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➺ 3.✍︎


𝓦𝙰𝙲𝙷 𝙰𝚄𝙵!
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🅉ehn, neun, acht, sieben, sechs...

Es war ungefähr vier Uhr nachmittags. Ich saß in der hintersten Reihe im Klassenzimmer und hatte meinen Kopf schräg in die rechte Hand gestützt, damit er nicht wegkippte, sollte ich vor Langeweile einschlafen. Obwohl es sich um die letzte Stunde handelte, in der die Konzentration der Schüler längst als verloren galt, hatten wir Mathe. Die einzigen Zahlen, die mich beschäftigten, waren allerdings diejenigen, die über der Tafel die Uhr nummerierten. Sehnsüchtig feuerte ich den längeren Zeiger an, indem ich im Kopf die letzten Sekunden dieser Stunde herunterzählte.

...fünf, vier, drei, zwei, eins...

Lautes Klingeln schallte pünktlich wie immer durch die Klassen und läutete das Ende der Unterrichtsstunde sowie das Ende dieses Schultages ein. Erleichtert, meinen Kopf von der bereits ganz tauben Hand heben zu können, streckte ich mich, schob mit einer gekonnten Bewegung all meine Sachen in meinen Rucksack und manövrierte mich noch vor allen anderen aus dem Raum.

Heute war es so weit.
Ich konnte meine Sachen packen und alles vorbereiten, um morgen zeitig den Bus zu nehmen und von diesem Internat zu verschwinden. Die Woche war beinahe herum. Morgen hatte ich Geburtstag, morgen würde ich achtzehn werden und mein Leben selbst in die Hand nehmen.

Gekonnt ignorierte ich die lautstarke Beschwerde des bebrillten Lehrers in meinem Rücken, der wie jedes Mal den armseligen Versuch startete, die unaufhaltsame Schülerhorde davon zu überzeugen, dass er es war, der den Unterricht beendete. Bei den meisten Lehrkräften konnte man sich unser Manöver nicht erlauben, doch der Mathe-Heinie war einfach nicht ernst zu nehmen mit dieser bescheuerten Fliege unter dem Kinn und seinem schiefen Stimmchen, das ich mit jedem Schritt über den Flur weiter hinter mir verklingen ließ.

Wie von selbst steuerte ich den Weg entlang, den ich die letzte Woche über sehr häufig gegangen war: den direkten Weg zu meinem Zimmer. Naja, genau genommen zu meinem und Ceces Zimmer, die glücklicherweise trotz oder gerade wegen ihrer quietsch-fröhlichen Art ein äußerst sozialbedürftiger Mensch und viel draußen war. Das Zimmer hatte ich somit bis zum Abend stets für mich allein gehabt. Die ersten Tage hatte Cecilia noch versucht, mich zu integrieren und meinen Wunsch, fortzugehen, im Glanze Paulis verblassen zu lassen. Inzwischen hatte sie sich gegenüber meinem Starrkopf geschlagen geben müssen, obwohl sie überaus hartnäckig und schwer niederzuringen gewesen war, was ich zugegebenermaßen angesichts meiner recht unzugänglichen Persönlichkeit an ihr bewunderte.

Ich bog um eine Ecke und erreichte einen Gang, den ich nur sehr ungern benutzte. Ich hatte immer versucht, ihn so gut es ging zu vermeiden, ungeachtet des Umwegs. Doch von den Räumen für Mathematik aus war ihm leider nicht auszuweichen, wollte ich nicht durch die Brandschutztür zum Hof und im gesamten Gebäude den Alarm auslösen.

Der Grund, warum ich besagten Gang so verbissen mied, war der, dass auf ihm die Bibliothek lag.
Gut, es war vielleicht ein wenig lächerlich, doch die Nacht, in der ich sie mit Cece das erste Mal besucht hatte, ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Dieses unheimliche Flüstern...

