➺ 6.✍︎
𝓟𝙰𝚁𝚃𝙽𝙴𝚁 𝙸𝙼 𝓚𝚁𝙸𝙴𝙶
⚬━━━━━━━━━━━━━━━━━━━━━⚬
♢♢♢♢
🄽och Stunden nachdem Silvius gegangen war, saß ich unbewegt auf dem Bett, das, wie so vieles hier, einst meiner Mutter gehört hatte, und versuchte, die klaren Gedanken zurück in meinen leeren Kopf zu locken. Meine Wangen waren von einem Film getrockneter Tränen überspannt, den ich langsam mit Bewegung meiner steifen Kaumuskulatur einreißen ließ.
Ich hatte mich immer für ein starkes Mädchen gehalten. Für emotional strapazierbar und relativ furchtlos. Doch in kürzester Zeit war ich hier eines Besseren belehrt worden. Nicht nur das Wunderland hatte mich austicken lassen, auch Silvius hatte es soeben geschafft, mich wie ein Kleinkind zum Heulen zu bringen. Es war dieses Gefühl der Ratlosigkeit gewesen, das mich übermannt hatte. Die Verzweiflung, nicht zu wissen, was man tun sollte, gepaart mit dem Drang, etwas tun zu müssen.
Vielleicht war auch einfach alles zusammengekommen, das ich in den letzten Tagen in mir aufgestaut hatte: das Internat, das Verlassenwerden, die Alpträume, die Realität wurden. Dann diese verrückte, neue Welt, die sich mir aufzwang und die Geschichte meiner Mutter, die den Ball nun mir zuspielte und erwartete, dass ich losstürmte, Hindernisse ausdribbelte und ein Tor schoss. Nur wollte ich kein Tor schießen. Ich wollte nicht mal losstürmen oder dribbeln. Nein, ich wollte den Ball stehen und liegen lassen und den Platz verlassen, wie ich es immer getan hatte. Weglaufen. Aufgeben. Beziehungsweise alles vermeiden, das mich eventuell dazu bringen würde, aufzugeben oder zu verlieren. Mich einfach aus allem raushalten. Jetzt, wo ich das retrospektiv reflektierte, war das alles andere als furchtlos.
Mit einem schweren Ausatmen vergrub ich mein Gesicht in den Händen, ehe ich mich aufraffte und im Bad mit kühlem Wasser aufweckte. Anschließend starrte ich auf mein Spiegelbild und fragte mich, ob ich mich in meinem Leben überhaupt je irgendeiner Herausforderung gestellt hatte. Ich beklagte mich stets, wie langweilig und öde doch das Leben war, dabei war ich es, die es passiv an sich vorüberziehen ließ. Wenn ich wirklich Aufregung und das Abenteuer suchen würde, dann wäre diese Detektei und alles, wofür sie stand, ein wahrgewordener Traum. Doch stattdessen fühlte ich mich von ihr gestört. Gestört in der Bequemlichkeit meines ach so öden Alltags. Und da wurde mir klar, dass mein Genörgel nichts als leere Beschwerde gewesen war. Denn jetzt, als Aufregung in mein Leben trat, wagte ich das Abenteuer nicht.
Sicherlich war ich nicht die Einzige, die große Reden schwang, um die Schuld für das aufregungslose Leben woanders zu suchen. Doch die Erkenntnis über mich selbst enttäuschte mich ungemein. Das Gesicht, das mich im Spiegel anstarrte, schien nicht mehr das meine zu sein und als ich zurück ins Zimmer ging, zu dem Gemälde meiner Mutter sah, war sie nicht länger die Einzige, die für mich eine Fremde war.
Ihre Geschichte, meine Geschichte, schien so weit entfernt. Mein innerer roter Faden hatte sich so sehr zu einem festen, verknoteten Knäuel verflochten, dass ich ihn verloren hatte.
Diese magische Welt wuchs mir über den Kopf. Ich war geblieben, weil ich neugierig gewesen war, weil ich mehr über mich und meine leibliche Familie hatte erfahren wollen. Jetzt kannte ich die Wahrheit und sie hatte sich als riskant und gefährlich entpuppt und ich mich als zu feige.
Warum konnte ich nicht wie andere Menschen eine Geldsumme, ein Grundstück oder ein paar alte Möbel erben? Warum musste es gerade für mich so etwas abgedrehtes sein?
Das Erbe eines magischen Wappens, das mich als Feind eines verborgenen Ordens brandmarkte, der realgewordene Bücher versiegelte und bewachte. Eines Ordens, der einst mit Stolz und Ehre in seiner Aufgabe aufgegangen und inzwischen eine Ruine seiner selbst war. Von innen verraten, vergiftet, verrottet.
Silvius meinte, dass diese Ruine mich bräuchte, um sich wieder aufzurichten. Doch was sollte ich schon tun? Diese Welt war mir fremd, ich wusste nichts von ihr und gleichzeitig wollte sie mich tot sehen. Wie half man etwas, dem man am besten nicht zu nahekam?
Ich empfand keine Hingabe, keine Pflicht für diese Welt, die es rechtfertigen würde, mein Leben für ihre Rettung aufs Spiel zu setzen. Sicher, ich könnte bleiben, mich auf sie einlassen und zulassen, die fehlende Hingabe zu entwickeln, aber was ich heute über mich selbst gelernt hatte, war, dass ich tief in meinem Inneren ein Angsthase war und mich auf nichts wirklich einließ. Besser ich ging, solange ich noch konnte.
Zuvor nicht gewusst, was ich tun sollte, machte ich es mir einfach und tat das, was ich offenbar am besten konnte: Weglaufen.
Es wurde draußen bereits dunkel, als ich den Entschluss fasste, die Sachen zu packen und von hier zu verschwinden. Wenn steinige Wege nichts für mich waren, dann dieser, den Silvius für mich vorsah, erst recht nicht. Der war nämlich nicht nur steinig, er ging auch steil bergauf.
