf schief und musterte sie verständnislos. Dann runzelte sie die Stirn und schüttelte den Kopf. »Nein, Lyn, nicht die Zeichen, aber die Übersetzung daneben«, erklärte sie. Der Tonfall ihrer Stimme klang, als spräche sie mit jemandem, der nur sehr langsam dachte.

»Und was steht da?«, bohrte Lyn weiter. Sie musste unbedingt wissen, ob sie dasselbe in den Worten las wie Sophie.

Doch diese zuckte mit den Schultern. »Irgendetwas über Sand und Sterne und Blitze – ich kapier's nicht.« Sie drehte sich um und lief auf das Badezimmer zu. »Ergibt für mich alles keinen Sinn. Die haben dir Ramsch verkauft.« Damit verschwand sie im Bad.

Lyn war anderer Meinung. Die alten ägyptischen Hieroglyphen prophezeiten eine schlimme Katastrophe, die einen Teil der Menschheit auslöschen würde. Irgendetwas in ihr flüsterte ihr beständig zu, dass sie etwas dagegen tun müsste.

Nur was? Was konnte Lyn tun?

***

Diese Frage beschäftigte sie nahezu jede freie Minute der nächsten Tage. Wie auch an diesem. Der Freitag hatte mit strömendem Regen begonnen, der noch immer nicht aufgehört hatte. Als Lyn also nach dem Unterricht in der Bibliothek der Schule saß, prasselte der Regen unaufhörlich gegen die Fensterscheibe unweit ihres Platzes und verwandelte die Erde auf dem Campus in Schlamm.

»Sieh mal einer an«, murmelte sie und blätterte eine Seite eines der schweren, in schwarzes Leder gebundenen Büchern um. Außer dem Prasseln der Regentropfen gegen die Scheiben war nichts zu hören. Freitagnachmittag nach dem Unterricht war wenig los in der Bibliothek. Die Schüler und Schülerinnen der Westcliff Academy mussten sich allesamt in den Aufenthaltsräumen oder auf ihren Zimmern tummeln. Vielleicht waren einige in den nahe gelegenen Ort gegangen.

Die Seiten des Buches waren vom Alter vergilbt, die Tinte verblasst. Lyn musste sich anstrengen, um die Worte entziffern zu können, und beugte sich leicht vor. Interessiert las sie, was dort über die Pyramiden stand.

»Die Pyramiden von Gizeh sind ein direktes Abbild der drei Gürtelsterne des Sternbilds Orion«, murmelte sie vor sich hin. »Zum Zeitpunkt von 10450 Jahren vor Christus?« Sie dachte an ihren Traum, daran, dass sie irgendwo in einer Kammer von feinem Sand verschüttet und unter dessen Gewicht lebendig begraben wurde. Vielleicht hatte es damit etwas zu tun? Leise las sie weiter: »Dass es sich um ein genaues Abbild der Gürtelsterne handelt, wird von den Höhen der drei Pyramiden bestätigt, die den Lichtstärken der drei Gürtelsterne genau entsprechen ...« Faszinierend.

Eine Schriftrolle oder gar eine Prophezeiung wurde in dem Text nicht erwähnt.

»Sieh mal einer an. Legler, der Bücherwurm«, hörte sie plötzlich jemanden sagen und sah auf.

Henry lehnte an einem der Bücherregale. Er war Schüler der Westcliff Academy, ebenso wie Ly selbst, doch bisher hatten sie nicht viel miteinander zu tun gehabt außer ein paar gemeinsame Kurse. Das dunkelblaue Jackett der Schuluniform stand offen, die Krawatte war am Hals leicht geöffnet und hing ihm ein bisschen schief. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie schon an diesem Tisch saß und die Bücher nach Informationen durchforstete, aber er musste sieh bereits eine Weile beobachtet haben. Jetzt stieß er sich vom Regal ab. »Was Interessantes gefunden?« Wie eine Raubkatze schlenderte er auf Lyn zu und nickte dabei in Richtung der Bücher, die sie auf den Tisch getürmt hatte. Mit einer knappen Kopfbewegung wischte er sich die blonden Haare aus der Stirn.