Seither hatte ich keinen Fuß mehr in diese schaurige Bücher-Herberge gesetzt und wenn möglich einen weiten Bogen darum gemacht. Zum Unmut meiner Krabbelkäfer, aber den ignorierte ich diktatorisch.

Auch dieses Mal kam ich mir wie ein kleines Kind vor, als ich die Beine in die Hand nahm und zu laufen begann. Mit verkniffenen Augen rannte ich am offenen Eingang zur Bibliothek vorbei, schneller und immer schneller, sodass ich beinahe über meine eigenen Füße stolperte. Erst die Wand am anderen Ende des Ganges hielt mich auf, abrupt und unsanft. Blinzelnd richtete ich meine mindestens genauso schaurige Schuluniform und stapfte hastig zur Treppe.

Na hoffentlich hat das keiner gesehen.

Unelegant mein Zimmer erreicht, pfefferte ich dort meinen Schulrucksack auf mein Bett, wurde durch simples Treten und Schieben meiner Hacken die unbequemen Lackschuhe sowie den Rest der Uniform los und deponierte alles schön symboltragend im Mülleimer. Viel zu packen gab es eigentlich gar nicht, denn die Reisetasche, die ich mit auf Pauli genommen hatte und in der sich mein ganzes, traurigerweise sehr überschaubares Leben befand, hatte mir bisher als Kleiderschrank gedient. Ich hatte kaum etwas ausgeräumt, weshalb das vermeintliche Packen, dem ich so entgegengefiebert hatte, binnen weniger Minuten erledigt war.

Tja, das hatte ich mir irgendwie dramatischer ausgemalt, aber was sollte es. An der Tatsache, dass ich morgen früh im ersten Bus nach Köln sitzen würde, änderte es nichts.

Mit dieser sonnigen Aussicht mummte ich mich in meinem grauen Lieblingspulli ein und schwang mich samt Schuhen aufs Bett. Die letzten Stunden dieses Tages würde ich an meinem Handy verbringen, etwas essen und dann früh schlafen. Je schneller der nächste Morgen kam, desto besser.

Adieu, Schloss Pauli und auf Nimmerwiedersehen.


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Die Krabbelkäfer machten Party.

Aller Vorfreude zuwider schlief ich unruhig diese Nacht, so unruhig, wie lange nicht mehr. Vielleicht war es gerade jener Ungeduld auf den kommenden Tag geschuldet, oder aber Cecilias wehleidigem Abschied. Obwohl wir uns erst seit einer Woche kannten, hatte sie gestern Abend eine viel zu große Sache aus meinem Fortgang gemacht. Naja, es passte zu ihr.

Ich wachte mehrmals in unregelmäßigen Abständen auf, jedes Mal in vollkommen verdrehter Lage. Meine Beine und Arme fühlten sich nervös und zittrig an, ich kam nicht zur Ruhe. Das letzte Mal hatte ich einen Blick auf die Uhr gewagt und festgestellt, dass es schon weit nach null war. Nur leider änderte mein anbrechender Geburtstag nichts an meinen gequälten Dämmerschläfen, im Gegenteil, es wurde durchgehend schlimmer.

Ich befand mich gerade wieder in einem seichten, angespannten Schlummer, als sich plötzlich merkwürdige Stimmen in meinen Traum einschlichen. Erst war es nur Eine, doch schnell gesellten sich eine Zweite und eine Dritte dazu. Ich verstand nicht, was sie sagten, sie redeten wirr und schienen gleichzeitig nah und weit weit entfernt zu sein. Instinktiv versuchte ich, mich ihnen im Traum zu nähern, um ihre Worte klarer aufzufassen.

Ich bewegte mich ziellos. Obwohl ich nicht sicher war, ob die Stimmen lauter, oder einfach immer zahlreicher wurden, glaubte ich, ihrem Ursprung näherzukommen. Immer wieder prallte ihr Geflüster an meine Ohren, ohne, dass ich einen Sinn erkannte. Doch was ich erkannte, war, dass sie inzwischen sowohl lauter als auch zahlreicher wurden. Es grenzte an das immer stärker stürmende Chaos eines Unwetters, wie sie auf mich einredeten und trotz ihrer kopfzermarternden Wirkung zog es mich zu ihnen hin. Gerade, als sie drohten, mich zu überwältigen, stürzten sie auf mich ein und ich erwachte aus ihrem Alptraum.