Ich sah mich um, nur um festzustellen, dass ich ja gar nichts in diesem Raum, geschweige denn in diesem Gebäude, besaß. Streng genommen waren nicht einmal die Klamotten, die ich am Leibe trug, mir. Alles war auf Schloss Pauli zurückgeblieben. Meine ganze Reisetasche, samt Handy und Portemonnaie. Aber in das Gelände dieses verfluchten Internats würde ich sicher nie wieder einen Fuß setzen, da bekamen mich keine zehn Pferde mehr hin.
Scheiß drauf, sagte ich mir. Ich musste ohnehin mit Silvius reden. Ich würde ihn um etwas Geld für den Bus bitten und sobald ich in Köln war, würde ich schon irgendwo unterkommen. Graue Mäuse kamen zurecht, die Straßen einer Großstadt waren ihr zuhause, dort konnten sie unbemerkt in der Masse untergehen.
Auf dem Weg zum Flur machte ich ein letztes Mal vor dem Gemälde meiner Mutter halt und sah schuldbewusst zu ihr auf.
„'Tschuldige...", war die einzige Erklärung, die ich für sie hatte, dann schluckte ich schwer und verließ das Zimmer.
Der Gedanke an das bevorstehende Gespräch mit Silvius bereitete mir ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. Wieder einmal würde ich unfair zu ihm sein und all seine Bemühungen mit Füßen treten. Er hatte Jahre seines Lebens geopfert, um das Versprechen, dass er meiner Mutter gegeben hatte, zu erfüllen. Hatte sich einen abgelegenen Ort gesucht und alles getan, um mir eine Rückkehr in die Welt zu ermöglichen, in der meine Vorfahren einst einen Platz gehabt hatten. Wollte mir helfen, mir jenen Platz wieder zu erkämpfen. Und ich wollte all das einfach ablehnen und ihn damit zurücklassen. Ihn mit der Geschichte meiner Mutter und dieser ganzen Welt vergessen und weitermachen, wie bisher.
Selbstredend, dass ich für dieses Gespräch keine Vorfreude empfand. Am besten machte ich es kurz und schmerzlos, riss es herunter wie ein Pflaster.
Auf meiner Suche nach dem Magister streifte ich durch das Wohnzimmer und lugte in den Raum, in dem wir heute morgen gefrühstückt hatten, doch keine Spur von ihm. Der letzte Ort, der mir aus diesem Gebäude bekannt war, war die Bibliothek, in der ich ebenfalls nur den Weste-tragenden Bären, Ozias, vorfand. Er bemerkte mich im Türrahmen und sah mit seinem Monokel von einem Buch auf.
„Guten Abend, Miss Lorien, alles in Ordnung?", brummte er freundlich bei meinem verlorenen Gesichtsausdruck und ich nickte nur.
„Ich suche Silvius."
„Der ist wahrscheinlich in seinem Büro", riet Ozias. „Im Wohnbereich liegt hinten, links an Sofas und Kamin vorbei, ein weiterer kleiner Flur. Silvius' Büro ist der einzige Raum dort, Ihr könnt es nicht verfehlen."
Ich bedankte mich knapp, war froh, dass er mich nicht weiter aufhielt und steuerte über den Gang mit den ganzen Gemälden zurück ins Wohnzimmer, um nach dem Flur zu suchen, den Ozias mir soeben beschrieben hatte. Mir gegenüber lag die Tür zum Esszimmer, links war der Eingangsbereich und rechts die Couches vor dem Kaffeetisch. Der Kamin dahinter war mir noch gar nicht richtig aufgefallen, aber ich war schließlich während meiner letzten Aufenthalte in diesem Raum mit anderen Dingen beschäftigt gewesen.
Jedenfalls behielt der Bibliothekar Recht: an der linken Seite der rechten Wand umrahmte ein Holzbogen eine Aussparung der Mauer, die mich auf einen kleinen Hinterflur führte. Mittig erkannte ich eine einsame Tür, durch deren spaltbreite Öffnung Stimmen drangen. Silvius und Atticus schienen mal wieder eines ihrer energischen Gespräche zu führen, doch diesmal klangen beide Gemüter erhitzter. Der allgemeine Tonfall war laut und schneidend — die beiden stritten. Über mich.
Keine Ahnung, woher Atticus das letzte Mal gewusst hatte, dass ich vor der Tür stand und lauschte, aber das war mir gerade egal. Wenn sie nicht wollten, dass man zuhörte, sollten sie anfangen, ihre Türen richtig zu schließen.
„...ist wichtig", beendete Silvius gerade einen Satz, bevor er sogleich einen neuen begann: „Sie muss ihr Wappen vollenden, lernen, ihre Gabe zu kontrollieren, wenn sie in dieser Welt bestehen will. Sie zu einer Hüterin auszubilden ist der einzige Weg."
Wenn ich nur in dieser Welt bestehen wollen würde...
„Sie ist primitiv, tölpelhaft und obstinat. Und ganz sicher kein Gewinn für diese Detektei. Geschweige denn für mich: Ich brauche keinen Partner und erst recht keinen untalentierten Neuling wie sie", trat mir Atticus gnadenlos in die ohnehin schon aufgewühlte Magengrube. Ich hatte keinen Plan, was obstinat überhaupt bedeutete, aber primitiv und tölpelhaft hatte ich verstanden, also schloss ich vom Kontext, dass es nichts Positives war. Sein Tonfall unterstrich diese Vermutung.
Na vielen Dank auch. Atticus Hawtrey hinter mir zu lassen und zu vergessen, würde mir eine Freude sein.
„Atticus, sie ist eine Hazy. Die Hüterpflicht ist ihr vorherbestimmt", wurde Silvius eindringlicher, doch seinem Gegenüber war das gleichgültig.
„Und wenn sie die Königin von England wäre!"
Nun wurden beide lauter.
„Ihre Gabe zu verschwenden wäre Wahnsinn! Eine Straftat! Du hast keine Ahnung, was in den Reihen des Ordens vorgeht, wir brauchen sie!"
„Wir? Seit wann gibt es in der Sache ein wir?", zischte Atticus aufgebracht. „Mir liegt nichts am Orden. Er wollte mich nicht mehr, hat mich hier auf diesen Gnadenhof versetzt wie ein ausgemustertes Nutztier — Dein Orden kann mich mal."
