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A Thief's Secret (@FleurDeCel)

Cleo saß auf einer alten Teekiste aus Westindien, während sie dem wirren Hafentreiben zuschaute. Die kühle Morgenbrise schob ihr den Gestank von Algen, Fischen und Pisse entgegen. Es waren die altbekannten Dämpfe, die einem im Pool von London in die Nase wehten. Cleos Magen konnte sich davon allerdings schon längst nicht mehr umdrehen.

Sie sprang von der Kiste und setzte sich in Bewegung. Ein Matrose, der eine große Ladung Weinflaschen zum Lagerhaus bringen wollte, rempelte sie an. Sie schenkte ihm keine Beachtung, obwohl er ihr ein überaus vulgäres Fluchwort an den Kopf warf.

Es war wieder einer dieser Tage, an denen der Hafen Londons aus allen Nähten und Balken zu platzen schien. Unzählige Schiffe drängten sich am Dock so dicht aneinander, dass das Knirschen des Holzes das Gejohle der Mannschaften und Hafenarbeiter übertönte. In der Ferne erhob sich die London Bridge gegen den regennassen Herbsthimmel, doch die imposante Brücke schien angesichts des Durcheinanders, das sich vor ihren Pfeilern abspielte, beinahe unterzugehen.

Der Radau, das fahle Licht, das Chaos — es war genau das, was Cleo brauchte, denn heute wollte sie so unsichtbar sein wie ein Tropfen im Meer.

Sie drückte sich durch die Menge. Aus aller Herren Ländern kamen sie hierher, Matrosen, Kapitäne, Reisende, Händler und Flüchtende, und erhofften sich, im Herzen der Stadt Geschäfte zu machen, ein neues Leben zu beginnen, oder ein Abenteuer in der Ferne zu suchen. Ungeachtet des Grundes, warum diese Menschen an den Hafen kamen, eines wusste Cleo mit absoluter Sicherheit: Sie trugen immer — wirklich immer — Wertsachen mit sich.

Der Pool von London war der perfekte Ort für eine Diebin. Der perfekte Ort für Cleo.

Sie beäugte die Menschenmenge, auf der Suche nach ihrem ersten Opfer. Im gleichen Moment eilte ein Mann an ihr vorbei — breite Schultern, eingepackt in fein verarbeitete, dunkelgraue Wolle mit seidenem Futter. Seine Schuhe glänzten vermutlich sogar bei Nacht. Eindeutig ein Aristokrat.

Cleo hatte ein Auge für die Kostbarkeiten der Welt und dieser Mann musste ganz viele davon besitzen. Das verriet der Gegenstand, den er in seiner rechten Hand umklammert hielt: einen Koffer aus braunem Leder mit silbernen Schnallen.

Den wollte Cleo unbedingt haben, denn sein Inhalt konnte ganz gewiss die Mäuler ihrer vier Geschwister stopfen. Vielleicht würde Cleo ihnen ja eine Wurst vom Fleischer holen können, oder sogar ein Stück Zucker für den Tee! Cleo wagte es kaum, zu träumen. Alles, worauf sie sich fokussierte, waren die Bewegungen dieses Mannes, der ein ganz bestimmtes Schiff zu suchen schien.

Sie folgte ihm unauffällig.

Plötzlich tat sich die Menge auf, wie das Auge eines Sturmes. Der Mann blieb ruckartig stehen und so auch Cleo direkt hinter ihm. Er verharrte vor einem Schiff mit französischer Flagge und vergilbten Segeln. Die Mannschaft darauf bestand aus haarigen Männern mit gegerbter Haut und schmutzigen Hemden. Sie kamen von irgendwoher, wo die Sonne viel häufiger schien als im grauen England.

Der wohlhabende Mann mit dem Koffer winkte einem Kerl auf dem Schiff zu. Es kam Bewegung in die Matrosen, dann trat der Bärtigste von ihnen an die Reling. Seine Gesichtsbehaarung war so dicht und lang, dass man seinen Hals darunter gar nicht mehr erkennen konnte. Er trug eine merkwürdige Kleidung, die aussah, als hätte er sich ein Segel um den Körper gewickelt.

Entschlossenen Schrittes stampfte der Bärtige über die Brücke, die das Schiff mit dem Dock verband, und streckte dem anderen Mann die Hand hin. Der Koffer wurde abgestellt, während sich die Männer murmelnd begrüßten.