Ich fröstelte. Blinzelnd stellte ich fest, dass ich mich nicht länger in meinem Bett befand, sondern an dem Ort, den ich die ganze Woche über gemieden hatte. Hier hatte ich diese Stimmen und ihr Geflüster zum ersten Mal gehört.
Ich stand mitten in der Bibliothek.
Verlassen und düster lag sie da und jagte mir gemeinsam mit der Erkenntnis, dass ich schlafgewandelt sein musste, eine Heidenangst ein.

So etwas war mir noch nie passiert. Ich gehörte, was Schlaf anging, eigentlich zur Kategorie 'Stein'. Wenn ich morgens aufwachte, lag ich meist noch genauso da, wie ich am Abend zuvor eingeschlafen war.

Was war nur los? Und warum waberten irrsinnige Stimmen durch meinen Kopf? Warum machten Krabbelkäfer Party in meinem blubbernden Blut?

Der Kontrollverlust nagte an mir, doch ich schluckte es für den Moment herunter und versuchte, inmitten der vielen, übermächtig erscheinenden Bücherregale nicht durchzudrehen.

Es war kalt. Ein frostiger Hauch blies zwischen den Regalen her, als wäre irgendwo ein Fenster offen, doch dem war nicht so. Die Verwirrung und die unterschwellige Angst pumpten die Kälte nur noch tiefer in meinen Körper, ließen mich die Arme verschränken und versuchen, sie durch Reibung aneinander zu erwärmen. Ich sah, dass mir die Haare zu Berge standen.

Was zur Hölle ging hier ab? Schlossgespenster und solch einen Unfug gab es nur im Film. Ich hoffte, ich würde träumen, doch es gelang mir nicht, das viel zu reale Gefühl zu vertreiben, dass ich hellwach war.

Wieder zog ein Windhauch zwischen zwei Regalen hindurch und riss dabei ein Buch aus den oberen Reihen. Der dumpfe Ton, mit dem es zu Boden ging, ließ mich erschrocken zusammenfahren. Obwohl jede Faser meines Körpers schrie, ich solle rennen bis ich nicht mehr konnte, war ich wie angewurzelt und konnte nur auf dieses eine, heruntergefallene Buch starren. Es war ein ähnliches Gefühl wie vor einer Woche an diesem Starbucks, allerdings viel stärker, fast schon unangenehm. Es hielt mich wie eine wehrlose Fliege im Spinnennetz dieser gruseligen Bibliothek gefangen.

Ich starrte auf das Buch. Die Kälte in meinen Adern wandelte sich zunehmend in heiße, brennende Anziehung. Etwas in mir regte sich. Erwacht, wie aus langem Schlummer. Ein Gefühl, das ich mit nichts vergleichen konnte, dass ich je gespürt hatte. Stark und intensiv. Wenn ich es beschreiben müsste, dann mit der unbändigen Anziehung eines mächtigen Magneten. Einem Magneten, der mit jedem Buchstaben wuchs und mich anzog, als würde reines, flüssiges Metall durch meine Adern fließen.
Es schwemmte die hilflosen Käfer hinfort, ersetzte sie durch pure Macht.

Der Wind blätterte die Seiten des Buches, riss sie mit sich und ließ sie in meinen Augen flattern. Ich wusste nicht, wie mir geschah, als ich mich weiter näherte, nichts als die vielen Seiten des Buches im Blick.

Alles um mich herum verschwand.
Für einen Moment schien ich zu schweben. Schwerelos, in meiner Sicht nichts als tanzende Buchstaben und in meinen Ohren das immer lauter werdende, betäubende Geräusch des Windes, der um mich herumwirbelte, bis plötzlich alles aufhörte.
Abrupt erschlaffte der Sturm, die Schwerelosigkeit löste sich auf und ich fiel ein ganzes Stück von der wiedereinsetzenden Schwerkraft gezogen nach unten.