Lyn stöhnte. »Ich recherchiere für ein Referat«, wich sie aus. Es ging ihn schließlich nichts an, was sie wirklich suchte.

»Und?« Er stellte sich neben sie und beugte sich vor, um ebenfalls einen Blick in die Bücher zu werfen. »Die Pyramiden von Gizeh?«

»Es geht dich nichts an.«

»Ich wusste gar nicht, dass Mr Smith jetzt Ägypten im Unterricht durchnimmt«, murmelte Henry. »Oder ist es für deine mündliche Abschlussprüfung?«

Anstelle eine Antwort zu geben, zuckte Lyn knapp mit den Schultern. Merkte er nicht, dass er störte?

»Oder hat es mit der Schriftrolle zu tun, die du aus dem British Museum neulich geklaut hast, Legler?« Henrys braune Augen bohrten sich in ihre. Er beugte sich näher zu ihr herunter und verströmte einen merkwürdig anziehenden Duft von Zitrone und Aftershave. »Ich habe durchaus mitbekommen, dass du sie aus den Exponaten gezogen und gelesen hast«, raunte er.

Ihr liefen prickelnde Schauer über den Rücken. Die Nackenhärchen stellten sich auf. In ihr braute sich das Bedürfnis zusammen, vor ihm zurückzuweichen, doch Lyn blieb, wie sie war. »Was hast du gelesen?« »Nichts«, wisperte sie.

Henry schnaubte verächtlich. »Lügnerin. Erzähl das deinem Psychiater, Legler«, sagte er voller Abscheu. »Also sag schon: Was stand drin?«

Verzweifelt plusterte sie die Backen auf, weil sie darauf keine Antwort wusste. Zumindest keine, die Lyn ihm mal kurz um die Ohren hauen konnte. »Okay, Dix«, begann sie und wich nun doch ein Stück zurück. Lyn fuhr sich durch ihre rötlichen Haare und lehnte sich an die Stuhllehne. »Es war eine Prophezeiung. Eine, die den Weltuntergang ankündigt, ein übernatürliches Inferno, das einen Teil der Menschheit vernichtet.«

Einen kurzen Moment dachte Lyn, Henry würde in lautes Gelächter ausbrechen, sich umdrehen und verschwinden. Doch er starrte sie nur an. Gefühlt minutenlang. Dann endlich legte er den Kopf schief und runzelte die Stirn. »Erschreckt dich die Vorstellung, dass wir alle sterben könnten?«

»Natürlich«, rief sie aus. »Ich muss herausfinden, ob wir etwas dagegen unternehmen können.«

Er strich ihr mit dem Daumen über die Wange, und sein Blick bekam beinahe etwas Zärtliches. Es war surreal, Henry Dix so nahe zu sein. Lyn verstand es selbst nicht, aber in diesem Moment fühlte sie sich zu ihm hingezogen. Obwohl sie an Ben denken sollte. Ben Highcrove, ihren festen Freund seit über einem Jahr. Doch der war gerade so sehr in den Hintergrund gerückt. Jede Faser ihres Körpers richtete sich auf die Person, die keinen Meter von ihr entfernt stand und sich jetzt mit einer Pobacke auf die Tischkante setzte. »Wir können nichts tun«, flüsterte er. »Außer, es geschehen zu lassen. Es gibt keine Lösung für dieses Problem.«

Der innige Moment zwischen ihnen erstarb. Genervt wischte Lyn seine Hand von ihrer Wange. »Was macht dich so sicher?«

Der Typ ging ihr auf die Nerven. Sollte er mit seinen Pseudo-Weisheiten doch jemand anderen belästigen.