Cleo fackelte nicht lange und schnappte augenblicklich zu. Eine solche Gelegenheit musste sie am Schopf packen, denn sie ergab sich nie zweimal am selben Tag! Das Gepäckstück lag unerwartet leicht in ihrer Hand. Sie umklammerte den Griff fest und rannte sofort los. So schnell ihre müden Beine sie tragen konnten.

»Hey! Nein! Diebin!«, wurde ihr hinterher gebrüllt.

Cleo blickte nicht zurück. Sie stieß Männer zur Seite, um sich einen Weg durch die Menge zu bahnen. Aufregung erhob sich hinter ihr, doch niemand scherte sich um die junge Diebin. So war das eben in London. Man musste kämpfen, um zu überleben. Die Stadt bestrafte nur jene, die ihre Chancen nicht zu nutzen wussten.

Hastig und im Zickzack-Kurs sprintete Cleo durch das Chaos des Hafens, bis sie an einer ruhigen Ecke hinter einem Berg alter, nach Verwesung stinkender Taue eine Pause einlegte, um Atem zu schöpfen und ihre Beute genauer unter die Lupe zu nehmen.

Die Schnallen waren verriegelt. Cleo zog sich zwei Haarnadeln aus ihrer Frisur und stocherte in beiden Schlüssellöchern herum, bis sie nachgaben. Sie lachte leise in sich hinein.

Ein Kinderspiel.

Mit einem letzten Blick über die Schulter stellte Cleo sicher, dass ihr niemand bis hierher gefolgt war, dann wandte sie sich dem Koffer zu und klappte ihn auf.

Mit Entsetzen stellte sie fest, dass darin nichts als eine Schriftrolle lag.

»Das gibt's doch nicht!«, stieß sie aus und fischte den Gegenstand heraus, um nachzusehen, ob sich darunter vielleicht noch Schmucksachen oder Münzen befanden.

Aber da war nichts. Leere gähnte ihr entgegen.

Frustriert warf sie den Koffer zur Seite. Ihre Finger wickelten sich fester um die Schriftrolle, sodass sie knisterte. Das Papier, das nicht dem Papier glich, das sie sonst kannte, war brüchig und rau und schien unter dem leichten Druck beinahe schon zu zerfallen. Cleo verfluchte sich in dem Moment, nicht nach der Taschenuhr des Mannes gegriffen zu haben, anstatt nach der Reisetasche.

Seufzend rollte sie das nutzlose Stück Diebesgut auf. Heimlich hoffte sie, dass sich darin Geldscheine befinden könnten und diese Rolle bloß zur Tarnung diente, doch leider flatterte kein versteckter Schatz heraus. Nur Staub und etliche Körner Sand rieselten zu Boden.

Cleo hielt den Atem an, als ihr Blick auf das fiel, was auf dem Papier stand. Kindliche Schriftzeichen leuchteten ihr in schwarzer Farbe entgegen. Vögel, Augen, Pflanzen, Schlangen und merkwürdige Figuren. Es war eine Schrift, die Cleo nicht kannte und gewiss nicht lesen konnte, doch die Symbole faszinierten sie. Tief in ihrem Inneren spürte sie, dass diese Zeichen eine Bedeutung trugen, die sie niemals verstehen würde. Ihr gefiel jedoch ihre Schönheit, und so fuhr sie mit den Augen darüber, merkte sich die Formen, wie nur sie es konnte.

Es wirkte fast so, als wollten die Schriftzeichen eine Geschichte erzählen. Wenn Cleo zu Hause war, würde sie die Zeichen nachmalen, um ihren Geschwistern eine kleine Freude zu machen. Die Geschichte dazu würde sie aber selbst erfinden.

Kurz darauf trat Cleo unbemerkt aus ihrem Versteck, ging an den Rand des Docks und beförderte die wertlose Schriftrolle in die Themse. Sie sah ihr nicht einmal mehr beim Sinken zu und machte sich schleunigst daran, ihr nächstes Opfer am Hafen zu suchen.

***

Gerade, als Cleo ihren Arm in die Tasche eines Teehändlers gleiten lassen wollte, wurde sie von zwei Männern der Bow Street Runners, der berüchtigten Straßenpolizisten Londons, ertappt.