Unsanft landete ich auf dem Rücken.
Im ersten Augenblick blieb mir vom Aufprall die Luft weg und ich blinzelte noch halb benommen, ehe ich langsam zu mir kam.
Meine Hand griff neben mich, um Halt zu finden, doch statt des gebohnerten Parketts der Internatsbibliothek spürte ich einen lehmigen, staubigen Untergrund.
Meine Linsen erholten sich von dem Sturz, stellten scharf und fixierten eine Decke aus Ästen, Zweigen und Laub. Trotz des schmerzenden Rückens zwang ich mich, mich aufzusetzen und diesen Wahnsinn zu überprüfen.

Tatsächlich, ich befand mich inmitten eines Waldes. Um mich herum standen hohe Bäume mit dicken Stämmen und überall sprossen Farne und seltsame Gewächse aus dem Boden, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. War das der Wald hinter Schloss Pauli? Vielleicht hatten die hier in der Eifel ja eine ungewöhnliche Flora...

Nein, das war kein Wald, den man in Deutschland fand. Weiter hinten ragten riesige Pilze, so hoch wie kleine Tannen, zwischen den Stämmen hervor, die selbst für meinen begrenzten Horizont an Regenwald-Dokumentation zu extraordinär wirkten.

Also wo zum Teufel war ich gelandet?
Und wie war ich hier gelandet?

Die Krabbelkäfer waren weg, hatten bei ihrem Auszug offenbar meinen Verstand in ihre Köfferchen gepackt wie gierige Hotelgäste die kostenlosen Pflegeprodukte.

In einem tiefen Atemzug, der mich beruhigen und die aufsteigende Verzweiflung unterdrücken sollte, zogen sich meine Lungen plötzlich zusammen und brachten mich zum Husten. Erst jetzt bemerkte ich die merkwürdigen Nebelschwaden um mich herum, die die untere Luftschicht nahe dem Waldboden mit einer Art Qualm oder Dunst schwängerten. Er schien von weiter hinten aus Richtung der Pilze herzuziehen, bereitete mir Schwindel und erinnerte mich vom Geruch irgendwie an diese elektrischen Wasserpfeifen, an denen die 'coolen Kids' aus der Raucherecke immer gezogen hatten — deren Credo: je größer die Dampfwolke desto besser.

Ich hatte mir meine Lunge nie mit diesem widerlichen Zeug kaputt machen wollen und auch nicht vor, jetzt damit anzufangen, weshalb ich mich ächzend auf die Füße stemmte, um an frische Luft zu kommen. Gleichzeitig klopfte ich meine Taschen nach meinem Handy ab, doch das musste noch auf dem Nachttisch neben dem Bett liegen. Vermutlich hätte ich hier ohnehin keinen Empfang. Keine Ahnung in welcher Pampa ich nun wieder gelandet war, aber es sah äußerst abgelegen aus und durch das dichte Blätterdach schaffte es nicht ein einziger Sonnenstrahl — oder Mondstrahl? Es musste schließlich mitten in der Nacht sein. Ein Fakt, der neben den tiefen Rauchschwaden nicht unwesentlich zur düsteren Aura dieses Ortes beitrug.

Ich stützte mich an einem der dicken Baumstämme ab, um meinen in Mitleidenschaft gezogenen Rücken wieder einzurenken, ehe ich mir das dunkle Haar zurückfuhr und mich nochmals umsah.
Ich erblickte nichts außer Bäume und seltsame Pflanzen, unten umwabert von diesen süßlich nebeligen Schwaden. Generell herrschte eine ungewöhnliche Ruhe für einen Wald und die Atmosphäre war obskur.