»Glaub mir, Legler, es gibt keine Lösung für dieses Problem. Das, was du meinst, gelesen zu haben, wird irgendwann eintreten, da ändert es auch nichts, wenn du die Menschheit warnen willst. Du darfst es nicht. Außer ...«

Lyn stutzte und hob die Augenbrauen. »Außer was?«, fragte sie und richtete sich wieder auf, um sich ihm erneut entgegenzubeugen.

Doch Henry wich zurück, erhob sich ganz und verschränkte die Arme vor der Brust. »Nichts.«

»Erzähl es mir, Dix«, forderte sie. »Du wolltest nicht nichts sagen.«

Er seufzte und sah sie schließlich ausdruckslos an. »Außer, wir schaffen es und kommen der Prophezeiung zuvor.«

Lyn schnaubte. »Willst du dich etwa mit den ...« Zur Untermalung ihrer Worte zeichnete sie Gänsefüßchen in die Luft. »... sogenannten Göttern anlegen, bevor sie die

Menschheit vernichten können?«

»Nicht ganz.«

»Was meinst du?«

Ein Funkeln erhellte seine dunklen Augen. Dann huschte ein Grinsen über sein Gesicht. »Komm morgen Abend nach dem Essen zum Sportplatz«, sagte er. »Ich zeige es dir.«

***

Lyn musste den Verstand verloren haben. Da saß sie auf der Tribüne am Sportplatz und wartete auf einen Kerl, mit dem sie definitiv keine Zeit verbringen sollte. Stattdessen sollte sie dringend von hier verschwinden.

Noch längere Zeit auf Henry Dix zu warten, während Ben sich sicher fragte, wo sie war, würde nicht gut für Lyn enden, davon war sie überzeugt.

Lyn hatte sich gerade erhoben und strich sich den Faltenrock der Schuluniform glatt, da hörte sie seine Stimme. »Hier bist du.«

»Ehrlich.« Sie stapfte an ihm vorbei und klopfte ihm kurz aufmunternd auf die Schulter, um sich daran zu machen, die Stufen von der Tribüne hinunterzusteigen. »Das war keine gute Idee.« Lyn musste ihn loswerden.

Doch weit kam sie nicht. Henry war hinter ihr hergelaufen und hielt sie an der Hand fest. »Legler, jetzt warte mal.«

Abrupt drehte sie sich um. Dabei kam Lyn ins Taumeln und sah sich schon die Stufen hinunterstolpern, als er sie geistesgegenwärtig an sich zog. Lyn prallte gegen seine Brust. Wie von selbst legten sich ihre Hände auf seinen Oberkörper. Sein Geruch stieg ihr in die Nase, und sie schloss verzweifelt die Augen. Alles in ihr sträubte sich dagegen, so nah bei ihm zu stehen, schließlich hatte sie Ben. Doch alles in ihr sehnte sich auch danach, noch näher in seine Arme zu sinken.

Es war der reinste Zwiespalt.

In diesem Moment räusperte er sich. »Ich wollte dir etwas sagen«, meinte er, und seine Stimme war seltsam tonlos. »Schau mich bitte mal an, Lyn Legler. Schau mir nur einmal in die Augen, nur einen Augenblick, und hör mir nur eine Minute zu. Dann verspreche ich dir, lass ich dich in Ruhe ...«

Wollte sie das überhaupt?

Ihr Herz schrie nein, der Kopf sagte ja.

Lyn seufzte. Zögernd hob sie den Blick und sah ihm in die Augen. Sofort drohte sie, in das warme und intensive Braun seiner Iriden zu fallen, und wehrte sich nicht gegen das Gefühl der Machtlosigkeit, das sie erfüllte. Dies war der Moment, in dem er alles von ihr haben konnte. Dies war der Moment, in dem ihr Verstand aussetzte und verstummte.