Zuvor hatte ich den Hüter nur für ausnahmslos unfreundlich und pietätlos gehalten, doch in diesem Moment offenbarte sich mir eine tieferliegende Facette. Nicht nur seine Stimmfarbe wurde darin getränkt, ich erkannte sie selbst durch den schmalen Türspalt an den zuckenden Muskeln seines Kiefers, den weiß hervortretenden Knöcheln seiner geballten Fäuste und der vernarbten Wut seiner gesamten Haltung: Die tiefe Verbitterung.
Plötzlich strahlte sie wie die Sonne als Mittelpunkt seiner gesamten unwirschen Aura und ich war sicher, würde die Sonnenbrille sie nicht verdecken, würde sie sich sogar in seinen seltsam blinden Augen spiegeln.
Ich hatte schwach in der Ferne den Egoismus in meiner Mutter gespürt, die Ketten der Gesellschaft, die sich um Cecilia Graf wanden, aber so deutlich war mir der Kern einer Figur im Drama des Lebens noch nie erschienen. Diese Verbitterung... es war, als könnte ich sie sehen.
Ja, Atticus Hawtrey war eine verbitterte Gestalt. Jede Schönheit in Kälte vereist, jede Güte in vergangener Tragödie erstarrt. Kein buntes Hemd der Welt konnte das kompensieren. Und ich fragte mich, was einen Menschen wohl so verdarb.
„Der wahre Orden, wie er einst existierte, hätte das nie getan. Das und so vieles nicht. Ich will ihn wieder aufleben lassen. Lorien Hazy ist einer der Schlüssel, die ich dafür brauche. Im Interesse aller, im Interesse ihrer Vorfahren und ihrer Mutter, die ihr Leben dafür gaben", löste mich Silvius von dem blonden Hüter, der sich weiterhin nicht überzeugen ließ.
„Was habe ich damit zu tun? Ich bin nicht hier, um dein gebrochenes Herz zu rächen."
„Wenn der Orden zerfällt, hat ein jeder damit zu tun! Ich dachte, du wolltest mir mit ihr helfen!"
„Richtig, helfen, sie hier zu verstecken, damit du auf sie aufpassen kannst. Es war nie die Rede davon, sie zur Hüterin auszubilden und erst recht nicht, sie mir an den Hals zu hängen!"
Ich hatte genug gehört. Es war Zeit, dazwischenzugehen. Schließlich konnte ich Atticus beruhigen, sein Problem würde sich mit meinem Fortgang in Luft auflösen. Ich atmete tief durch, fasste mir ein Herz und trat dann entschieden ein. „Keine Sorge, dir wird niemand an den Hals gehängt."
„Lorien!", stieß Silvius überrascht aus, während ich unbeirrt fortfuhr: „Ich werde gehen. Zurück nach Köln. Zurück in mein altes Leben."
Perplex starrte der Magister mich an. Ein Zucken der Lippen gepaart mit einem Blinzeln zu viel verriet ihn in seiner verzweifelten Suche nach Worten. Ich hingegen presste bußfertig die Lippen aufeinander und hoffte, dass keine weiteren von mir nötig waren. Ein unrealistischer Wunsch.
„Lorien ich... ich weiß, dass das alles viel für dich sein muss...", setzte er nach einer unangenehmen Pause an und traf den Nagel auf den Kopf, obwohl es inzwischen eine alte Leier war. Beruhigend eine Hand erhoben trat er hinter dem Mahagoni Schreibtisch hervor und näherte sich mir wie einem scheuen Reh. „...Aber hier in dieser Detektei bist du am sichersten, auch, wenn es sich nicht danach angehört hat."
„Hat es nicht, nein...", murmelte ich.
„Ich weiß, ich weiß. Ich habe viel auf dir abgeladen, ich wollte ehrlich mit dir sein. Aber bitte glaube mir, Lorien, du darfst nicht gehen."
„Wieso? Weil du mich brauchst, um euren Orden wieder aufzupäppeln?", wurde ich unsachlich. Ich fühlte mich bereits in die Ecke gedrängt, dabei hatten wir kaum Worte gewechselt. Meine Hände suchten vorn nach der üblichen Kängurutasche, nur trug ich keinen meiner üblichen Hoodies, sodass meine Finger ins Leere griffen und schließlich unruhig mit dem Saum des dürftigen Leinenhemd-Ersatzes zu spielen begannen.
„Nein, nein ich...", stammelte er, kam aber nicht weit.
„Ich finde, Matt Murdock hier hat Recht. Ich gehöre nicht in diesen... Hüter-Kram", unterbrach ich Silvius direkt und fuchtelte dabei ein wenig unbeholfen herum. „Mir ist das alles zu viel. Ja, du siehst das anders, wegen meiner Vorfahren, dem Wappen und weiß der Himmel, aber wir kennen uns kaum. Du kennst mich nicht. Und ich kenne dich nicht und ihn nicht und meine Mutter kannte ich auch nicht..! Ich—..."
Ich brauchte eine Pause, um Luft zu holen und mich zu sammeln.
„Ich kann das nicht."
„Wir kennen uns noch kaum, das ist wahr, aber gib mir eine Chance, Lorien. Lass mich dir helfen, hier deinen Platz zu finden. Deine Gabe zu nutzen. Eine Hazy zu sein."
„Wie meine Mutter, ja?", warf ich ihm etwas unsensibel an den Kopf. „Ich will nicht enden wie sie."
„Das wirst du nicht", blieb er trotz dessen ruhig, „der Orden wird nicht von dir erfahren."
„Kannst du's garantieren? Dass der Orden mich nicht finden wird? Kannst du garantieren, dass mir nichts passieren wird?"
Da schluckte Silvius schwer. Was sollte er darauf auch sagen? Das war keine faire Frage gewesen. Ich kannte die Antwort bereits.
„Nein."
Nein, natürlich nicht. Alles andere wäre eine Lüge gewesen, das wussten wir beide. Trotzdem sah ich, wie es den Magister schmerzte, mir diese Antwort zu geben.
„Dachte ich mir..."
Mit einem getrübten Nicken wandte ich den Blick ab. Meine zusammengepressten Lippen wanderten aufeinander hin und hier.