Nun ja, wenn es nicht die ganze Situation war, die völlig grotesk und obskur schien. Sollte das ein Traum sein, zweifelte ich wirklich an meiner Zurechnungsfähigkeit. Am besten suchte ich mir in Köln erstmal einen Therapeuten.

Nur wie kam ich überhaupt nach Köln? Wie wurde ich diesen... Alptraum... Wachtraum... — oder was es auch immer war — los?

Der Wald um mich herum gruselte mich ebenso sehr wie die Bibliothek Paulis und obwohl auch hier nichts und niemand zu sehen war, hatte ich wieder das Gefühl, beobachtet zu werden.

Kleine Zweige und Blätter knackten und raschelten unter meinen Sohlen, als ich begann, einige Schritte durch das Unterholz auf die Quelle des Qualms zuzumachen. Zum Glück hatte ich noch meine Schuhe, ein Paar abgenutzter, brauner Schnürstiefel, an, mit denen ich mich als Zeichen meiner Fluchtbereitschaft gestern Abend ins Bett gelegt hatte. In meinem Kapuzenpullover war es mir irgendwann zu warm geworden, weshalb ich ihn ausgezogen und mir um die Hüfte gebunden hatte, wo er jetzt noch immer hing.

Hier im Wald sah die Sache anders aus. Ich fröstelte in meinem ärmellosen Shirt, wie bereits in der Bibliothek, in der ich aus heiterem Himmel aufgewacht war, daher klopfte ich den vom Fall verstaubten Pulli ab und zog ihn mir über. Immer, wenn ich dieses alte, dunkelgraue Teil trug und mich unter seiner Kapuze vergraben konnte, ging es mir gleich etwas besser. Ich hoffte auch diesmal auf seine besänftigende Wirkung, doch da hatte ich die Rechnung ohne diesen Psychowald gemacht.

„Bleib cool, Lorien, das ist nur ein dummer Traum, bald sitzt du im Bus nach Köln...", redete ich mit mir selbst, während ich meinen Kopf durch die vorgesehene Öffnung schob, den Stoff zurechtrückte und mir die Haare aus dem Gesicht pustete. Noch kniff ich die Augen gegen die zurückgebliebenen Strähnen zusammen, aber in dem Moment, in dem ich die Störenfriede zur Seite geschoben hatte und die Sicht frei wurde, tauchte plötzlich etwas vor mir auf.

Erst war es ganz schmal, ließ mich rätselnd genauer hinsehen. Doch binnen weniger Sekunden breitete es sich aus wie ein Lauffeuer und ich stellte fest, dass es sich um eine Reihe rasiermesserscharfer Zähne handelte, die zu einem sardonischen, fratzenhaften Grinsen verzogen waren. Ohne einen zugehörigen Körper schwebten sie vor mir in der Luft. Wie eingefroren starrte ich auf das surreale Gebiss, mein Herz im Stillstand.

Auf einen Schlag öffneten sich darüber zwei riesige, leuchtend-gelbe Augen und jagten mir einen derartigen Schrecken ein, dass ich laut losschrie, auf dem Absatz kehrt machte und in die entgegengesetzte Richtung loslief.

Endlich spürte ich meine Beine wieder und konnte ihnen sagen, was sie zu tun hatten. Endlich musste ich nicht mehr machtlos an Ort und Stelle verweilen. Nein, diesmal tat ich, was mir meine Alarmglocken schon in der Bibliothek geraten hatten: rennen bis ich nicht mehr konnte.

Der Wald war dicht und wurde immer dichter, je weiter ich mich von den Pilzen, dem Qualm und der gespenstischen Fratze entfernte. Ich manövrierte mich an überdimensionalen Blumen vorbei, wich den eng beieinanderstehenden Bäumen aus und sprang über umgefallen Stämme und Steine. Das hohe Gras schlug mir gegen die Knie und ich hatte Mühe, mir in meinem Tempo tiefhängende Äste aus dem Weg zu halten. Das Adrenalin, das durch meine Zellen jagte, ließ mich die Anstrengung vergessen. Zwar schnaufte ich schon bald heftig vor mich hin, doch ich dachte gar nicht daran, stehenzubleiben und auszuruhen. Der Gedanke, wie sich diese glühenden Augen in meinen Rücken bohrten und die an einen Hai erinnernden Zahnreihen in meinen Nacken trieben, spornte mich an, als flüchtete ich vor dem Teufel höchstpersönlich.