Henry schluckte. »Eines Tages, Lyn Legler, da werden du und ich zusammenstehen. Ich werde dich in meinen Armen halten und küssen«, prophezeite er leise. Er nickte langsam und hielt ihren Blick in seinem gefangen. »Nicht, weil du genau mein Typ bist und auch nicht, weil jeder von uns irgendwie gerade damit rechnet, dass wir zusammen kommen werden, wenn du Ben endlich abgeschossen hast.«

Seine Stimme berührte sie. Am liebsten hätte sie willenlos genickt, vermied es aber mit aller Macht.

»Sondern weil ich zusammengezuckt und stehen geblieben bin, als ich dich das erste Mal gesehen habe«, sprach er weiter. »Damals an meinem ersten Schultag hier auf der Academy, noch bevor du mich gesehen hast. Ich habe aufgehört, zu atmen und auch zu denken, und in diesem Augenblick wusste ich, dass du der Grund dafür bist, dass ich an diesem Ort und überhaupt auf diesem Planeten bin.« Er zog sie noch näher zu sich, und Lyn merkte plötzlich, dass sie die Luft angehalten hatte. Wie aus weiter Ferne und unfähig, sich dagegen zu wehren, sah sie, wie er seine Hand hob und diese ausstreckte, um sie an ihre Wange zu legen. Lyn spürte, wie ihre Augenlider schwer und die Knie schwach wurden. Ihr Herz tanzte. Sie schluckte.

Jetzt.

Jetzt war der Moment, der ...

Dann machte er plötzlich einen Schritt zurück und sah sie fast wehmütig an. »Ich weiß, wer du sein wirst.«

Ihr Herz stolperte. Verständnislos sah sie ihn an. »Was meinst du?«

»Ich weiß, was einmal sein wird, Lyn.«

Noch immer starrte sie ihn an und kapierte nicht, was er ihr sagen wollte. Sie hörte seine Worte, aber sie machten keinen Sinn.

Aber sie kam nicht dazu, diese Frage zu stellen, denn Henry fuhr bereits unbeirrt fort: »Ich werde dich nicht anlügen. Ich finde es schrecklich, dass das passieren muss, aber ich wusste es schon, als ich dich das erste Mal gesehen habe ... Ich habe es dir gerade eben schon einmal gesagt ...« Er sah ihr tief in die Augen. »Es ändert nichts an meinen Gefühlen für dich.« Fast andächtig legte er seine Hand auf ihre Brust. »Sie sind da. Sie werden es immer sein.«

Ihr Herz raste. Seine Berührung fühlte sich so intim an, so ehrlich, dass Lyn ihm glauben musste. Ganz kurz blitzte die Erinnerung in ihr auf, in der sie beide zusammen in einem der Unterrichtsfächer saßen, Henry mit ihren Haaren spielte und ihr genau das von hinten zuflüsterte.

Ich habe Gefühle für dich. Sie werden immer da sein.

»Du hast mich von Anfang an fasziniert, Lyn«, flüsterte er. »Vom ersten Moment an hast du mich sofort in deinen Bann gezogen.«

Seine Worte gingen so tief. Sie berührten ihre Seele. Lyn spürte das Kribbeln in der Nase und schniefte. Er offenbarte ihr solche Dinge, und sie fing an zu heulen! Vehement unterdrückte sie die aufsteigenden Tränen und blinzelte sie weg. Gerade wollte Lyn etwas erwidern, irgendetwas, doch da zuckte ein Blitz vom Himmel.

Sie lösten sich voneinander.

Wieder ein Aufleuchten, nur eine tausendstel Sekunde. Intuitiv wusste Lyn, dass es kein normaler Blitz war. Das hier war etwas anderes, etwas Überirdisches. Über ihnen entfachte sich ein atemberaubendes Himmelsspektakel aus kurzen, gleißend hellen Lichtblitzen, die aus allen Himmelsrichtungen zu kommen schienen. Ihr war klar, dass sie aus den Tiefen des Weltalls stammen mussten, jenseits ihrer eigenen Galaxie, der Milchstraße, denn so etwas hatte Lyn noch nie zuvor gesehen.