„Ich möchte zurück nach Köln in mein altes Leben ohne gruseligen Orden, Hüter oder Buchwelten", brachte ich letztlich kleinlaut mein holpriges Anliegen vor, „bitte."
Ich stellte mich Silvius' Ausdruck. Er war schwer getroffen, wusste nicht, was er sagen sollte. Ich merkte, wie sehr er mich zum Bleiben bewegen wollte, aber keinen Weg der Überzeugung fand. Er stieß bei mir auf Betonwände, dem war er sich bewusst, ebenso wie ich, die sie vor sich aufzog. Ich sah das qualvolle Déjà-vu, das vor seinen Augen vorbeizog. Er musste erneut erleben, wie ihm eine Hazy wie Sand durch die Finger rann, ohne, dass er sie fassen und aufhalten konnte. Es tat mir unendlich leid, meiner Mutter in diesem einzigen Punkt so ähnlich zu sein. Ihm dasselbe anzutun, wie sie einst, obwohl er alles für uns gegeben hätte.
Als Silvius es schaffte, sich für den Moment zusammenzureißen, nickte er bitter. Er suchte hinter sich am Schreibtisch Halt, bevor er in brüchiger Stimme zusagte: „Ich kann dich nicht zwingen. Wenn das dein Wunsch ist, werde ich dir nicht im Wege stehen."
Ich sah im Augenwinkel, wie sich die Schäfchen auf Atticus' hellblauem Hemd bewegten, als er seine Schachtel Zigaretten hervorkramte. Bisher ungewöhnlich passiv, meldete er sich nun wieder.
„Na dann wäre das ja geklärt", schloss er trocken, steckte sich eine Zigarette in den Mund und ließ es sich nicht nehmen, mir noch ein ironisch schmuckloses, „Gute Fahrt", nachzuwerfen, während er das Büro verließ. Dann war ich mit Silvius allein.
Es herrschte Schweigen. Nur das Pendel der wuchtigen Standuhr am Rande des Zimmers schlug einen metronomischen Takt. Irgendwann seufzte der Mann, fuhr sich über die Stirn und ließ sich hinter seinem Schreibtisch auf den Lederstuhl fallen.
„Bleibe wenigstens noch die Nacht. Du solltest nicht im Dunkeln gehen. Morgen früh zeige ich dir die nächste Haltestelle."
„Danke", brachte ich heiser zustande, „ich... ich bräuchte auch ein wenig Geld für die Fahrt. Meine Sachen sind alle auf Pauli geblieben..."
Silvius sah mir entgegen und nickte mit einem schweren Lächeln — in seinen Augen nichts als traurig enttäuschte Hoffnungen, die er nicht vor mir verstecken konnte.
Das Herz wie ein Stein in meiner Brust wandte ich mich ab und verließ langsam das Büro. Ich fühlte mich furchtbar. Beschissene Pflaster. Sie ließen sich ja doch nie richtig abreißen und wenn, dann brannten sie trotzdem.
„Hey Lory!", ertönte hinter mir ein für meine Laune viel zu freudiges Stimmchen, als ich den Gemäldeflur betrat. Voller Sehnsucht huschte mein Blick den Gang hinunter zur Tür meines Zimmers. Meines schön leeren, einsamen Zimmers, in das ich mich nur noch bis zum Morgen verkriechen wollte.
„Lory!", erreichte mich Evelle und zwang mich, den Blick von meinem friedlichen Erdloch abzuwenden. „Ist doch okay, dass ich dich so nenne, oder? Ich meine, ich kann mir auch etwas anderes ausdenken... Lore, Riry, Reni..."
„Lory ist okay", unterbrach ich ihr Geplapper und sie begann zu strahlen.
„Wie auch immer. Wie wäre es mit einem super-duper Mädelsabend, Chéri?"
Super-duper Mädelsabend? Ich hatte ja keine Ahnung, dass man Cecilia Grafs DNA extrahieren, ihre furchtbar quirlige Art konzentrieren und das ganze Gebräu zu einer bunten Fee formen konnte. So oder so bekam ich das Grauen bei dieser Frage und gerade heute hatte ich wirklich nicht die Kraft, das ihr zuliebe durchzustehen.
Mit wackelnden Brauen und erwartungsvoll tänzelnden Schultern sah die Schneiderfee mich an, nichtsahnend, dass sie die Nächste sein würde, die ich enttäuschen musste.
„Weißt du, ich bin echt fertig... Silvius hat mir so viel erklärt und gezeigt und..."
„Oh, entschuldige, natürlich", meinte sie sofort, „ich dachte, du bräuchtest vielleicht eine kleine Aufmunterung, aber eine knallgelbe Sonnenblume mit Flügeln ist momentan noch nicht das Richtige, hm?"
Sie nahm es locker, mit Humor, und ließ ihre Flügel demonstrativ aufflattern. „Ich wollte dich nicht überfordern."
„Nein, alles gut. Das war... echt lieb", druckste ich herum, zu feige, ihr die Wahrheit zu sagen.
„Das läuft uns ja nicht weg. Dann ein andermal", meinte sie unbekümmert und schlenderte in Richtung Wohnzimmer. „Bis morgen."
Sie schenkte mir ein breites Lächeln, ehe sie sich durch den Türrahmen schwang, und mich verbissen meinen Weg fortsetzen ließ.
Bis morgen...
Tja, einen Morgen würde es nicht geben. Doch ich hatte es nicht übers Herz gebracht, ehrlich mit ihr zu sein. Sie hatte sich so sehr gefreut, endlich eine zweite Frau im Haus zu haben und so resolut ich sonst auch war, die stoische Freundlichkeit der meisten Bewohner dieser Detektei machte mich irgendwie weich.
Hastig spornte ich meine Schritte an, um ja niemandem mehr auf meinem Weg gegenübertreten zu müssen und verbarrikadierte mich im an mich weitergereichten Zimmer meiner Mutter. Ich zwang mich, einmal tief einzuatmen.
Keine Panik. Morgen früh sackst du schnell dein Reisegeld ein und verschwindest heimlich.
Kopfschüttelnd schmiss ich mich auf das Bett. Mann, war ich ein Feigling.