Als es für mich an einen gehetzten Marathon zu grenzen begann, riskierte ich einen Blick über die Schulter. Nur für einen Moment zog ich die Aufmerksamkeit vom vor mir liegenden Weg, um kurze Erleichterung darüber zu spüren, nichts als dichten Wald hinter mir zu sehen. Erleichterung, die mir das Unterholz sogleich quittierte.

Mein Fuß blieb an einer dicken Wurzel hängen und ließ mich im hohen Bogen in der Horizontalen landen. Noch im Flug brach ich dabei nach vorne durch ein Gebüsch und landete am Rande einer kleinen Lichtung. Zum zweiten Male war ich unsanft am Boden gelandet, diesmal auf Bauch und Armen, die sich in Sachen blaue Flecken meinem lädierten Rücken anschließen konnten.

Verdammte, Sch—...", zischte ich und unterbrach mich selbst mit einem wehleidigen Stöhnen.
Was sollte das alles nur?
Ich wollte nicht mehr.
Nun tat mir gefühlt jeder Knochen weh, ich war von oben bis unten mit staubigem Lehm beschmutzt und meine Lungen brannten wie Feuer.

Wach auf! Wach auf! Wach endlich auf!, schrie ich mich innerlich selbst an, doch es brachte nichts. Dieser surreale Wald um mich herum wollte einfach nicht verschwinden. Alles blieb, wie es war und mir war langsam nach Heulen zumute. Nicht nur, dass ich mir nicht erklären konnte, wo ich war und wie ich hierhergekommen war, ich glaubte auch langsam, den Verstand zu verlieren.

Ich krabbelte ein wenig weiter auf die Lichtung, um mich von dem ganzen Gesträuch zu befreien, kauerte mich dann zusammen und umschlang meine Knie mit den aufgeschrammten Armen. Schwer gegen den Kloß in meinem Hals schluckend spürte ich, wie sich meine Augen mit Tränen füllten und ich presste die Lippen aufeinander, um sie vom unkontrollierten Beben abzuhalten. Wie ein kleines Kind, das Mama und Papa nicht fand, saß ich da und kam mir genauso verloren vor.

„Na na, kleine Hüterin, warum der schwere Kummer?"

Eine sanfte, melodische Stimme hallte zwischen den Bäumen zu mir auf die Lichtung und ließ mich zerwühlt aufsehen. Meine Hände ließen von meinen Knien ab und unterstützten meine Körperdrehung, die meine Augen erratisch über das Dickicht schweifen ließ. Niemand zu sehen. Natürlich nicht, warum auch. Stimmen oder Grimassen ohne Ursprung und Körper schienen schließlich meine neue Leidenschaft zu sein.

Ich schniefte. Egal, was jetzt kommen würde, ich hätte vermutlich nicht die Kraft, aufzustehen und wieder wegzurennen. Darauf hatte ich auch ehrlich gesagt keine Lust mehr. Ebenso leid war ich es, mich zu fragen, was alles um mich herum zu bedeuten hatte. Trotzdem fiel mir nichts Besseres ein, als nachzuhaken: „Hüterin?"

Wem auch immer die neuste mysteriöse Stimme gehören mochte, sie redete nämlich mal wieder wirres Zeug. Was sollte denn bitte eine Hüterin sein? Und was hatte ich damit zu tun?

„Oh Liebes, kein Grund, die Ahnungslose zu mimen. Einen Hüter erkenne ich auf den ersten Blick. Nur so verloren und unbeholfen habe ich noch keinen gesehen. Merkwürdige Kleider, keine Ausrüstung und ganz, ganz allein...", fuhr die Stimme fort und obwohl ich mir sicher war, dass man mich verwechselte, war ich froh, dass ich das Gesprochene wenigstens akustisch verstand. Wer auch immer da sprach schien männlich zu sein, dem Klang nach zu urteilen. Und es war schwer zu erklären, doch seine Stimme hatte so einen gewissen spielerisch abgefeimten Unterton, dem ich instinktiv nicht über den Weg traute.

„Wo bin ich hier?", fragte ich vorsichtig und war dabei ununterbrochen auf der Hut.

„Das weißt du nicht?"

Nicht weit von mir, auf der gegenüberliegenden Seite der Lichtung, raschelte es. Kurz darauf trat der unbekannte Sprecher aus dem Schutz des Dickichts und offenbarte sich. Ich konnte den Ankömmling, bei dem es sich tatsächlich um einen jungen Mann handelte, nur erstaunt mustern.

Seine Erscheinung war eigenartig. Zuallererst sprang mir sein Haar ins Auge. Über einen leichten Undercut fiel ihm der Rest des Deckhaars locker, fast schon kunstvoll zu beiden Seiten seines leicht versetzten Scheitels herab. Neben dieser seltenen und doch recht schmeichelhaften Frisur war sein Haar aber vor allem eines: blutrot.

Nicht, dass gefärbte Haare heutzutage etwas außergewöhnliches wären, nur wirkte es nicht gefärbt. Es machte einen auf unnatürliche Weise natürlichen Eindruck — so kontradiktorisch das auch klingt — und stand im Kontrast zu seiner weißen, makellosen Haut, die sein markantes und zugleich sehr ansehnliches Gesicht umschmeichelte. Beinahe ebenso prägnant waren seine Augen, die wie in tiefes, dunkles Gold getaucht glänzten und mir inquisitiv entgegenfunkelten. Sie erinnerten mich ein wenig an Bernstein und schienen ähnlich zahlreiche Geheimnisse in sich zu verschließen. Über seiner rechten Braue war klein, aber gut erkennbar das Kreuz-Zeichen einer Spielkarte eintätowiert und noch unter demselben Auge, knapp über der Wange, thronte ein Herz in derselben Größe. Seine geschwungenen Lippen hatten eine schwache, rötliche Färbung, die zu den Rändern des Mundes hin blass auslief. Als wäre das alles nicht schon schräg genug, trug er dazu eine ausgefallene, an Könige des Mittelalters erinnernde Kleidung. Schwarzes Leder umschlang seine Beine und seinen Brustkorb, während rote Schnüre es zusammenhielten. Die Zeichen der Spielkarten tauchten dabei immer wieder in seinen Gewändern auf und zierten die verschnörkelten, rot-gold gestreiften Ballonärmel.

Die Hände hinter seinem Rücken verschränkt und den Kopf leicht schief gelegt stand er da und betrachtete mich forschend, als wäre ich die Skurrilität auf dieser Lichtung. Angesichts der letzten Ereignisse war das bedauerlicherweise sogar eine Möglichkeit.

Langsam stand ich auf, um ihm mehr oder weniger — er war ein Stück größer als ich — auf Augenhöhe zu begegnen.

„Herrje, hat man dich an einen Karren gespannt und durch den Dreck geschleift?", kommentierte er sogleich meinen Anblick, der nun das gesamte Ausmaß meiner jüngsten Strapazen aufzeigte. Er wollte sich mir nähern, doch ich machte hastig einen Schritt zurück.

„Keine Angst, Liebes. Ich habe nicht vor, dir auch nur ein weiteres Haar zu krümmen", besänftigte er mich in seiner klangvollen, gefälligen Stimme und holte ein weißes Seidentuch hervor, ehe er erneut versuchte, auf mich zuzukommen.

Wieder wollten meine Beine nach allem, was bisher geschehen war, instinktiv zurückweichen, doch hinter mir ging es nicht weiter. Die kühle Rinde eines der großen Laubbäume bohrte sich in meinen Rücken und hinderte mich an weiteren Schritten.

Der eigentümliche Fremde hingegen kam immer näher, bis er kurz vor mir Halt machte. Ich presste mich gegen den Stamm, misstrauisch und doch irgendwie wahllos, wie ein angeschossenes Reh. Der junge Mann mit dem roten Haar hob behutsam das Seidentuch an meine Wange und begann, mein Gesicht vom Dreck — einer Mischung aus Waldboden und Tränen — zu befreien. Aufgrund seiner Nähe schwang mir ein angenehm herber Duft entgegen, über den sich der Geruch nach Rosen und Erdbeeren legte. Ein olfaktorisches Menü, das mich an mein Duschgel erinnerte und durch diese Vertrautheit seltsam beruhigte.
Komisch, welcher Typ roch denn nach Rosen und Erbeeren? Wahrlich ein komischer Vogel.

Ich erlaubte meinen schmerzenden Muskeln, sich etwas zu entspannen. Meine Brust wurde von kleinen Nachbeben meines Schluchzens geschüttelt, das ich während des Auftretens des ulkigen Unbekannten unterdrückt hatte, doch sie ebbten bereits wieder ab.

„Schon gut, keine Tränen mehr...", glättete mein Gegenüber die Wogen, während er mir über die andere Wange und die Stirn fuhr. Anschließend betrachtete er mich zufrieden.
„Sieh an, unter all dem Dreck steckt eine schöne Maid."

Ein zartes Lächeln legte sich auf seine Lippen und brachte meinen völlig verwirrten, zerrütteten Verstand dazu, sich samt meinem Gesicht etwas aufzuhellen. Ich hatte schon fast vergessen, dass ich eben vor einer schwebenden Fratze geflüchtet war und von einem karnevalistischen Fremden getröstet wurde, da raschelte es plötzlich abermals im Gebüsch.

Als hätte der nächste Schrecken nur auf seinen Auftritt gewartet, lugten auf einmal an derselben Stelle, aus der auch der rothaarige Unbekannte aufgetaucht war, gewaltige, dicke Krallen hervor. Im nächsten Moment folgte der muskulöse Körper eines Löwen mit vier kräftigen Beinen und zwischen zwei angelegten Flügeln ein langer Hals, der in den großen Kopf und massiven Schnabel eines Adlers mündete. Die Kreatur erinnerte an ein Fabeltier, den Greif, den ich, wie so vieles hier, nur aus Filmen und Mythen kannte. Grimmig schob er seine massige Gestalt aus dem Dickicht und als er mich so nah an dem Rotschopf erblickte, legte er wild die Ohren an. Das Vieh bäumte sich auf, breitete drohend die Schwingen aus und stieß einen krächzenden Schrei durch seinen Schnabel, der durch Mark und Bein ging. Ohne auch nur darüber nachzudenken, stürzte ich zur Seite zurück in den Wald und nahm die Beine in die Hand.

„Warte!", rief mir der Fremde nach, doch ich hörte nicht. Was auch immer das für ein kranker Traum war, ich ertrug ihn nicht länger.

„Wach... auuf!", schrie ich mir im Rennen so laut ich konnte die Seele aus der Brust, kniff die Augen fest zusammen und spürte da plötzlich, wie sich eine Hand um meinen Arm schloss.

Jemand packte mich, riss mich gewaltsam zur Seite und aus heiterem Himmel kehrte das Gefühl der Schwerelosigkeit zurück.

Ja! Endlich!

Dieselbe Prozedur wie die, durch die ich in diesen Irrwald gelangt war, begann von vorn. Ich schwebte, ein Sturm wirbelte tosend um mich herum und kurz darauf setzte aus heiterem Himmel die Schwerkraft wieder ein.

Doch ich fiel nicht aus eigener Kraft. Jemand anderes hatte mich mit sich gerissen. Und als ich diesmal am Boden aufkam, schlug ich mir den Kopf am Parkett und die Welt um mich herum wurde traumlos schwarz.

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