»Fast Radio Bursts«, murmelte Henry neben ihr. Mittlerweile standen sie nicht mehr so dicht beieinander, was ihr sofort die Kälte unter die leichte Bluse der Schuluniform kriechen ließ. »Radioblitze.«

Lyn verschränkte die Arme vor der Brust, um sich ein bisschen zu wärmen. »Hast du so etwas schon mal gesehen?«

Langsam schüttelte er den Kopf. »Wissenschaftler erforschen sie, seit sie das erste Mal gesichtet wurden«, sagte er. »Das war 2012.«

»2012?«, fragte Lyn. Ihr Blick zuckte zu ihm, doch Henry sah weiter gebannt in den Himmel. Sein Ausdruck im Gesicht schien nahezu verloren, nachdenklich.

»Manche meinen, die Radioblitze könnten während einer Supernova entstehen, dem explosiven Aufleuchten von Sternen am Ende ihrer Lebenszeit. Andere sagen, sie entstünden bei der Verschmelzung zweier Neutronensterne in einem engen Doppelsternsystem, wenn die Magnetfelder der Einzelsterne gleichzeitig zusammenbrechen«, erklärte er, schüttelte dann aber den Kopf. »Ich weiß es besser. Es ist ein Signal. Ich denke, du ahnst, von wem.«

Den göttlichen, überirdischen Wesen aus der Prophezeiung?

Henry deutete es zumindest an.

»Und wieso hat es 2012 angefangen?«

»2012 endete der Maya-Kalender«, sagte Henry. »Sie haben angeblich für den 21. Dezember 2012 das Ende der Welt vorhergesagt. Ich bin aber der Meinung, dass mit dem Weltuntergangsszenario etwas ganz anderes gemeint war.

Eine Verschiebung. Ein neues Zeitalter. Ein Aufbruch.«

Lyn kamen die Worte auf dem Papyrus in den Sinn.

»Viele werden zugrunde gehen durch ein überirdisches Inferno, das ein neues Zeitalter errichtet.«

»Fakt ist aber«, redete Henry weiter, »Einmal alle 25.800 Jahre zieht die Sonne zur Wintersonnenwende mit dem Zentrum der Milchstraße gleich. Genau dies ist am 21. Dezember 2012 passiert. Diese Wesen rufen die Erde oder die Erde ruft sie.«

Langsam nickte Lyn. »Du meinst Aliens?«

»Es werden noch mehr kommen«, wich er aus, wendete seinen Blick vom Himmel ab und sah sie an. »Und wir können nichts davon aufhalten.« »Du ...?«

Eine Ahnung flackerte in ihrem Verstand auf.

Henry Dix wusste so viel mehr als sie selbst. Konnte es also sein, dass er weitaus mehr war als nur ein normaler Mensch? Als ein Schüler der Westcliff Academy?

Bevor sie weiter in diese Richtung überlegen konnte, unterbrach er ihre Gedanken bereits. »Es ist wichtig, Lyn«, sagte er eindringlich. »Ich brauche diese Schriftrolle.«

»Wieso?«

»Ich muss sie zurückbringen.«

»Das kommt gar nicht infrage, Henry.« Heftig schüttelte sie den Kopf und wich ein Stück vor ihm zurück. »Sie werden kommen und die Menschheit vernichten. Ich habe es gelesen.«

»Ich weiß.«

»Du weißt?« Ihre Stimme überschlug sich fast. Er leugnete es nicht. Er bestätigte es.