ᚐᚐᚐᚐᚐᚐᚐᚐᚐᚐᚐᚐᚐ✍︎
Ohne eine Beschäftigung hatte sich mein Gedankenkarussel unaufhörlich gedreht, bis mir schwindelig wurde. Selbst in dem Zimmer hatte ich mich nicht allein und erleichtert gefühlt. Wie auch, wenn die eigene Mutter an der Wand hängt und einen unverwandt anstarrt. Und das mit einem Blick, in den ich nichts als Kritik hineininterpretierte, obwohl es wohl eher meine eigene war, die ich projizierte.
Zudem umgab das Gebäude der Detektei eine penetrante Stille, die ich aus der Stadt nicht kannte. Bereits auf Pauli hatte mir das Stadtrauschen im Hintergrund gefehlt, doch nun, wo ich dalag und hoffte, endlich einzuschlafen, drängte sich mir diese abgeschiedene Stille regelrecht auf. Es hatte so weit geführt, dass ich das Fenster aufgemacht hatte, um frische Luft hereinzulassen und mir wenigstens die Grillen und die Eule anzuhören, die draußen die Nacht zum Tag machten.
Ich hatte keine Ahnung, wo sich dieses Gebäude befand. Ich war auf Pauli in ein Buch gesprungen und weiß der Himmel wo wieder herausgekommen. Allerdings musste es mindestens so weit draußen liegen wie das verfluchte Internat, denn es umgaben die gleichen Wiesen, die gleichen Waldstreifen und die gleiche, nervtötende Stille, die das Land so mit sich brachten.
Zum gefühlt hundertsten Male wälzte ich mich in den Federn des übergroßen Bettes herum, fand einfach keine gemütliche Position oder den Hauch von Ruhe. Die Rastlosigkeit in mir erinnerte mich an meinen letzten Abend auf Pauli, als ich auch dort versucht hatte, einzuschlafen, um am frühen Morgen den Bus zu nehmen. Die Umstände waren anders, mein Ziel dasselbe. Ebenso mein erfolgloser Schlaf. Immer mal wieder rutschte ich in einen unruhigen Schlummer, viel zu seicht, als dass er Erholung brächte. Und die letzte Schlummerphase endete in einem wirren Traum.
Ich befand mich auf einer von Tannen gesäumten, breiten Straße. Nebel erschwerte die Sicht, doch in der Ferne machte ich ein dumpfes Licht aus. Ich bewegte mich darauf zu. Der Geruch nach nassem Asphalt stieg mir in die Nase und vermischte sich mit den stechenden Schwaden eines Gemischs aus Öl und Ruß. Bald darauf, die Straße abwärts, erkannte ich, dass die olfaktorische Mixtur zum Diesel-Auspuff eines großen Buses gehörte und das Licht zu seinem blinkenden Haltezeichen.
Ein Bus!
Ohne nachzudenken, begann ich zu rennen, erwischte ihn in letzter Sekunde und stieg schwer atmend ein. Die Türen schlossen sich hinter mir und eine tiefe Erleichterung überkam mich, bei dem Gedanken, nun endlich nach Köln zu kommen. Doch als ich aufsah, befanden sich im Innenraum des Gefährts keine Sitzplätze, keine Fenster und auch keine Stangen zum Festhalten, sondern Regale mit unzähligen Büchern. Aus unzähligen, unsichtbaren Augen schienen sie mich anzustarren, etwas von mir zu erwarten. Sie zogen mich zu sich, erweckten Panik in mir. Mein Instinkt wollte fliehen, aber meine Füße waren schwer wie Blei und bewegten sich keinen Zentimeter. Dazu gesellte sich das Flüstern etlicher Stimmen, die durch die verzerrte Bibliothek des Buses waberten und mir den Kopf zermarterten. Ich kannte dieses Flüstern bereits aus meinen früheren Träumen, trotzdem machte es mich verrückt.
Nein! Nein, lasst mich in Ruhe!, schrie ich fieberhaft, während der Bus ruckeltet und ratterte. Bücher fielen mir entgegen. Ich versuchte, sie von mir fernzuhalten, indes löste sich eine Stimme vom unverständlichen Rest. Erst verstand ich sie nicht, doch dann wurden ihre Worte klarer und klarer.
„Heh!", drang sie in dumpfen Wellen über das Flüstern, wischte es hinfort und ließ den grotesken Bus um mich herum verblassen.
„Heh, Missy! Was glaubst du, was du da tust?"
Nun verstand ich sie klar und deutlich. Blinzelnd wurde ich wach und sah auf alte Bücherregale mit Bänden, auf deren Rücken leuchtende Siegel glänzten. Ich kannte sie. Eben noch unruhig in meinem Bett gelegen, stellte ich nervös fest, dass mich nicht länger die weichen Laken meiner Matratze umgaben, sondern die büchergesäumten Wände der Detektei-Bibliothek.
Ich fröstelte und Gänsehaut bildete sich auf meinen nackten Beinen, die unter dem weiten Leinenhemd herausragten, das ich am Leibe trug. Die freie Haut meiner Fußsohlen ertastete den rauen Holzboden.
„Heh, Missy, ich rede mit dir."
Mein Blick wandte sich zur Tür, als die Stimme, die mich aus meinem Traum gezogen hatte, erneut an mein Ohr drang. Schroff und ungeduldig. Auch ohne meine Augen hätte ich gewusst, zu wem sie gehörte. Atticus stand im Türrahmen, die Arme genervt vor der Brust verschränkt.
„I-Ich weiß nicht...", kam es heiser aus meiner trockenen Kehle, „ich... lag im Bett... und dann dieser Traum... und jetzt..."
Ich war völlig verwirrt und mein Kopf noch nicht ganz wach. Auf einmal fiel mir auf, dass sich meine Hände ungewöhnlich schwer anfühlten und als ich hinabsah, erkannte ich auch, wieso: ein Buch lag in ihren Flächen, aufgeschlagen und mit geschwungenen Buchstaben, die vor meinen Augen zu tanzen schienen. Ihre pendelnden, drehenden Bewegungen vereinnahmten mein Bewusstsein wie ein Mentalist, der sein Bühnenopfer in Trance versetzt. Ich hatte Mühe, ihrer Anziehung zu widerstehen. Einzig und allein die plötzliche Erkenntnis, was im Begriff war zu geschehen, ließ mich standhalten.