»Da ist sie!«, brüllte einer der beiden mit ausgestrecktem Zeigefinger.

»Oi! Haltet sie auf!«

Cleo rannte augenblicklich los. Fluchend und wütend, weil das Pech sie hartnäckig zu verfolgen schien. Was war auch nur los an diesem Tag?

Mit nagendem Hunger im Magen flüchtete man wirklich schlecht von Polizisten, aber zum Glück hatte einer der Verfolger schwere Knochen. Den hängte Cleo an der nächsten Straßenecke ab. Der zweite, jüngere und viel zu schnelle Runner stellte jedoch ein größeres Problem dar. Er holte sie auf und gewann an Land.

Cleo biss die Zähne fest aufeinander und schickte gedanklich all ihre Kraft in ihre Oberschenkel. Sie konnte es sich nicht leisten, festgenommen und in einen Kerker geworfen zu werden. Nicht schon wieder.

Sie flitzte an der letzten großen Werft vorbei, durch die kleine Gasse, die sie dort aus dem Hafen herausbringen und in die wirren Straßen Londons spülen würde. Womit sie jedoch nicht gerechnet hatte, war die menschliche Barrikade, die ihr den Weg in die Freiheit versperrte.

Cleo blieb abrupt stehen.

Ganze zehn Männer warteten dort, mit ihren Knüppeln ausgestattet. In ihrer Mitte stand der Kerl, dessen Reisetasche Cleo gestohlen hatte, links neben ihm der Mann mit dem Vorhang als Kleidung und gleich daneben Henry Fielding höchst persönlich — der Magistrat, der die Bow Street Runners als erste, organisierte Polizeieinheit Londons gegründet hatte.

Es war das größte Aufgebot an Polizisten, das Cleo je in ihrem bescheidenen Leben gesehen hatte. Sie verstand nicht, warum zum Teufel die ganze Stadt es auf sie abgesehen zu haben schien. So viel Mühe gab sich Henry Fielding sonst nie, um sie wegen ihrer Diebstähle zu fassen.

Hinter ihr erklangen die polternden Schritte ihrer Verfolger, die sie locker abgehängt hätte, wenn sie nicht in diese Sackgasse geraten wäre.

»Wegrennen ist zwecklos, Cleo Wilde«, sprach Henry Fielding das Offensichtliche aus. Wie immer trug er seine lächerliche Perücke aus weißem Haar, die die Häupter vieler Richter dieser Stadt schmückten.

Cleo bleckte die Zähne, als sie von den Männern hinter ihr in die Mangel genommen wurde.

»Bringt sie in mein Büro!«, befahl Henry Fielding.

***

Das Büro von Henry Fielding kannte Cleo schon fast so gut wie die Straßen von East End. Unzählige Male war sie bereits hierhergeschleppt und schließlich wieder freigelassen worden, nachdem man ihr die wenigen Pennys entwendet hatte, die sie in den Geldbeuteln anderer Leute gefunden hatte. Neu war allerdings die Tatsache, dass für die Befragung dieses Mal nicht Henry Fielding ihr am Tisch gegenübersaß, sondern der reiche Mann, den sie bestohlen hatte. Er war ihr als Mister Brown vorgestellt worden.

»Wo ist der Koffer?«, fragte er bereits zum zweiten Mal.

Cleo bemühte sich um eine möglichst unleserliche Miene, was ihr allerdings angesichts der drei Männer schwerfiel, die sich mit ihr im selben Raum aufhielten. Henry Fielding, der beim Fenster stand, Mister Brown, der ihr gegenübersaß, und der Mann vom französischen Schiff, der sich in einer Ecke des Raumes verzogen hatte und alles von der Ferne beobachtete — sie alle warteten gebannt auf ihre Antwort.

»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen.«

Mister Brown schloss die Augen und holte tief Luft. »Hören Sie gut zu, Miss Wilde«, grummelte er. Es fiel ihm sichtlich schwer, sie mit den üblichen Höflichkeiten anzusprechen. Sein Nasenrümpfen, als er den zerrissenen Saum ihres Kleides erblickt hatte, war Cleo nicht entgangen. »Es ist äußerst wichtig, dass Sie uns verraten, wo Sie den Koffer versteckt haben. Darin befindet sich eine dreitausend Jahre alte Schriftrolle aus Ägypten, die erst vor Kurzem bei einer Versteigerung von Antiquitäten in Sussex aufgetaucht ist.«

Cleo interessierte sich für die extravaganten Freizeitaktivitäten der Aristokraten einen feuchten Dreck. Nur die Reichen konnten sich einen Spaß daraus machen, sinnlose Gegenstände zu unmenschlichen Preisen zu ersteigern, während andere den Schlamm von der Straße lecken mussten, um nicht zu verhungern.

Henry Fielding schien ihre wachsende Abneigung Mister Brown gegenüber gespürt zu haben, denn er stützte sich mit beiden Armen auf den Tisch ab und warf ihr einen ernsten Blick zu.

»Mister Brown ist ein guter Freund unseres Premierministers«, sagte er. »Ich würde Ihnen raten, ihm zu offenbaren, wo Sie den Koffer versteckt haben. Wir wissen, dass Sie ihn haben.«

Ein Mann ohne Vornamen, der dazu noch mit den arroganten Politikern unter derselben Decke steckte. Cleo erkannte Korruption, wenn sie direkt vor ihr saß.

»Warum ist die Rolle so wertvoll?«, wollte sie wissen, anstatt auf die Frage einzugehen.

Diesen Fakt interessierte sie viel mehr als alles andere. Ihre geübten Augen hatten schnell erkannt, dass sie keinen Penny aus dem gelben Papier hätte machen können. Warum also war dieser Mister Brown so erpicht darauf, den Fetzen zurückzuhaben?

»Es ist eine der Schriftrollen, die im Tal der Könige dem Pharao Neptuchamun ins Grab gelegt wurden«, erwiderte Mister Brown. Seine Augen funkelten verschwörerisch. »Man sagt, sie enthielten Prophezeiungen über die Zukunft.«

Cleo blinzelte, um ihre Verwirrung zu verdeutlichen.

Mister Brown verdrehte genervt die Augen. »Das Stück Kulturgut, das Sie gestohlen haben, könnte den Standort eines Schatzes verraten, den Ausgang eines Krieges voraussagen, oder aber ein großes Geheimnis der Menschheit enthüllen. Mit anderen Worten: es könnte das Schicksal der ganzen Welt beeinflussen. Sie verstehen doch jetzt sicherlich, Miss Wilde, wie bedeutsam diese Rolle ist!«

Es ergab durchaus Sinn, was Mister Brown erzählte, allerdings wusste Cleo, dass ihm ihre Antwort nicht gefallen würde. Darum sah sie Hilfe suchend zu Henry Fielding, der an guten Tagen ein weiches Herz haben konnte. Sie hoffte, dass heute einer dieser Tage war.

»Ich habe sie nicht mehr, Sir. Ich habe sie in den Fluss geworfen«, gab sie offen zu.

Mister Brown sprang so heftig vom Stuhl, dass Cleo zusammenzuckte. »Das darf doch nicht wahr sein!«

Henry Fielding bewegte sich nicht. Seine Augen ruhten prüfend auf ihr. Er schien von dieser Neuigkeit keineswegs überrascht zu sein. An manchen Tagen glaubte Cleo, dass der Richter sie sogar verstand. Er wusste, warum sie die Rolle entsorgt hatte — es war ja nur Papier, sehr altes, stinkiges Papier noch dazu, das kein hungriges Kind in Whitechapel füttern würde.

»Haben Sie die Schriftrolle geöffnet?«, fragte Henry Fielding.

Cleo zögerte einen Moment, aber dann nickte sie. »Sie war vollgekritzelt mit Kinderzeichnungen.«

Mister Brown ließ ein hysterisches Lachen hören. »Das sind Hieroglyphen«, berichtigte er. »Die alte Schrift der Ägypter. Eine Schrift, die kaum jemand zu entziffern weiß. Wir haben für die Übersetzung dieser Rolle einen Gelehrten aus Alexandria herkommen lassen, der weiß, wie man daraus Botschaften lesen kann.«

Er deutete auf den in Tücher gehüllten Mann in der Ecke des Raumes, der bisher schweigend zugehörte hatte. Cleo zuckte die Achseln, denn es kümmerte sie herzlich wenig, welchen Aufwand Mister Brown für diese Schriftrolle betrieben hatte.

»Haben Sie den Inhalt gelesen?«, wollte Henry Fielding weiter von ihr wissen.

»Als ob dieses Kind lesen könnte«, murrte Mister Brown und kassierte dafür einen mahnenden Blick des Richters.

Abermals nickte Cleo. Es würde sie sowieso nur in größere Schwierigkeiten bringen, diesen Mann anzulügen — das hatte sie früh genug gelernt. Ein Tier in Gefangenschaft ergab sich besser dem Gebaren seines Fängers.

Ein Schmunzeln zupfte an Henry Fieldings Schnurrbart, während sich Mister Brown neben ihm vor Verzweiflung die Haare raufte.

»Bringt uns Tinte und Feder«, richtete sich Henry Fielding an niemand Spezifischen.

»Wozu?«, stieß Mister Brown aus und verwarf die Arme. »Die Prophezeiung Neptuchamuns ist für immer verloren! In der Themse versenkt! Von einem Lumpenpack!«

»Die Prophezeiung ist nicht verloren, Mister Brown«, widersprach ihm Henry Fielding. »Sie befindet sich in Cleo Wildes Kopf. Nennen Sie es einen schlechten Witz des Allmächtigen, aber dieses Mädchen besitzt das beste Gedächtnis ganz Londons. Wenn Sie sie fragen würden, könnte sie Ihnen detailliert berichten, welche Augenfarbe die Menschen am Hafen hatten, denen sie begegnet war, wer mit welchem Bein hinkte und wem ein Loch in der Schuhsohle prangte.«

Cleo knirschte mit den Zähnen, während Mister Brown sie misstrauisch musterte. Es gefiel ihr nicht, dass Henry Fielding so offen über ihr geheimes Talent sprach. Es genügte allerdings, um die anderen Männer im Raum zu überzeugen.

Papier, Tintengläser und Schreibfedern wurden gebracht. Der Übersetzer mit Vollbart löste sich aus der Ecke. Seine rabenschwarzen Augen blieben an Cleo hängen, als er den Tisch umrundete und sich hinter sie stellte.

»Wenn Sie diesem Mann verraten, was Sie gesehen haben, dann lasse ich Sie gehen«, versprach Henry Fielding und streckte ihr einen Papierbogen mit Federkiel hin.

Cleo traute ihren Ohren kaum, aber es hörte sich tatsächlich an, als sagte er die Wahrheit. Henry Fielding hielt sie normalerweise über mehrere Stunden in seinem Büro fest — aus reiner Schikane. Es war ungewöhnlich, dass er ihr einen so einfachen Ausweg anbot. Cleos Herz begann vor Aufregung schneller zu pochen.

Da ihr wirklich keine andere Wahl blieb, als den Männern das zu geben, was sie wünschten, kooperierte sie. Sie wollte schleunigst raus aus diesem Büro. Also kehrte sie in sich und öffnete die Schriftrolle vor ihrem mentalen Auge. Sie besaß eine ganze Bibliothek an solchen Dingen in ihrem Kopf. Alles, was sie sah, hielt sie in den endlosen Regalen ihres Geistes fest.

Ihre Finger begannen zu zeichnen, während sie die Symbole nachmalte, die sie vor ihrem inneren Auge sah. Es war so still im Raum, dass man eine Nadel hätte fallen hören können. Die Männer hielten den Atem an, nur der Übersetzer, der über ihre Schulter spähte, las konzentriert mit, während er sich Notizen machte.

Cleo presste ihre Augen fester zu, visualisierte die Rolle in ihrem Kopf, bis sie gestochen scharf erschien und malte die letzten Zeichen auf. Als sie fertig war, verglich sie ihr Werk, das sie geschrieben hatte, mit dem Bild, das sich in ihr Gedächtnis gebrannt hatte.

Sie waren identisch.

Zufrieden schob sie den Zettel Mister Brown unter die krumme Nase. »Da haben Sie Ihren Kinderkram«, sagte sie absichtlich provokativ.

Der Mann starrte auf den Bärtigen neben ihr, statt auf sie. Dieser schien noch damit beschäftigt zu sein, die letzten Symbole zu übersetzen. Auf seiner Stirn hatte sich ein irritierter Ausdruck breitgemacht. So viel konnte Cleo von der Seite erkennen.

»Nun?«, verlangte Mister Brown, als die Feder des Übersetzers innehielt. »Ergibt es Sinn, was sie Ihnen gegeben hat?«

Für sein Misstrauen hätte Cleo Mister Brown am liebsten angefaucht, aber sie unterließ es. Sie wollte Henry Fielding schließlich keinen Grund geben, sie wegen Unsittlichkeiten einem Lord gegenüber noch länger im Büro festzuhalten.

»Ja, Sir«, murmelte der Übersetzer in einem starken Akzent, den Cleo bis anhin noch nie gehört hatte. »Das tut es in der Tat.«

Mister Brown breitete die Arme aus. »Und was sagt die Schriftrolle? Ist es eine Schatzkarte? Eine Prophezeiung? Ein schlechtes Omen?«

Der Übersetzer schien zu zögern. Er sah von Henry Fielding zu Mister Brown und dann zu Cleo. »Sir, ich denke nicht, dass so viele Menschen hiervon erfahren sollten.«

Mister Brown winkte ab. »Wir haben schon den ganzen Morgen damit verschwendet, diese Ratte in der Gosse zu finden. Stellen Sie meine Duldsamkeit nicht auch noch auf die Probe! Nun verraten Sie mir, was die Prophezeiung sagt!«

Der Übersetzer begann sodann vorzulesen:

»Wenn sich der Himmel mit dem Sturm des Nordens verdunkelt, wird die Welt neu geordnet. Aus dem Schoß der Erde werden sich Stimmen erheben, lauter als der Donner des Nils in seiner Flut. Ein Feuer wird durch das Land ziehen, entfacht von jenen, die ohne Namen sind. Die Säulen der Paläste werden stürzen, Blut wird die Straßen säumen und aus den Schatten der Ruinen wird ein Mann emporsteigen, geboren aus den Reihen der Krieger. Das Alte wird fallen und das Neue wird aus dem Chaos geboren werden. Kein Pharao wird den Thron mehr besteigen, denn das Herz des Volkes wird fortan über sein eigenes Schicksal entscheiden.«

Das klang für Cleo verdächtig nach einer Gruselgeschichte.

»Geben Sie her!«, verlangte Mister Brown und riss dem Übersetzer den Zettel aus den Händen. »Sind Sie sich sicher, dass Sie alles richtig übersetzt haben?«, fragte er, während er den Inhalt noch einmal für sich las.

Der bärtige Mann verhakte die Hände hinter seinem Rücken und nickte. »Ich habe es nach dem Wissen interpretiert, das ich in Alexandria über die Schrift meiner Vorfahren angesammelt habe. Es ist mein Lebenswerk und meine Leidenschaft, Sir.«

Mister Brown wurde so bleich wie ein Stück Käse. »Dann ist es tatsächlich eine Prophezeiung.«

»Klingt nach einem heftigen Umbruch, wenn Sie mich fragen«, mischte sich Henry Fielding ein. Die Worte der Schriftrolle hatten offensichtlich auch sein Interesse geweckt. »Feuer, Blut und Chaos ... das wird nicht angenehm.«

Der Übersetzer räusperte sich. »Das ist richtig. Die Rolle spricht vom Fall eines Pharao im Norden. Damit könnte der König Englands gemeint sein.«

Plötzlich fühlte sich Cleo nicht mehr wohl. Es war, als hätte sich die Luft verdickt. Ihre Instinkte warnten sie, dass sie sich bald nicht mehr in der Sicherheit ihrer Unschuld wiegen konnte, wenn sie noch länger hierblieb. Sie spürte es mit jeder Faser ihres Körpers, dass sie all diese Dinge eigentlich nicht hören durfte.

Mister Brown starrte den Übersetzer entrüstet an. »Der Fall des Königs. Ja, natürlich! Sie müssen recht haben! Eine Revolution des Volkes droht! England wird im Ruin versinken, wenn der Pöbel sich gegen die Krone erhebt.«

Unwillkürlich fiel sein Blick auf Cleo und sie sah, wie sich seine Pupillen verdunkelten.

»Das müssen wir verhindern.« Mister Brown wandte sich Henry Fielding zu. »Ich verlange, dass dieses Mädchen augenblicklich in Tyburn erhängt wird. Sie darf die Nachricht dieses Aufstandes nicht unters Volk bringen.«

Cleo klappte vor Schock die Kinnlade herunter. Henry Fielding runzelte bloß die Stirn. Es brauchte viel, um diesen Mann aus der Fassung zu bringen, so viel wusste Cleo. Mister Browns Anliegen schien aber ebendies geschafft zu haben.

»Mister Brown, ich möchte Sie doch bitten!«, protestierte Henry Fielding. »In Tyburn werden nur die schlimmsten Verbrecher an den Galgen gehängt. Keine harmlosen Langfinger.«

»Die Informationen, die wir in diesem Büro geteilt haben, sind potenziell von nationaler, ja gar weltgeschichtlicher Bedeutung!«, blieb Mister Brown beharrlich.

Henry Fielding machte eine wischende Geste in Cleos Richtung. »Dieses einfache Mädchen wird am Weltgeschehen wohl kaum etwas ändern können. Es sind namhafte Männer wie Sie und ich, die das tun werden, Mister Brown. Auf meine Diskretion werden Sie zählen können. Überlassen Sie das Mädchen mir. Sie kümmern sich um diese...« Es schien, als müsse Henry Fielding die richtigen

Worte finden. »... diese düstere Zukunft.«

Einen Moment lang sahen sich die Männer in die Augen. Cleo konnte nicht glauben, dass so ein nobler Lord wie Henry Fielding tatsächlich zu ihrer Verteidigung kam, aber dankbar war sie allemal. Mister Brown hätte sie vermutlich gleich eigenhändig im Büro erhängt, wenn man ihn gelassen hätte.

»Wie Sie wünschen«, gab Mister Brown schließlich nach. »Kümmern Sie sich um die Göre, ich muss schleunigst Premierminister Pelham informieren. Wir werden dafür sorgen, dass das einfache Volk dort bleibt, wo es hingehört!«

Mister Brown warf sich seinen Mantel über die Schultern, faltete den Zettel mit der Übersetzung viermal und steckte ihn in seine Brusttasche. Dann verschwand er aus der Tür.

***

Cleo hatte gehofft, dass mit dem Abgang von Mister Brown ihre Freilassung folgen würde, doch Henry Fielding schien sein Versprechen vergessen zu haben. Er sank auf seinen Stuhl und starrte aus dem Fenster seines Büros auf die Bow Street, während er mit den Fingerspitzen der Holzmaserung seines Tisches nachfuhr.

»Sir?«, fragte Cleo vorsichtig in Fieldings Richtung. »Können Sie mich ...«

»Das Orakel wurde von einem Gott diktiert«, murmelte der Übersetzer plötzlich hinter ihr.

Er hatte sich bisher nicht von der Stelle gerührt. Sein Blick hing an den fremden Schriftzeichen, die auf dem weißen Papier hervorstachen, auf dem Cleo gezeichnet hatte. Die Worte der mysteriösen Prophezeiung verklangen allmählich aus Cleos Gedächtnis. Sie war gut darin, sich Bilder zu merken, aber das gesprochene Wort, das blieb nie lange in ihrem Kopf.

Henry Fielding drehte sich ihnen zu. »Wie bitte? Was haben Sie gesagt?«

Der Übersetzer hob den Blick und es kam Cleo so vor, als hätte sich ein Schatten über seine Gesichtszüge gelegt. »Die Prophezeiungen wurden dem Pharao vom Gott des Todes offenbart, Mister Fielding. Von Anubis.« Seine Stimme wurde mit jedem Wort leiser, sodass er am Ende bloß noch flüsterte: »Mit dem Wissen über deren Inhalt sollte mit Vorsicht umgegangen werden.«

Henry Fielding dachte einen Moment lang über die Worte des Übersetzers nach, dann brummte er: »Zur Kenntnis genommen. Wir werden über das, was wir heute erfahren haben, kein Wort mehr verlieren.«

Der Bärtige zog das Stück Papier vom Tisch, zerknüllte es in seinen Händen und ließ es in seine Tücher gleiten, dann nickte er Cleo und dem Richter zum Abschied zu.

***

Cleo hastete durch die dunklen Gassen ihrer Stadt, zielstrebig in Richtung Whitechapel. Mit Mühe und Not schaffte sie es noch, über den leblosen Körper eines Betrunkenen zu springen, der seinen Weg nicht mehr nach Hause gefunden hatte.

Sie wollte weiterrennen, doch etwas sprang ihr ins Auge und ließ sie innehalten.

Der Mantel des Betrunkenen kam ihr verdächtig vertraut vor. Sie näherte sich dem Mann am Boden und hockte sich nieder.

Ihr Herz machte einen Satz in ihrer Brust, als sie das Gesicht von Mister Brown erkannte und das Blut sah, das aus seinem Mund floss. Das Stück Papier mit der Übersetzung lag eingeweicht in einer Pfütze neben seiner Hand. Die verheißungsvollen Buchstaben darauf waren zu einer unleserlichen Mischung aus Tinte und Dreck verschmiert worden.

Cleo sprang auf die Beine und blickte um sich. Die Gasse war leergefegt

Zweimal ausgeraubt und zuletzt getötet zu werden, zeugte von wirklich großem Pech. Trotz der misslichen Lage des feinen Herrn konnte Cleo jedoch nicht anders, als vollkommene Gleichgültigkeit zu verspüren. Er hatte sie am Galgen hängen sehen wollen und er hätte sich nicht in diesen Vierteln herumtreiben sollen, wenn ihm sein Leben lieb gewesen wäre.

Cleo schnaubte, dann drehte sie sich um und hastete davon, ehe sie jemand noch des Mordes beschuldigte.

Sie war überaus müde und wollte nur noch in ihr Bett fallen, selbst wenn sie das mit ihren Geschwistern teilen musste, aber sie wünschte sich nichts sehnlicher als die Gnade eines traumlosen Schlafes.

Dieser Tag hatte nicht so geendet, wie sie es erwartet hatte.

Obwohl sie den Heimweg ohne Diebesgut antrat, wärmte ein ganzer Brotlaib die Innenseite ihrer Rocktasche. Henry Fielding hatte ihr das frisch gebackene Brot in die Hand gedrückt, bevor er sie aus seinem Büro entlassen hatte.

»Ich verlasse mich darauf, dass die Sache mit der Schriftrolle unser Geheimnis bleibt«, hatte er sie gemahnt, während der verführerische Duft des Brotes ihr in die Nase gestiegen war.

Natürlich hatte sie ihm nicht widersprochen. Sie kam aus einer Gegend, in der jede Menschenseele — wenn sie nicht am Hals einer Flasche hing — am Hungertuch nagte. Cleo war froh, dass ihre Diebstähle bislang ausgereicht hatten und sie nicht zu anderen Mitteln hatte greifen müssen. Viele junge Frauen in Whitechapel riskierten ihr Leben, indem sie ihre Körper verkauften. So weit wollte Cleo niemals gehen. Da würde sie sich lieber selbst die Hand abnagen.

Sie hatte Henry Fielding in dem Moment, als er ihr das Brot geschenkt hatte, mit Leib und Seele verabscheut. Er hatte sie lächelnd angesehen, als wüsste er genau, wie viel ein einfaches Stück Brot für sie bedeutete und wie sehr es ihre Nacht und die ihrer Geschwister verbessern würde. Fielding hatte ihr das Brot nicht aus Wohlwollen gegeben, sondern verlangte dafür einen Preis: ihre Verschwiegenheit über dieses Geheimnis, wie er es nannte.

Cleo hasste es, dass Männer wie er solche Macht besaßen. Dass Männer wie er die Stadt kontrollierten und dass sie durch die Straßen gingen, als gehörte der Boden unter ihren Füßen ihnen. Sie hasste die Oberschicht. Sie hasste Mister Brown und alle, die dazu gehörten und obwohl sie gewiss nicht abergläubisch war, hoffte sie innerlich doch sehr, dass diese geheimnisvolle Prophezeiung eines Tages wahr werden würde, damit sie irgendwann wirklich selbst über ihr Schicksal bestimmen durfte und nie wieder von Aristokraten und ihrer trügerischen Großzügigkeit abhängig sein musste.

Bis dahin würde sie wie jeden anderen Tag um ihr Überleben kämpfen.

Deswegen und alleine deswegen hatte sie nach dem Brot gegriffen und dem Richter versprochen, dass Geheimnisse in den Händen einer Diebin immer sicher seien, denn eines hatten sie gemeinsam: Sie wollten beide nicht entdeckt werden.

Von: FleurDeCel


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