»Und wir können nichts dagegen tun. Das sagte ich bereits.« Wieder streckte er seine Hand aus und berührte ganz leicht ihren Oberarm. »Ich muss die Prophezeiung zurückbringen. Das ist das Einzige, was ich tun kann.«

»Du rufst sie«, stellte sie fest. In ihrem Körper brodelte ein Vulkan, so unvorstellbar war das, was sich in Lyns Gedanken zusammenbraute. Henry Dix war ...

»Nein.« Er schüttelte den Kopf. Dann wurde sein Griff stärker. »Nein«, wiederholte er. »Sie kommen so oder so. Das hat nichts mit mir zu tun. Es wird passieren. Alles. Wir dürfen nicht eingreifen, vertrau mir.«

»Hat es schon einmal jemand versucht?«

»Ja.«

Ein heftiger Schauer durchzuckte sie. Kaltes Grauen erfüllte jede ihrer Venen. »Das heißt ...?«

»Es wird nicht funktionieren.« Henry verzog das Gesicht zu einem traurigen Lächeln. »Egal, was du versuchst, es macht das Ganze nur schlimmer. Ich brauche diese Schriftrolle.«

***

Lyn gab ihm die Prophezeiung des Neptuchamun. Dass sie ihm in dieser Hinsicht vertraute, konnte sie selbst kaum glauben.

Bevor Lyn es sich anders überlegen konnte, ließ er den aufgerollten Papyrus in seiner hinteren Hosentasche verschwinden. Es fühlte sich richtig an. Sie standen im Türrahmen zu Lyns Internatszimmer und waren sich dabei so nah, dass sie gefährlich ins Wanken kam.

Seine folgenden Worte machten das Chaos in Lyns Inneren nur noch größer und ließen ihren Körper erbeben.

»Eines Tages werde ich dich lieben, Lyn Legler«, gestand er leise und sah ihr dabei fest in die Augen.

Ihr Herz begann wild zu pochen. Jede Faser ihres Körpers schien augenblicklich unter Strom gesetzt, so sehr berührte sie sein Geständnis. Ein Schauer lief ihr prickelnd über den Rücken. Lyn öffnete den Mund, um etwas zu sagen, irgendetwas, doch er legte ihr eine Fingerspitze auf die Lippen und hinderte sie daran.

»Hör mir zu«, wisperte er. »Weil ich dich jetzt schon so sehr liebe, musst du genau das vergessen. Du musst vergessen, dass du diese Schriftrolle entziffert hast. Du musst vergessen, dass du von der Prophezeiung weißt. Und du musst vergessen, was ich dir über mich, über uns und über all das andere erzählt habe. Du musst diese kurze gemeinsame Zeit mit mir aus deinem Gedächtnis löschen. Wir sind nur Schulkameraden, die kaum ein Wort miteinander sprechen.«

Lyn schluckte, weil ihr seine Worte selbst in der Seele wehtaten.

»Du solltest stattdessen an Ben denken und wie viel er dir bedeutet. Geh mit ihm zusammen nach der Schule auf eine Universität. Werde glücklich. Es ist besser so.«

Ohne ein weiteres Wort drehte Henry sich um und verschwand. Mit ihm gingen auch die Schriftrolle mitsamt der

Prophezeiung und ihrer Erinnerung daran ...

... Irritiert blinzelte Lyn. Wieso hatte sie die Tür geöffnet? Wieso stand sie jetzt im Türrahmen? Was wollte sie gerade tun? Lyn wusste es nicht mehr. Der lange Korridor, von dem rechts und links die Türen zu den Zimmern ihrer Mitschüler abgingen, lag verlassen in gedimmtem Licht vor ihr.

Merkwürdig.

Ihr Kopf fühlte sich an, als wäre er in Watte gepackt worden. Da war etwas, an das sie vielleicht denken sollte, aber es war im dichten Nebel des Vergessens verschwunden. Ein Name tauchte auf. Ben. Wenn sie an ihn dachte oder daran, wie sehr sie ihn liebte, wurde ihr warm ums Herz.

... to be continued.  

Von: Jen3er


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