Ich war dabei, in ein Buch zu fallen!
Ich spürte diesen Sog, der mich in die Schwerelosigkeit lockte und sah die geschriebenen Zeilen, die sich vom Papier lösten und sich um meinen Körper wickelten. Ich wollte das Buch loslassen, es von mir schmeißen, doch meine Hände gehorchten nicht und klammerten sich wie festgefroren um den Einband.
„Oh nein, nein, nein...!"
Als auch Atticus kapierte, was geschah, hechtete er auf mich zu. In wenigen großen Schritten war er bei mir, entriss mir das Buch und warf es zu Boden. Der Sog aber war bereits zu stark. Anstatt zu unterbrechen, zog er mich stolpernd hinterher, bis sich Atticus' Arm grob um meinen Körper schlang und mich ruckartig aufhielt. Wie der Bügel einer bremsenden Achterbahn gruben sich Elle und Speiche unter meinen Rippenbogen. Kurz blieb mir die Luft weg, doch als ich zur Besinnung kam, stemmte ich mich mit aller Kraft gegen die Anziehung des Buches, die an meinen Gliedern zerrte. Auch Atticus behielt mich weiter im Griff und versuchte, mich von ihr zu lösen. Doch als es uns endlich gelang, riss sie von mir ab wie ein peitschendes Gummiseil.
Die ganze aufgebrachte Kraft wandte sich ohne Widerstand schlagartig gegen uns. Wir stolperten zurück und kollidierten unter gehöriger Wucht mit einem Bücherregal. Die Bretter unter den vielen Wälzern gaben nach, kippten und begruben uns in einer Lawine aus Leder und Papier. Schützend die Arme über den Kopf gehalten, gab es keine Verletzungen außer vielleicht ein paar blaue Flecken, nichtsdestotrotz machte das Missgeschick einen gehörigen Lärm, der durch die gesamte Detektei gehallt sein musste. Denn wenig später schneiten nach und nach alle Bewohner zur Tür herein, die Gesichter von schlaftrunkenem Schrecken gezeichnet.
Ozias war der Erste, der hektisch in seine Bibliothek hineinwuchtete, alle Alarmglocken aktiviert. Seine runden Kugelaugen wirkten durch die aufgerissenen Lider noch größer und seine Ohren standen stramm wie zwei kleine Soldaten in Habachtstellung.
„Ach du lieber Hering!", stieß er beim Anblick des angerichteten Chaos aus, schlug die Pranken über dem Kopf zusammen und drückte dabei die grüne Schlafmütze platt, die er passend zu seinem grün-gestreiften Pyjama-Oberteil auf dem Kopf trug.
„Was ist los?! Entflohene Fiktive?! Einbrecher?!", brach hinter ihm eine hysterische Schneiderfee herein, die Hände überraschend mutig um einen gusseisernen Schürhaken geklammert. Ihre Flügel flatterten angespannt und ihrer wilden Frisur war zu entnehmen, dass der Lärm auch sie aus dem Schlaf gescheucht haben musste.
Silvius traf als Letzter ein, drängte sich an den schrägen Figuren seiner Mannschaft vorbei in die vordere Reihe und bekam beste Sicht auf das Spektakel. Seine Brauen wanderten in die Höhe.
„Wollt ihr mir verraten, was ihr hier so spät in der Nacht treibt?"
Ich spürte Hitze in meine Wangen steigen, wo alle dastanden und beäugten, wie ich halbnackt rücklings auf Atticus lag, doch der Hüter schien sich nicht im Geringsten um mich zu scheren. Er ließ mir weder Zeit, mich aufzurichten, noch half er mir dabei. Im Gegenteil, er schaffte sich die Bücher beiseite und stand ungalant auf, schüttelte mich ab wie lästigen Staub, sodass ich zur Seite rollte und auf meinen Bauch plumpste. Verdrossen schürzte ich die Lippen.
„Gerne", antwortete Atticus derweil dem Magister, ein säuerlicher Beigeschmack in der Stimme, „dein gerettetes Häschen wollte wieder in die Bücher hoppeln und ich musste Tierfänger spielen. Du solltest besser auf das kleine Biest aufpassen."
„Das war keine Absicht..!", japste ich empört und stemmte mich etwas wackelnd auf die Beine. Zwei Bücher rutschten dabei von meinem Rücken, schlugen dumpf zu Boden und untermalten meine unbeholfenen Bewegungen. Ozias zuckte für jedes seiner feinsäuberlich versiegelten Werke zusammen, bis er es nicht mehr aushielt, an uns vorbeieilte und begann, sie voller Mitleid und Sorge aufzusammeln. Ihn schien es vorrangig zu kümmern, ob es den gestürzten Büchern gut ging und überließ uns dem Magister. Der wiederum seufzte schwer, trat zur Seite, um uns Platz zu machen und bedeutete uns mit einer Armbewegung zur Tür, dass wir das woanders klären würden. „Gehen wir ins Wohnzimmer. Hier wurde schon genug Chaos angerichtet."
Misslaunig marschierte Atticus voraus und ließ mich versteift hinterhertrotten. Unter meinen nackten Füßen spürte ich, wie ich dabei auf etwas Kleines drauftrat. Ich hob die Sohle an und sah, dass es sich um eine Handvoll Gänseblümchen handelte, geplättet durch mein Gewicht.
Wo waren die denn hergekommen? Ich strich sie an meiner Wade ab und ging verwirrt blinzelnd weiter.
„Entschuldigt", wandte Silvius sich noch an den Bären und die Fee, bevor er uns folgte, „legt euch wieder schlafen, wenn die Bücher zurück an ihrem Platz stehen. Eve, würdest du Ozias schnell zur Hand gehen?"
Die Schneiderfee nickte es als Selbstverständlichkeit ab und symbolisierte ihm, die ramponierte Bibliothek ruhig ihnen zu überlassen. Silvius und Atticus waren beide schon im Wohnzimmer verschwunden, als sie mich noch einmal aufhielt.
„Warte, Chéri", ergriff sie meine Schultern und ließ mich verharren, während sie in einem der Schlafzimmer verschwand und kurze Zeit später mit einer Hose für mich zurückkehrte.
Ein schwaches, dankbares Lächeln bildete sich auf meinen Lippen, welches sie wohlwollend erwiderte, mir ermutigend auf den Rücken klopfte und dann zu Ozias Hilfe flatterte.
Froh, mich dem Magister und seinem grimmigen Handlanger nicht länger in Hemd und Unterhose, stellen zu müssen, zog ich sie zügig über, fuhr mir bei dem Gedanken an Evelles punkige Kissen-Frisur einmal ordnend durchs Haar und trat schließlich zu den anderen ins Wohnzimmer.
„Na wundervoll, mein Smoking ist ruiniert", beschwerte sich Atticus gerade über einen weiten Riss am Rücken seines edlen, schwarzen Jacketts, das er im Dreiteiler zu einer tiefen, rund ausgeschnittenen Weste trug. Sogar eine Fliege saß am Kläppchenkragen seines weißen Hemdes und ließ in mir die Frage aufkeimen, warum er zu dieser Zeit im Smoking herumlief. Er musste am Bücherregal hängen geblieben sein und ihn sich aufgerissen haben, aber wieso war er im Gegensatz zum Rest der Bewohner überhaupt wach gewesen? Es war mitten in der Nacht. Was hatte er in der Bibliothek gewollt? Und dazu in einem altmodischen Smoking?
„Wer läuft tief nachts auch im Smoking durch die Gegend", konnte ich mir einen mürrischen Kommentar nicht verkneifen und bekam sogleich den Konter.
„Wer spaziert im Schlaf auch zu Lasten aller in Bücher hinein!", zischte er und ich verengte böse die Augen.
„Ach halt die Luft an, als könnte ich etwas dafür! Ich schlafwandle nicht freiwillig, aber du bist freiwillig ein aufgeblasener, im Smoking pennender Idiot."
„Pssht, hörst du das?", fingierte er verächtlich und hob zu seinem Schauspiel eine Hand an sein Ohr. „Ich glaube, dein Bus kommt. Vielleicht tust du uns allen den Gefallen und stellst dich schonmal draußen vor die Tür. Den Wald stört dein Schlafgewandle nicht und vielleicht täte es deinem beschränkten Geist mal gut, gehörig gegen einen Baum zu laufen."
„Mit Vergnügen, dann bleibt mir wenigstens deine blasierte Visage erspart. Gib mir doch deinen Smoking, ich nehm' ihn mit zum Müll, wo der Rest deines Taktgefühls verwest."
„Schluss jetzt!", hob Silvius plötzlich mahnend die Stimme und trat zwischen unseren etwas unreifen Zickenkrieg, der angesichts unserer früheren Begegnungen längst überfällig gewesen war. Silvius aber war nicht gewillt, dieses belanglose Gekeife länger zu dulden und verwies uns beide in Richtung Sitzecke. Ich fühlte mich wie ein kleines Kind, das von seinem Vater ausgeschimpft wurde.
„Hinsetzen, alle beide!"
Wäre dieses raffiniert rundliche Retro-Modell nicht, das Atticus anstelle seiner üblichen Sonnenbrille auf der Nase trug, würden zwischen unseren Blicken nun die Fetzen fliegen. Beide in der Hoffnung, sie erlernten doch noch das Töten. Trotzdem gaben wir keinen Mucks mehr von uns und leisteten ihm in finsterer Stimmung Folge. Wir setzten uns auf die Couches am Kamin, Atticus auf die eine, ich gegenüber auf die andere. Den Sessel am Kopf mit direktem Blick auf die kalte Asche besetzte der Magister selbst, ließ einen langen, fast schon strafenden Moment der Ruhe vergehen, um die erhitzten Gemüter wie einst das Holz im Kamin ausbrennen zu lassen. Dann faltete er die Hände und setzte besonnen die Stimme an: „Also, Lorien. Magst du mir erzählen, was genau geschehen ist?"
Von Mögen konnte keine Rede sein. Am liebsten wollte ich mich endlich in diesen verfluchten Bus nach Köln setzen und nie wieder ein Wort darüber verlieren. Doch die Nacht, die mich von ihm trennte, schien lang zu werden.
Ich seufzte knapp.
„Ich schlafe seit meinem Geburtstag schlecht. Ich bekomme wirre Träume und wenn ich aufwache, stehe ich in Bibliotheken. Das hört sich jetzt bescheuert an, aber da sind auch ständig diese vielen Stimmen, als würden die Bücher mich rufen. Wenn ich wach werde, ist es schon zu spät und die blöden Dinger ziehen mich in sich hinein. Scheiß nervig."
Silvius hörte aufmerksam zu und entwickelte einen undefinierbaren Ausdruck, der mir gar nicht gefiel.
„Bist du bereits das letzte Mal auf diese Art im Buch gelandet?"
Ich nickte. Ja, auch das letzte Mal war mein Ausflug ins Wunderland auf dieselbe Weise abgelaufen. Es war dasselbe Schema: Schlafwandeln, Stimmen, Bücher, und schließlich Schwerelosigkeit.
„Ich verstehe die Aufregung nicht. Setz sie einfach endlich in den nächsten Bus!", mischte sich Atticus gereizt ein, nicht länger gewillt, seine Ungeduld für Silvius zu unterdrücken.
„Nach allem, was gerade passiert ist?"
Oh oh. Mir gefiel ganz und gar nicht, wo dieses Gespräch hinführte. Mich beschlich ein ungutes Gefühl bezüglich meiner geplanten Abreise und ich ahnte, was Silvius als nächstes sagen würde.
„Lorien, es tut mir sehr leid, aber ich hoffe, du siehst ein, dass ich dich hiernach nicht länger gehen lassen kann."
„Was?", rutschte es mir trotz der Vorahnung affektgeladen heraus. „Aber—...!"
„Das, was an deinem Geburtstag und heute Nacht passiert ist, wird wieder geschehen, Lorien. Wer weiß wo und wer weiß wohin", unterbrach er klärend meinen Protest und ich biss mir frustriert auf die Unterlippe, da ich nicht wusste, was ich diesem Argument entgegnen sollte. Auf der einen Seite enttäuschte mich diese Niederlage, auf der anderen Seite spürte ich keine Überraschung über sie. Irgendetwas in mir schien gewusst zu haben, dass ich dieser Welt nicht so einfach entkam.
„Dein Wappen will sich vervollständigen, aus dir eine Hüterin machen. Es wird dich immer weiter in die Bücher locken, solange du es nicht beherrschst. Du musst lernen, deine Gabe zu kontrollieren, Lorien, sonst wird sie dich nie in Ruhe lassen."
Ich schwieg. Ich versuchte mich selbst dazu zu bewegen, die Tatsache anzunehmen, dass ich mich nicht länger wehren oder flüchten konnte. So sehr es mich auch ängstigte, Silvius hatte Recht. Der Bus nach Köln, der bereits zum Greifen nah gewesen war, fuhr bildhaft in meinen Gedanken davon. Ohne mich.
„Diese Gabe, dein Wappen, mag dir wie ein Fluch erscheinen, aber ich versichere dir, es versteckt sich darin auch Segen. Du musst ihm nur Zeit geben, sich zu offenbaren."
Pah. Segen. Na der musste sich aber gut versteckt haben.
„Lorien, dein Weg zur Freiheit führt durch die Ausbildung zur Hüterin. Nimm dein Erbe an. Lass mich dich ausbilden."
Meine Hände fuhren geschafft durch mein Gesicht und vergruben es für eine Weile in ihren kalten Flächen. Nur langsam begann das alles in mir zu sacken, bereitete mir Übelkeit. Trotzdem führte offenbar kein Weg daran vorbei, wenn ich nicht wieder unkontrolliert im Wunderland landen und von der dämonischen Grinsekatze gefressen werden wollte. Ich würde das Theater mindestens so lange mitspielen müssen, bis ich die Fäden meiner eigenen Marionette in den Händen hielt.
Ich konnte nicht fassen, dass ich es tat, doch ich begann zu nicken.
„Ich danke dir. Ich verspreche, ich werde alles geben, um auf dich aufzupassen. Ebenso wie Atticus, der nun nicht länger allein hüten muss."
Ich spürte die beruhigend schwere Hand des Magisters auf meiner Schulter und holte einmal tief Luft.
Atticus hingegen war in Fassungslosigkeit verfallen und brauchte einen Moment, bis er sich fing.
„Wie bitte?", rumorte er los. „Ganz langsam, alter Mann, da habe ich ja wohl noch ein Wörtchen mitzureden!"
„Eigentlich nicht, nein. Ich bin dein Magister und deine Alleingänge verstoßen seit langem gegen die Vorschriften. Ein Hüter reist nie allein, schon vergessen?"
„Das kann nicht dein Ernst sein! Nie im Leben nehme ich mich diesem Desaster an! Sie weiß nichts und sie kann nichts! Hüter werden von Kindesbeinen an trainiert, wie soll sie das je aufholen?!", echauffierte er sich, zu seinem Pech völlig sinnlos, denn der Magister hatte seine Entscheidung bereits getroffen.
„Sie wird lernen. Wir alle helfen ihr dabei. Jeder von uns. Du bist unser einziger Hüter, also werdet ihr als Partner zusammenarbeiten, das ist mein letztes Wort."
Die Fäuste geballt war Atticus aufgestanden, sein Kiefer zuckte unwillig, doch die Stimme des Magisters hatte eine eiserne Härte angenommen, die keinen Widerspruch duldete.
Dabei war ich selbst ebensowenig begeistert von der Idee, in Zukunft mit Atticus gemeinsame Sache zu machen. Wenn es nach mir ginge, konnte er mir gestohlen bleiben, nur ging es nicht nach mir.
„Und jetzt will ich, dass ihr beide euch die Hand gebt."
Die Unlust, die sowohl Atticus als auch ich darüber ausstrahlten, erfüllte die Luft mit einem angespannten Knistern und ließ uns bewegungslos verharren. Die verstohlenen Blicke, die ich ihm verzogenen Mundes zuwarf, blieben aufgrund seiner Brillen-bedeckten Blindheit unerwidert, doch ich sah die Fingerknöchel seiner Fäuste weiß hervortreten.
„Ich habe Geduld, ich kann warten. Niemand hier wird den Raum vorher verlassen."
Die angekündigte Geduld durchstrahlte jede seiner Bewegungen, als Silvius sich gelassen wieder in den Sessel sinken ließ, die Beine übereinandergeschlagen und die Hände vor sich verschränkt. Sein schulterlanges, oberes Haar, das er noch vom Schlaf offen trug, fiel über seine kurzrasierten Seiten, während sich seine Stirn erwartungsvoll in Falten legte.
Nach weiterem unangenehmem Schweigen beschloss ich, einen Hauch von Größe zu zeigen, stand auf und machte als Erste einen Schritt auf den hochgewachsenen Hüter zu. Noch immer sah ich seine weißen Knöchel tanzen, ehe er sie gezwungenermaßen lockerte, um mir seine Hand zu reichen. Ein wenig zögerlich fasste ich zu. Seine Finger waren genauso kalt wie meine. Und sein Griff war fest, fast eine Ansage.
Silvius sah zufrieden zu und statuierte uns nun als Partner. Dieser Handschlag sollte den Bund besiegeln, doch wir beide spürten die Heuchelei dahinter.
Von wegen Partnerschaft. Dieser Handschlag war eine Kriegserklärung und das wussten wir. So lange sich unsere kalten Hände trafen, zuckte sie wie ein geleiteter, elektrischer Schlag durch unsere Muskeln und mir war sofort klar: Diese Ausbildung würde kein Zuckerschlecken werden.
Vor allem nicht mit einem Partner wie ihm.
⚬━━━━━━━━━━━━━━━━━━━━━⚬
༻♢༺
Hier ist Platz für ein kleines Feedback,
wenn ihr wollt ♥︎
☞...
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro