➺ 23.✍︎
𝓐𝙽𝚉𝙸𝙴𝙷𝚄𝙽𝙶
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🅂onnenstrahlen kitzelten meine Nase. Ich blinzelte gegen die verschwommenen Lichtflecken, die die einfallende Abenddämmerung hinter meine Lider warf. Der kleine Spalt zwischen den zugezogenen Vorhängen meines Zimmers genügte, um mich aus dem Schlummer zu ziehen und ich fühlte mich unwirklich leicht. Langsam setzte ich mich in meinem Bett auf. Der Raum wirkte seltsam fremd.
Auf einmal verschwand die Sonne hinter den Vorhängen. Es wurde dunkel und immer dunkler und Nebel kletterte die kahlen Wände hinauf.
„Lorien...", hörte ich die Stimme, die stets aus dem Nebel zu mir sprach. Diesmal wirkte sie lauter, präsenter als sonst, machte mich noch unbehaglicher.
„Befreie die Fiktion, Lorien..."
Ich starrte in den schwarzen Nebel, verfolgte jede kleinste Bewegung wie ein bedrohtes Tier und versuchte, Ruhe zu bewahren. Ich fasste mir ein Herz und fragte: „Wer spricht da?"
Die dunklen Wolken quollen über den Boden, ließen mein Bett in ihrem Gewitter schwimmen. Als ich keine Antwort bekam, wurde ich ungeduldig. Allmählich war ich es leid, von diesen Träumen verfolgt zu werden. Hatte es etwas mit meinem Erbe zu tun?
Zweifel nagten an dieser Frage, denn meine Gaben hatten sich bisher nie so unheimlich und düster angefühlt. Es klebte dasselbe unbehagliche Bauchgefühl an diesen Nebelerscheinungen wie an dem merkwürdigen Fremdkörper und den spurenverkrüppelnden Geräten. Instinktiv traute ich der Stimme nicht, die wieder nach mir rief: „Hilf mir, Lorien..."
Ich biss die Zähne zusammen, meine Stirn legte sich in Falten. Ich wollte Klarheit. Wer auch immer sich in diesem Nebel versteckte, ich schluckte die flaue Angst hinunter und forderte: „Wer auch immer du bist, zeig dich."
Die Wand aus dunklen Schwaden setzte sich in Bewegung und kam langsam auf mich zu. In der Mitte begann sich etwas daraus zu lösen. Erst waren es nur schemenhafte Umrisse, doch je näher es kam, desto klarer erkannte ich, dass sie zu einem Menschen gehörten. So schnell wie er gekommen war, verließ mich mein Mut wieder. Ich rutschte schutzlos in meinem Bett nach hinten, spürte aber schon bald die Lehne in meinem Rücken. Flächig presste sie sich gegen meine Schulterblätter, als sich die zwei glühenden Augen der Gestalt öffneten und meine Füße unruhig in die Matratze traten.
„Hilf mir...", zeterte die Person im Nebel und streckte dabei plötzlich ihre Hand nach mir aus. Ich drückte mich so platt es nur ging gegen die Lehne meines Bettes und winkelte meinen Kopf windend zur Seite. Ein verzweifelter Laut floh über meine Lippen und kurz, bevor mich die schattendurchtränkte Hand berühren konnte, schreckte ich schweißgebadet auf.
Meine flatternde Lunge arbeitete auf Hochtouren und meine Muskeln zitternden, doch das Erste, das ich spürte, war ein dumpfer Schmerz, der sich wie ein Presslufthammer in meinen Schädel bohrte. Meine steifen Gelenke ächzten, als meine Hand an meine Schläfe glitt und ich musste mich vorsichtig zurück in die Kissen sinken lassen. Ich war zurück in meinem Zimmer. In meinem richtigen Zimmer. Die Wände waren nicht kahl, sondern in Tapete, alte Lampen und das Gemälde meiner Mutter gekleidet und von schattigem Nebel fehlte jede Spur. Außerdem war die Leichtigkeit aus meinem mitgenommenen Körper gewichen. Das leidige Ziehen der Blessuren und meiner abgeschabten Handknöchel mischte sich unter das Pochen meines Schädels, das eine Allianz mit meiner Schulter geschlossen haben musste, da sich ihre Proteste lautstark überschnitten. Ja, das war definitiv die kalte Realität.
Nachdem Evelle mir gestern Nacht noch ein Bad eingelassen hatte, um meine Wunden zu reinigen, hatte sie mich wie eine Mumie in Maze' mit Heilsiegeln versehene Verbände gewickelt und anschließend ins Bett gelegt. Sie hatte mich gezwungen, eine kleine Suppe zu essen, erst dann hatte ich schlafen dürfen. In dem abgedunkelten Raum kam ich mir in all den Verbänden wie Tutanchamun in seinem Grab vor, doch ich besaß nicht die Kraft, mich aus dem Bett zu quälen. Ehrlich gesagt, wollte ich das auch nicht. Durch den Spalt der Vorhänge fiel tatsächlich ein schmaler Lichtstrahl, doch er gehörte nicht zur Abend-, sondern zur Morgendämmerung, wie die Helligkeit und das Zwitschern der Vögel bewiesen. Ich hatte demnach kaum geschlafen.
Stöhnend wälzte ich mich auf die linke Seite, um dem Sonnenlicht auszuweichen, das genau auf mein Gesicht schien, und schloss erschöpft die Augen. Mein Körper wog schwer wie Stein und so war ich bald wieder eingeschlafen. Tief und fest trieb ich bewusstlos dahin, bis ich irgendwann erneut in Träumen versank. Die Schatten ließen mich ab nun in Frieden. Stattdessen phantasierte ich von wirren Szenen um die Bewohner der Detektei, von Umstylings mit Evelle, Bücherschlachten mit Ozias und Gravurenmalen mit Maze. Es war alles etwas verschwommen und nicht richtig greifbar, doch es fühlte sich warm und unbeschwert an.
Irgendwann fuhr mein Geist zu Atticus. Meine Vorstellung reproduzierte die Szene unserer Rückkehr von Nimmerland, nur waren wir nicht nass, dreckverschmiert und von Algen besudelt. Atticus' Augen waren klar wie Kristalle. So klar, wie sie sonst nur in der Fiktion waren. Hypnotisierend sahen sie mich an, umrahmt von seinem blassen Haar und den kunstgleichen Konturen seines Gesichts. Das weiße Hemd saß locker, als er den rechten Arm neben meinem Kopf ins Regal stemmte und mich zwischen ihm und den Büchern gefangen nahm. Seine linke Hand wanderte an meine Hüfte und suchte sich ihren Weg unter mein Oberteil. Alles kribbelte, als er meine nackte Haut berührte und langsam an ihr hochstrich. Er kam mir immer näher, sodass ich den frischen und angenehm herben Geruch wahrnehmen konnte, der ihn umgab. Wie ferngesteuert wölbte ich mich in seine Bewegung und legte den Kopf in den Nacken, um ihm meine Lippen entgegenzubringen. Alles in mir war heiß vor Begierde und ich wollte nur noch, dass er mich endlich küsste.
Seine Lippen wanderten unter meinem Kieferwinkel abwärts Richtung Ausschnitt und mein Arm schlang sich um seinen Hals. Als er mich plötzlich hochhob und nach hinten warf, fiel ich auf weiche Kissen. Er folgte mir, beugte sich über mich und das Gefühl, sein Körpergewicht über mir zu wissen, war unglaublich reizvoll. Meine Finger lösten die Knöpfe seines Hemdes, berührten seine Muskeln und tasteten über die Wölbungen seines Körpers, während sie seine Brust hinauffuhren. Atticus küsste meinen Hals und presste sein Bein gegen die Rückseite meines Oberschenkels, der meinen Waden hinauf um seine Hüfte folgte. Ich seufzte lasziv, griff in sein Haar und spürte, wie seine Lippen den meinen immer näherkamen. Sein Kinn streifte meinen Kiefer, sein Atem stieß warm gegen meine Wange. Und kurz, bevor seine Lippen sich endlich auf meine legten, war Evelles freudige Stimme zu hören, die uns jäh unterbrach. Gut gelaunt rief sie meinen Namen, riss mich aus meiner Fantasie und fegte mich aus meinem unanständigen Traum.
Das zweite Mal fuhr ich aus dem Schlaf. Diesmal schwitzte ich nicht aus Angst, sondern aus Scham.
Oh Gott, was war das denn?!
Völlig geschockt über mich selbst fuhr ich mir durchs Gesicht und blinzelte vor perplexem Unglauben. War ich noch ganz bei Trost? Was bitte hatte Atticus in meinen Träumen zu suchen? Und was hatte ich da mit ihm angestellt? Das war doch nicht ich...!
Ich versuchte die verschwommenen Bilder abzuschütteln, doch das heiße, kribbelnde Gefühl blieb. Es stieg durch meinen Unterleib, jagte durch meinen Magen und prickelte auf meinen Lippen, die nicht bekommen hatten, was sie sich ersehnten. Beziehungsweise, was sie sich natürlich nicht ersehnten! Und vor allem nicht von Atticus! Wo war die Wut geblieben? Die Verachtung? Ich war sicher, sie brodelte noch in mir und trotzdem konnte ich das nervöse Flattern nicht abstellen.
Verwirrt über meine eigenen Gefühle vergaß ich glatt, dass es an der Tür klopfte. Dumpf drang es durch den Lärm in meinem Kopf, bis die Welt um mich herum wieder präsenter wurde und ich zur Tür sah.
„Lory?", fragte dahinter eine zierliche Stimme, die ich sofort erkannte und nicht wusste, ob ich ihr für die unbewusste Lieferung einer Anstandsdame danken oder eine pfeffern sollte.
„Ja?", krächzte ich heiser vom Schlaf und die heute ganz in Orange gekleidete Schneiderfee flatterte hinein.
„Habe ich dich geweckt?"
Ich räusperte mich verklemmt und schüttelte bemüht unbefangen den Kopf.
„Ich wollte dir Frühstück bringen. Oder, naja, Mittagessen", lächelte die geflügelte Apfelsine mir entgegen und präsentierte das Tablett in ihren Händen, von dem es verführerisch nach frischem Brot und Schokolade duftete. Der Nebel meiner Gedanken lichtete sich ein wenig und ich bedankte mich aufrichtig. Um auch meinen Körper von der durchwachsenen Nacht zu befreien, nahm ich nochmals ein heilendes Bad und ließ mir auf ihren Wunsch hin von Evelle helfen, neue Verbände anzulegen. Diesmal beschränkte sie sich auf die Nötigsten und versorgte alles Kleinere mit etwas Salbe oder einem Pflaster. Selbstständig wechselte sie meine Laken und als ich mich zurück in das frische Bett setzte, ging es mir gleich besser. Die Heilsiegel wirkten wahre Wunder. Alles tat bereits weniger weh als noch in der Nacht und nachdem ich gefrühstückt hatte und eine warme Tasse Kakao in den Händen hielt, kam meine Seele zur Ruhe.
Evelle sagte mir, dass Silvius am Abend ein Treffen im Speisesaal zur Besprechung der Lage einberufen hatte. Bis dahin konnte ich mich ausruhen und mir die Zeit vertreiben, wie ich wollte.
Da ich mich irgendwie nicht danach fühlte, aus meinem Zimmer zu kriechen, blieb ich im Bett. Allerdings erfasste mich bald eine schleichende Langeweile, die meine Gedanken gefährlich auf meine Träume zu lenken drohte. Dabei hatte ich mir fest vorgenommen, sie zu verdrängen und auf ein Energiemangel-induziertes Delirium zu schieben.
Früher wäre ich vermutlich ans Handy gegangen, obwohl ich nie ein wirklicher Social-Media-Mensch gewesen war. Ich war keines der coolen Kids gewesen. Eher eigenbrödlerisch. Dementsprechend hatte es nicht viele Menschen gegeben, mit denen ich mich hatte vernetzen können. Ich wollte mich nicht davon freisprechen, doch wenn ich eines in meiner Zeit hier gelernt hatte, dann, dass das heutige Social Media wie Junk Food für die Psyche war. Ein schnelles, billiges Vergnügen, ohne große Anstrengung oder Bemühung. Bequem und mit tückischem Suchtpotential. Wie Fast Food verschaffte es ein kurzes High, solange man konsumierte, doch langfristig war es der Gesundheit nicht förderlich. Im Gegenteil. Oftmals fühlte man sich schlecht danach. Unzufriedenheit, Probleme mit dem Selbstwert und der ständige Vergleich mit anderen. Genau genommen, mit künstlichen Wertbildern, verfälscht durch Filter und gestellte Szenen. Ich vermisste es nicht. Es war eine Befreiung, es los zu sein.
Hin und wieder vermisste ich einen Fernseher oder ein gutes Videospiel, so wie jetzt, wo ich kraftlos im Bett lag und zu erschöpft zum Aufstehen, gleichzeitig zu wach zum Schlafen war. Eine Weile hielt ich es noch in den weichen, ereignislosen Federn aus, dann stand ich doch auf. Behutsam ließ ich die Beine über die Bettkante baumeln und gewöhnte meinen Kreislauf daran, ehe ich zu meinem Schrank tapste und durch meine alte Tasche wühlte.
Mein altes Leben bestand aus deprimierend wenig Inhalt, viel Interessantes war nicht dabei. Aber als meine Hände neben meinen Kopfhörern den abgenutzten Zeichenblock zu fassen bekamen, zog ich ihn munter heraus. Die Ränder vom Deckblatt waren fledderig und schmutzig vom ganzen Anfassen, doch innen herrschte Ordnung. Ein schwaches Lächeln bildete sich auf meinen Lippen, als ich nostalgisch meine alten Skizzen durchblätterte. Ich hatte immer gern gezeichnet. Mit dem Umzug ins Internat und meinem verrückten Erbe hatte ich es aus den Augen verloren, doch gerade in diesem Moment keimte neue Lust in mir auf. Blöderweise konnte ich nirgendwo Stifte entdecken. Ich musste sie auf Schloss Pauli vergessen haben.
Ich haderte eine Zeit lang mit mir selbst, bis ich mir ein Herz fasste und zur Tür ging. Irgendetwas in mir war noch nicht bereit, für Gesellschaft. Insbesondere Atticus wollte ich nicht begegnen. Denn ich hatte die ungemütliche Vorahnung, dass meine fragile Verdrängungsstrategie wie ein Kartenhaus in sich zusammenfiel, wenn ich ihn sah.
Auf Grund dessen spinkste ich aus der Tür wie ein Spion auf Geheimer Mission und huschte anschließend wie ein Mäuschen über den Flur zur Bibliothek. In der Hoffnung, Ozias hätte neben seinem Gravurenpinsel ein paar Stifte für mich übrig, schlich ich in den büchergesäumten Raum, doch von dem Bären in Weste fehlte jede Spur. Mein Blick suchte den Schreibtisch ab, glitt über naheliegende Schriftrollen und die geschlossenen Schubladen, allerdings schreckte ich davor zurück, sie zu durchwühlen. Die Kopfhörer um meinen Hals und den Zeichenblock vor die Brust gepresst stand ich nachdenklich da und fragte mich, ob ich mich nicht einfach wieder hinlegen sollte. Da fiel mein Blick auf die schmale Wendeltreppe, die sich wie eine verwundene Ranke in die Decke schraubte.
Wenn ich ehrlich war, war ich schon immer neugierig gewesen, wie es dort oben aussah. Und wenn es einen Menschen gab, dessen Gesellschaft Ruhe versprach, dann war es Maze. Vorsichtig setzte ich einen Fuß nach dem anderen, konzentrierte mich, auf den schmalen Stufen nicht auszurutschen. Ich fühlte mich noch etwas wackelig auf den Beinen, nicht bei alter Kraft. Knapp unter der Decke hielt ich inne, machte einen letzten Atemzug und klopfte dann deutlich gegen die Luke. Zaghaftigkeit würde nichts bringen, das hatte ich an Ozias erlebt, der seinen Schützling regelmäßig aus seinem Versteck zwingen musste.
Die Sekunden zogen sich wie Kaugummi und eine schiere Ewigkeit geschah gar nichts. Ich wollte bereits aufgeben und mich an den Abstieg machen, da hörte ich plötzlich das Klacken des eisernen Lukengriffs. Die viereckige Öffnung zum Dachboden wurde aufgezogen, sonst war nichts zu sehen. Blinzelnd nahm ich die verbliebenen Stufen und schob meinen Oberkörper durch die Luke, von der Maze sich gerade interesselos entfernte.
„Die Bücher sind sortiert, die Siegel dreißig bis fünfzig aufgefrischt und das Portal gewartet. Die Mikroschwankungen wollte ich mir später ansehen...", murmelte er gerade so verständlich vor sich hin und hielt mich wohl für seinen Mentor. „Wenn es um Peter Pan geht: Ich weiß, das Siegel muss post missionem neu kalibriert und an die neuen Energieverhältnisse angepasst werden. Und ja, ich habe den Alarm erstmal nur ausgestellt. Ich wollte mich gleich sofort dranmachen..."
Ich wollte Maze eigentlich korrigieren, ihn beruhigen, dass nur ich es war und ihm kein tadelnder Vortrag drohte, doch beim Anblick seines Arbeitsplatzes, verharrte mein Mund regungslos vor Staunen.
Ich wusste kaum, wo ich zuerst hinsehen sollte. Auf jeder freien Fläche war irgendetwas aufgebaut worden, seien es Maschinen oder aufgereihte Tische mit Experimenten, die zischten, qualmten oder blubberten.
Überall lagen Bücher und Schriftrollen verstreut, durchbrochen von Skizzen und zerknüllten Ideen. In einer Ecke stand etwas, das wie die Miniaturversion eines Portals aussah. Aus dem Pult waren einige der bunten Steine herausgelöst worden und glitzerten im dumpfen Schein der Glühbirne, die von der Decke herabhing. Dass sie die einzige installierte Lichtquelle war, viel kaum auf bei all den leuchtenden, blitzenden und funkelnden Flüssigkeiten, Gerätschaften und energetischen Versuchsreihen. Es roch nach einer Mischung aus Papyrus und undefinierbaren Gebräuen. Ich kam mir vor wie im Keller eines verrückten Wissenschaftlers, nur besaß die ganze Atmosphäre einen weniger gruseligen Touch. Alles wirkte fast schon... magisch.
Der Dachboden war weitläufiger, als ich bisher angenommen hatte. Gegenüber an der Wand des Giebels hingen etliche Notizen über einem althölzernen Schreibtisch, an dem Maze mit dem Rücken zu mir etwas durchblätterte. Die dunklen Locken fielen ihm in die Stirn, als er sich seitlich zu einem brodelnden Glaskolben umwandte und das abtropfende Elixier eingehend betrachtete. Das graue Shirt war dasselbe, dass er noch in der Nacht getragen hatte. Darüber baumelte das schimmernde Amulett von seinem blassen, mit erloschenen Gravuren durchzogenen Hals.
„Gute Arbeit mit Büchern, Siegel und Portal. Von Mikroschwankungen habe ich keine Ahnung und die neuen Energieverhältnisse in Peter Pan sind wohl hauptsächlich meine Schuld, also...", fand ich meine Sprache wieder und verzog entschuldigend den Mund. Der junge Bibliothekar ließ vor Schreck beinahe seine Notizen fallen, als er zu mir herumfuhr und mich ungläubig anstarrte.
Seine Brauen hoben sich zu seiner entgeisterten Reaktion, die mir suggerierte, dass er hier oben eigentlich nie Besuch bekam. Einen ganzen Moment lang starrte er mich sprachlos an, dann fing er sich langsam wieder und blinzelte sacht.
„Was machst du hier?"
„Du hast mich reingelassen, schon vergessen?", erwiderte ich belustigt und beobachtete schmunzelnd, wie sein verwirrter Blick zu der Dachluke wanderte. „Ich... Ich wollte eigentlich nur fragen, ob du einen Bleistift für mich übrighättest?"
Ich hatte einen ganzen Haufen davon längst hinter ihm auf dem Schreibtisch ausgemacht und hielt mich nur an die Konventionen der Höflichkeit. Maze war noch dabei, zu realisieren, wer da in sein Quartier ragte, griff aber trotzdem nach einem Bleistift und hielt ihn mir bereitwillig entgegen. Zufrieden kletterte ich aus der Luke, manövrierte mich vorsichtig an den am Boden verteilten Büchern und Blättern vorbei und nahm mir, als ich ihn endlich erreichte, den frisch angespitzten Stift.
„Danke."
Zwar hatte ich ihn nicht lange aufhalten wollen, doch meine Neugierde trieb meine Augen über den Schreibtisch. Mein Kopf legte sich schief bei all den Zeichnungen, die hinter den hektischen Linien von einem guten Auge fürs Detail zeugten. Unter den Entwürfen erkannte ich auch den für die Batterie, die er für unseren Einsatz konzipiert hatte. Neben mir zischte eine rundliche Maschine aus Messing und entlud einen blitzartigen Schwall Energie in ein kleines Fläschchen, das mit irgendeiner Art Erz gefüllt war. Die Flüssigkeiten, die dahinter aufgereiht waren, hatten die seltsamsten, schaumigen Farben.
„Was ist das alles hier?", rutschte mir die Frage raus, während mein Blick überfordert über die Konstruktionen glitt.
Maze blinzelte zögerlich, überlegte, was er sagen sollte, und stellte mir letztlich eine verunsicherte Gegenfrage: „Du willst, dass ich es dir erkläre...?"
„Naja...", drehte ich mich zu ihm zurück und sah in sein scheues Gesicht, „schon..."
Wieder dachte er nach. Es schien, als wägte er seine Antwort ab, traute sich nicht recht, damit herauszurücken. Schließlich verengte er die Augen und brachte seine Gedanken vorsichtig an: „Aber... du würdest es nicht verstehen..."
Überrumpelt sah ich ihn an. Bei den meisten Leuten wäre das wohl eine Beleidigung, doch die unschuldige Aufrichtigkeit, die den Jungen umgab, machte es mir unmöglich, ihm das Übel zu nehmen. Ich meine, er hatte sicher recht. Eine einfache, heruntergebrochene Antwort zu seiner Forschung hätte mir zwar gereicht, aber ich hatte vergessen, mit wem ich sprach. Unwillkürlich zuckten meine Mundwinkel und ich musste lachen.
„Schon gut, du hast vermutlich recht."
Ich sah ihm an, dass er nicht wusste, was mich so amüsierte.
„Das habe ich. Ohne ein Studium in Spurenlehre, Wappenkunde und fiktiver Physik fehlt es an Basiswissen..."
„Schon gut, schon gut", wiederholte ich mich schmunzelnd und presste ein weiteres Lachen zurück in meinen Mund. Dann wandte ich mich zum Gehen und fügte hinzu: „Ich wollte dich nicht stören. Mach ruhig weiter mit dem, was auch immer du hier tust."
Mit den Worten tänzelte ich zwischen den Hindernissen wie an heißer Lava vorbei zur Luke. Vor der Öffnung machte mein Körper wie von selbst Halt. Auf einmal kam mir der Gedanke, mich allein auf meinem Zimmer zu verschanzen, selten einsam vor. Mein Blick fiel auf einen alten Stoffsessel, der zwischen Stapeln an Büchern versank, ansonsten jedoch recht einladend wirkte.
„Hey Maze", drehte ich mich nochmal zu ihm um und er hob aufmerksam den Blick, „macht es dir was aus, wenn ich hierbleibe? Ich ziehe mir Kopfhörer auf und bin ganz leise. Du wirst gar nicht merken, dass ich hier bin."
Jetzt wirkte der junge Bibliothekar noch überraschter als zu Beginn. Ich tat mich schwer damit, zu bestimmen, ob im positiven oder negativen Sinne. Aber ich wusste, dass er es ehrlich meinte, als er sagte: „Macht es nicht."
Ich lächelte. Ein wohliges Gefühl im Bauch, tapste ich zum Sessel, klopfte kräftig den Staub von den Polstern und legte die Bücher darauf zur Seite. Anschließend machte ich es mir gemütlich, zog die Knie an den Körper, setzte meine Kopfhörer auf und öffnete meinen Zeichenblock. Etwa ab der Hälfte war noch alles frei. Meine ersten Zeichnungen zeigten das Wunderland. Die Grinsekatze, das weiße Kaninchen und Caspian, wie er verschmitzt auf seinem Thron ruhte, die Beine übereinanderschlagen und eine Erdbeere zwischen den Fingern. Ich war nicht hundert Prozent zufrieden mit seinen Zügen und so ließ ich sie vage. Als ich sie zum dritten Mal wegradierte und neu zog, beließ ich sie, schlug die nächste Seite auf und begann, den Dachboden zu zeichnen, in dem ich saß.
Ich beobachtete Maze eine Weile und reproduzierte seine schlanke Figur in meinem Bild, stellte ihn in seinen Notizen versunken an seinen Schreibtisch und zerknitterte sein Shirt und Haar. Um seine Beine wickelte ich Katze Shiva, die gerade irgendwo draußen auf Jagd sein musste, denn bisher hatte ich sie noch nicht gesehen. Weiter oben in der Ecke, begann ich sein Gesicht von nahem zu skizzieren. Ich ließ ihn leicht nach links schauen, damit ich die Gravuren bis zu seiner Schläfe und seiner Iris ziehen konnte. Schließlich durften die silbernen Strähnen und Sprenkel nicht fehlen. Auch das Amulett, sein selbst hergestelltes Artefakt, hing ich ihm um den Hals. Mir fiel auf, dass er hübsch war mit seinen vollen Lippen und den konturierten Wangenknochen. Doch ich achtete darauf, das verträumte und scheue Wesen widerzuspiegeln, das er war. Mysteriös und tiefgründiger, als man annahm.
Nachdem ich damit fertig und zufrieden war, starrte ich auf das nächste leere Blatt. Den Bleistift angesetzt scheute ich mich, mein nächstes Motiv zu beginnen. Ich wusste genau, wen ich zeichnen wollte. Mein Kopf dachte immer wieder an die Szene meines Traumes und meine Hand verkrampfte sich immer mehr, bis die Spitze der Miene unter dem Druck knackend zerbröckelte.
Ich beruhigte mein Herz. Gezwungen, mir einen Spitzer zu leihen, machte ich eine kurze Pause, doch als ich mich wieder hinsetzte, war ich entschlossen, alles aus meiner Seele herauszulassen. Mein erster Versuch zeigte Atticus auf der Couch im Wohnbereich. Ich versah ihm die Haltung, die ich gesehen hatte, als ich das erste Mal in der Detektei die Augen geöffnet hatte. Genau nach meinem ersten, unabsichtlichen Buchsprung, aus dem Atticus mich gerettet hatte. Süffisant hatte er dagesessen, die Arme links und rechts auf der Rückenlehne abgelegt, die Beine übereinanderschlagen. Ich setzte ihm seine bläulich getönte Sonnenbrille auf, von der ich gedacht hatte, sie würde seine geheuchelte Blindheit verstecken. Ich wusste noch, dass er diese überkandidelte, bunte Weste im Paisley-Muster getragen hatte, hinter der höchstwahrscheinlich Evelle steckte. Ich ließ ihn vom Kaminfeuer anstrahlen, ließ neben ihm im Aschenbecher den Rest einer abgebrannten Lunfloss-Zigarette qualmen. Und je länger ich an ihm feilte, desto detailreicher wurde es. Ich konnte mich kaum bremsen. Wie von selbst begann meine Hand darunter eine neue Szene. Es war unsere Rückkehr von gestern Nacht. Ich stand mit dem Rücken gegen das Regal gepresst und Atticus lehnte mit der Hand neben meinem Gesicht. Es erweckte dieselbe Hitze meines Traumes in mir und irgendwann stoppte ich mich.
Bescheuert. Was male ich da?
Böse mit mir selbst machte ich einen festen, geschwungenen Strich durch das Bild, riss die Seite nach hinten und fühlte die Befreiung der weißen Leere.
Ich fertigte noch ein paar Skizzen von Evelle, Ozias und Silvius an, dann malte ich eines von Captain Moody und der Fee Honey, von denen ich hoffte, dass es ihnen gut ging und ihr Schiff noch schwamm. Als meine Zeichnungen düsterer wurden, zeigten sie Pans Massengrab, die von Vergängnis zerfressene Leiche des armen verlorenen Jungen und am Ende... Am Ende schlug ich die letzte Seite für heute auf und steckte alle verbliebene Muße meines heutigen Zeichenwahns in ein getreues Modell des spurenverstümmelnden Geräts, so, wie es mir in Erinnerung war. Verächtlich, doch präzise, zog ich seine gruseligen Tentakel über das Papier, die aus seinem knopfähnlichen Körper hervorsprossen wie aus einer Qualle. Meine Playlist endete noch bevor ich die letzten Details ausarbeitete. Ich musste so einige Stunden an meinem Block verbracht haben. An dem halb von Zetteln bedeckten Fenster erkannte ich, dass draußen die herbstliche Dämmerung einsetzte. Ich bemerkte, dass Maze sich von seinem Schreibtisch löste und setzte die tonlosen Kopfhörer ab.
„Gehst du runter?"
Der Junge nickte. „Ich habe noch etwas zutun vor Dads Meeting."
Es war ungewohnt, dass er Silvius 'Dad' nannte. Sie lebten so verschieden, dass ich manchmal vergaß, dass Maze sein Sohn war.
Auf meiner Höhe blieb der Bibliothekar plötzlich stehen und spinkste nicht gerade um Diskretion bemüht auf die gesenkte Zeichnung in meinen Händen.
„Ist das das Gerät?", schwang unverhohlene Neugierde in seiner Stimme mit und ich bejahte seine Annahme.
„Darf... darf ich es sehen?"
Ich nickte und Maze kam zu mir, um mir den Block abzunehmen. Seine Augen fuhren hin und her und studierten jedes kleinste Detail. Ich konnte diesen gewissen Funken sehen, der manchmal in seinen Iriden aufflammte, wenn sein Interesse geweckt wurde. Sein sonst so abwesender Blick schien in solchen Momenten unglaublich klar.
Ich stand auf und wollte die Hand ausstrecken, um ihm etwas daran zu erklären, da führ plötzlich ein stechender Schmerz durch meine bisher so ruhige Schulter. Ich zischte verbissen.
Sofort löste sich der Blick des Jungen von meiner Zeichnung und sah mich skeptisch an.
„Alles in Ordnung?"
Die Hand an meiner ziehenden Schulter, winkte ich ab. Allerdings durchbohrte Maze mich weiter mit seinen zweifelnden Augen und forderte schließlich: „Komm."
Den Block zugeklappt ging er voraus, stieg aus der Luke und kletterte flink die Wendeltreppe hinab. Etwas langsamer folgte ich ihm und konnte schon auf den letzten Stufen sehen, dass er den Gravurenpinsel hervorholte.
„Das ist nicht nötig", hatte ich noch gut die Szene um Atticus' verletzte Hand im Kopf, auch seinen verbissenen Ausdruck.
„Ein Wundsiegel wird helfen. Effektiver, als ein bloßer Verband. Deine Schulter sollte vernünftig heilen, wenn du keine bleibenden Schäden willst", erwiderte Maze und zog mir den Hocker zurecht, damit ich Platz nehmen konnte. Seufzend setzte ich mich und ergab mich meinem Schicksal, denn er hatte ja Recht. Mit dem Pinsel in der Hand stand der Junge schließlich vor mir und sah mich erwartungsvoll an.
„Was?"
„Du musst dein Oberteil ausziehen."
Ich spürte, wie meine Wangen rot wurden und meine frühere Bemerkung zu Atticus, ich seie nicht prüde, an Wurzeln verlor. Ich ermahnte mich, mich nicht so anzustellen. Ich trug doch ein schwarzes Bustier darunter. Etwas umständlich zog ich mir das lockere Langarmshirt über den Kopf, schüttelte mir das Haar aus der Stirn und versuchte, mich selbstbewusst aufzurichten. Maze kümmerte sich gar nicht um meine nackte Haut oder das Bustier. Ohne zu zögern, griff er nach meinem Arm und legte eine Hand an meine Schulter. Während er in das Gelenk hineinhorchte, zog er mit der anderen Hand an meinem Arm und das nicht gerade behutsam.
„Aua!", beschwerte ich mich trotzig, doch der Junge entgegnete nur: „Ich brauche eine gute Gelenkposition."
Während ich mich fragte, wo er das gelernt und ob er eine medizinische Ausbildung genossen hatte, fand Maze eine Position, die ihm gefiel und begann, den schimmernden Pinsel über meine Haut zu ziehen. Wie immer fühlten sich seine Bewegungen versiert und talentiert an, als stecke es ihm im Blut. Ich hatte an seinen Zeichnungen gesehen, was er auf Papier zustande bringen konnte. Auf der Haut war es nicht anders. Er hatte einen filigranen, einzigartigen Stil.
Hin und wieder musste ich kurz die Zähne zusammenbeißen. Zwar war die Gravur transparent, schimmerte nur ein wenig irisierend, doch ich spürte, dass sie tief in meine innere Spur griff. Andererseits dauerte das Wundsiegel nicht lang und als es fertig war, fühlte sich mein Gelenk gleich freier an, fast wie gepolstert.
„In ein paar Tagen wird deine Spur es absorbiert haben und du wirst es nicht mehr sehen", kommentierte der Bibliothekar seine Arbeit, packte den Gravurenpinsel weg und machte sich stattdessen an dem Siegel des Buches zu schaffen, das noch auf dem Pult des Portals lag.
„Danke."
Achtsam bewegte ich meine Schulter und hieß zufrieden das angenehm warme, heilende Gefühl willkommen, das sich in ihr ausbreitete. Dann sah ich zu Maze und beobachtete ihn, wie er sein Amulett mit dem Siegel verband.
„Was machst du?", war ich neugierig, zog mir indes mein Oberteil wieder an. Maze machte gelassen weiter.
„Nach jeder Mission wird das Siegel des Zielbuchs neu kalibriert. Zwar sollten Energieüberschüsse oder -mängel durch Zu- oder Abführen von Materie möglichst kleingehalten werden, doch gänzlich vermeiden lässt sich das nie. Jeder Mensch verliert nun mal eben Materie und sei es nur ein Haar", murmelte er beschäftigt und dann fast etwas schuldbewusst: „Ich hätte es längst machen sollen, um kein Risiko für verpasste Neualarme zu provozieren, aber... ich habe die Zeit vergessen. Ich dachte, Ozzy wollte mich dafür rügen."
„Hm. Ozias war schon vorher nicht in der Bibliothek. Vielleicht hilft er Silvius mit irgendetwas", überlegte ich laut und Maze zuckte die Achseln.
„Du kannst schonmal vorgehen. Ich brauche noch einen Moment", meinte er irgendwann und ich erinnerte mich, dass wir ja zum Treffen im Speisesaal mussten. Da mein Magen geschäftig grummelte, war ich froh über den Ort der Besprechung und hoffte, Evelle servierte wie sonst auch zuvor das Abendessen.
„Okay. Bis gleich", stimmte ich zu, nahm mir meinen Zeichenblock vom Schreibtisch und machte mich auf den Weg zum Esszimmer.
Von weitem sah es leer aus. Ohne die leiseste Ahnung, wie meine Hoffnung es sich vorstellte, den Abend ohne eine Begegnung mit Atticus zu überstehen, trat ich ein und versteifte mich auf die erste Sekunde. Niemand war da. Niemand, außer besagter, aschblonder Hüter, der auf seinem üblichen Platz vor einer Tasse Tee saß und bei dessen Anblick mein Herz nervös aufflatterte. Er war frisch geduscht und hatte zur Abwechslung eine gesunde Farbe im Gesicht, als hätte er eben noch Sport gemacht. Ich wusste nicht, was ich sagen oder tun sollte und versteinerte wie eine Statue an Ort und Stelle. Ich war froh darüber, dass er mein Gesicht nicht sehen konnte. Es fühlte sich heiß an und meine Hände wurden schwitzig.
Eine unangenehme Stille breitete sich zwischen uns aus.
Komm schon, sag irgendwas Unverfängliches..., versuchte ich mich innerlich zu animieren, doch mein Kopf war völlig blank. Was mich überraschte: ihm schien es ähnlich zu gehen. Die stoische, fast ignorante Gelassenheit, die ihn sonst umgab, trug er mir heute nicht so überzeugend vor. Die Muskeln um seinen Kiefer zuckten kaum merklich und die Tasse klirrte einen Ticken zu laut, als er sie zurück auf den Unterteller stellte.
Anstandsdame hin oder her, in diesem Moment war Evelle unsere Retterin, als sie uns endlich von unserer alleinigen Gesellschaft befreite und mit einem qualmenden Topf in den Händen aus der Küche flatterte.
„Huch, na wo bleibt denn der Rest?", bemerkte sie verwundert und ich stimmte ihr innerlich lautstark zu: Gute Frage!
Verhalten setzte ich mich und versuchte mich auf den herrlichen Geruch des Essens zu konzentrieren. Glücklicherweise ließ der Rest nicht lange auf sich warten. Bald darauf schneiten Silvius und Ozias herein, beide in ein Gespräch über irgendwelche Ordensangelegenheiten vertieft. Auch Maze war wohl mit dem Siegel fertig und nahm zwischen mir und seinem Vater, direkt neben dem Kopfende, Platz. Das Abendessen verging mit oberflächlichen Gesprächen und lockerer Atmosphäre. Silvius und Ozias knüpften an ihr voriges Gespräch an, Evelle plapperte ihnen hin und wieder dazwischen und Atticus grunzte ebenfalls gelegentlich seinen Anteil. Ich blieb verhältnismäßig ruhig, starrte viel auf mein Essen und 'machte den Maze', so, wie der Junge selbst. Im Gegensatz zu ihm war ich allerdings nicht in Gedanken versunken, sondern mied krampfhaft den Blick zu Atticus.
Kurz sah ich auf, als ich Ozias sagen hörte: „Ich habe in letzter Zeit merkwürdige Mikroschwankungen in Alice im Wunderland festgestellt. Ich habe die Siegel neu kalibriert, aber dieser Fremdkörper scheint einiges durcheinander gebracht zu haben."
Schuldbewusst presste ich die Lippen aufeinander, da ich mit ziemlicher Sicherheit sagen konnte, dass ich mit meinen nächtlichen Besuchen bei Caspian für diese Schwankungen verantwortlich war. Doch das Thema wurde nicht weiterverfolgt, nachdem Atticus meinte, er würde dort bald nochmal nach dem Rechten sehen. Also aß ich weiter stillschweigend vor mich hin.
Während Evelle gegen Ende den Tisch abräumte, Silvius seinen digestiven Espresso trank und Atticus sich am Fenster eine Stange Lunfloss anzündete, lenkte Ozzy die allgemeine Aufmerksamkeit auf die bisher künstlich zurückgedrängten, jüngsten Ereignisse.
„Nicht nur der Orden, auch die Fiktion ist in letzter Zeit ein selten düsterer Ort", philosophierte er im Anschluss an sein Gespräch mit dem Magister und ließ sich tief in seinem Stuhl zurückfallen. „Was richten wir dagegen aus, so ganz auf uns gestellt? Bist du sicher, Silvius, dass wir keine Hilfe suchen sollten?"
„Nein. Erst brauche ich mehr Informationen, womit wir es zu tun haben. Dann überlege ich, wen von meinen verbliebenen Vertrauten im Orden ich einweihe. Wir müssen vorsichtig sein, einen Plan machen. Ich möchte Lorien keiner unnötigen Gefahr aussetzen", entgegnete der Magister und der massige Bär vergrub nachdenklich die Schnauze im Fell seiner Brust.
„Atty, du sagst, es ist ein Metawesen?", mischte sich Evelle hinzu, die mir und Maze eine Tasse Tee hinstellte.
„Laut Tigerlily ging eine Weltfremde bei ihnen ein und aus und setzte den verlorenen Jungen die Geräte ein. Außer einem Metawesen wäre dazu nichts in der Lage ohne Siegelalarm auszulösen", bestätigte Atticus die Andeutungen der letzten Nacht. „Ich vermute, es ist ein Magus. Ein Spurentauscher. Auf die Weise schmuggelt es die Geräte in die Bücher. Zuletzt war es wohl in weiblicher Form mit 'Augen wie Blut'. An den Augen dürften wir es erkennen. Ich gehe davon aus, es handelt sich um das Brandmal. Rote Augen sind viel zu auffällig. Könnte es sie ändern, hätte es das getan."
„Brandmal?", hakte ich kurz nach und erhielt eine knappe Antwort: „Das einzige Merkmal, das Halbreale nicht an sich verändern können. Jedes Metawesen besitzt eines."
„Hm...", ließ Maze uns zögerlich an seinen Gedanken teilhaben, „diese Geräte wirken auf mich nicht wie zwischenweltliche Konstrukte. Sie sehen nach real menschlicher Technologie aus. Die Bauweise, die der Natur nachempfundene Raffinesse... sehr atypisch für Metawesen."
„Du hast die Dinger doch gar nicht gesehen!", monierte die Schneiderfee, doch der Junge entgegnete nur knapp: „Lorien hat es aufgemalt."
„Wirklich? Darf ich mal sehen?"
Etwas widerwillig holte ich meinen Zeichenblock hervor, schlug die entsprechende Seite auf und reichte ihn Evelle. Ihre zierlichen Hände umklammerten die Pappe fieberhaft und während ihr Blick auf der Zeichnung haftete, verzog sich ihr Gesicht und sie stieß einen angeekelten Laut aus.
„Lila scheint es gut getroffen zu haben", bemerkte Atticus, der nicht in der Lage war, es anderweitig selbst zu beurteilen und füllte seine Lungen mit einem Zug des sinneschärfenden Krauts.
„Wenn das Metawesen die Geräte nicht konstruiert hat, wer dann?", fragte Ozias in die Runde und keiner hatte so recht eine Antwort darauf. Atticus hingegen richtete eine stichelnde Bemerkung an seinen Magister: „Jedenfalls nicht der ominöse Schattenschreiber. Wenn die Geschichten über ihn war sind, konnte er Spuren ändern ohne jedwede Hilfe. Er würde keine Geräte dafür brauchen."
„Du weiß nicht, ob er seine Mächte nutzte, um so lange zu überleben. Ob es ihn schwächte. Und wenn er es nicht selbst war, dann die Anhänger seines Glaubens", wies Silvius die Vorwürfe zurück. „Es kann kein Zufall sein, dass genau dann, wenn die Gründer als ausgestorben gelten, seine düsteren Methoden wieder in der Fiktion wüten."
„Du bist besessen."
„Und du ignorant."
Atticus schnaubte verächtlich, doch Silvius ließ sich davon nicht beeinflussen. „Ich sage dir, dieses Metawesen ist ein Schattenritter, genau wie Bane Abbadore."
„Was ist ein Schattenritter?", wollte ich wissen und hoffte, die Differenzen auf friedlichere Bahnen zu lenken. Atticus murrte zwar: „Die Dämonen aus Silvius' reger Fantasie."
Aber Ozias blieb ernst: „So nannte man einst die Verbündeten des dunklen Phantasten. Sie trugen das Tintenmahl. Eine Art Gravur, die auf der Haut verlief wie schwarze Tinte. Es sollte ein Symbol für die Neuschöpfung ihres Meisters sein, die Tinte seiner Feder. Die Tinte der Freiheit."
Ein kühler Schauer jagte über meinen Rücken und stellte mir die Haare auf.
„Dich haben diese Verschwörungen jetzt auch infiziert, Ozzy?", blieb Atticus den düsteren Überzeugungen fern und obwohl ich nicht sicher war, wem ich glauben sollte, spürte ich, dass, was immer in der Fiktion vor sich ging, einen finsteren und ruinösen Kern hatte. Kurz überlegte ich, der Gruppe von meinen Träumen zu erzählen, die mir langsam nicht mehr geheuer waren, doch Silvius hatte Atticus gegenüber angestrengt die Stimme erhoben.
„Wie kannst du es nach allem, was geschehen ist, noch kategorisch ausschließen!", echauffierte er sich. „Nach allem, was sie den Gründern antaten, was sie Loriens Mutter antaten und was sie mit dir gemacht haben!"
„Sie haben mich ausgemustert, na und? Was sollen sie mit mir gemacht haben?"
Ich meinte für einen Moment einen undefinierbaren Schimmer hinter Silvius' Iriden zu erkennen. Verborgenes Wissen, etwas, das nicht für unsere Ohren bestimmt war. Noch nicht.
Der Magister ließ ihn zurück in seinem Inneren verschwinden und übertönte ihn mit anderen Argumenten: „Was hast du damals als DEF für den Orden getan, Atticus? Wofür haben sie ihre besten Jäger eingesetzt? Und was verbreitet nun mit seinen Fähigkeiten eine spurenverändernde Technologie in der Fiktion?"
Atticus nebeliger Blick verfinsterte sich und obwohl ich verwirrt war und nicht wusste, wovon der Magister sprach, wusste ich meine Nachfragen zurückzuhalten. Es war nicht der richtige Moment dafür.
„Wie hat er all die Jahre überlebt? Wieso auf einmal Geräte benutzen, statt der eigenen Mächte? Wofür der Magus? Wofür der Fremdkörper?", erwiderte Atticus scharf. „Da fehlen doch Teile des Puzzles, Silvius! Das passt nicht zusammen!"
„Vielleicht noch nicht, aber ich habe sie gesehen, Atticus. Schattenritter. Es gibt sie noch und sie besetzen hohe Positionen im Orden. Ich will, dass du vorsichtig bist", tauchte die Stimme des Magisters in eine eindringliche Tiefe ab, ehe er den Blick hinüber zu mir schweifen ließ, „ihr beide."
Ich schluckte schwer und versuchte mir die bedrückte Stimmung nicht zu sehr anmerken zu lassen. Ohne viel Erfolg. Meine Hände klammerten sich an die Tasse Tee, deren Wärme kaum zu mir durchdrang, nur auf das taube Gefühl in meinen Fingerkuppen stieß. Die letzte Zeit hatte mir immer wieder deutlich gemacht, dass die Fiktion kein fröhlicher Ort unserer Fantasie war. Dort lauerte Gefahr. Und wir mussten uns in Acht nehmen.
„Uns bleibt keine Wahl, als weiter zu ermitteln und das Puzzle zu vervollständigen. Einigen wir uns darauf, den Indizien offen gegenüberzustehen und vorsichtig zu sein", fand Ozias schlichtende Worte zum Abschluss der Diskussion, mit denen alle einverstanden waren. Mein Kopf brummte. Die ganzen Informationen flogen dort im reinen Chaos umher und ich bekam sie kaum aneinandergereiht, geschweige denn zu einem Gefüge zusammengestellt.
Silvius erzählte von einem zerrütteten Orden, von Schattenrittern und dem möglichen Überleben des wohl schlimmsten Verbrechers der Hütergeschichte. Außerdem von verfolgten Gründerblutlinien, die Beweis für geplante Machenschaften sein sollten. Atticus und ich wiederum fanden einen alarmlosen Fremdkörper direkt vor Experimenten an lebenden Fiktiven mithilfe spurenverändernder Geräte, deren Technologie nicht zu dem Metawesen passte, dass sie schmuggelte und einsetzte. Ich für meinen Teil hatte immer wieder diese merkwürdigen Visionen von einer Gestalt im schwarzen Nebel, die mich heimsuchte und von mir verlangte, ihr und der Fiktion zu helfen. Ich wusste nicht, was ich mit alledem anstellen sollte, außer erschöpft zu seufzen und mich tief in meinen Stuhl sinken zu lassen.
„Ich muss los", nuschelte Atticus da hinter seiner Zigarette hervor, drückte sie am Fensterrahmen aus und schmiss den Stummel in seine leere Tasse, „ich treffe mich noch mit Laz."
Von der Stuhllehne zog er sich sein schwarzes Jackett und warf es sich im Gehen über die Schultern. Mir war gar nicht aufgefallen, dass er ein für die von Evelle gewählte Garderobe untypisches, schlicht weißes Hemd trug, über das zwei altmodische Hosenträger spannten. Er war ähnlich herausgeputzt wie in der Nacht, als er meinen ungewollten Buchsprung verhindert hatte. Er traf sich also mit diesem Metawesen. Diesem Eleazar. Seinem Heiler und Dealer.
„Du kannst ihn gleich verhören!", rief Ozias argwöhnisch auf, doch der Hüter hob nur abwehrend die Hand, indes verschwand er durch die Tür auf dem Weg zum Portal. Richtig, dieser Eleazar war ebenfalls ein... wie hatte Atticus es genannt?
Magus. Spurentauscher.
Laut Evelle dealte er lediglich mit Kräutern und Pflanzen, Ozias hingegen schien er nicht geheuer zu sein, egal, wieviel er für Atticus getan hatte. Ich war nicht in der Lage, mir eine Meinung zu bilden, ich kannte ihn nicht.
Nachdem Atticus verschwunden war, fiel mein Blick auf Evelle, die bisher auffällig still gewesen war. Die hitzige Konversation zu Tisch hatte mich ganz vergessen lassen, dass die Schneiderfee noch meinen Zeichenblock in den Fingern hielt und auf einmal stellte ich entsetzt fest, dass sie vertieft darin herumblätterte. Hastig fuhr ich auf, nahm ihr den Block ab und warf ihr einen scharfen Blick zu, den sie nur mit kurz aufspringenden Brauen erwiderte.
Oh nein... hatte sie etwa die Bilder von Atticus gesehen? Ein Feuer zündelte an meinen Wangen und ich verengte warnend die Augen. Die Fee zog ein Grinsen, doch sie schwieg vornehm über das, was sie gesehen hatte.
Peinlich berührt kippte ich mir den Tee herunter, stand auf und floh mit der knappen Entschuldigung, ich sei müde, aus dem Esszimmer. Schnellen Schrittes durchquerte ich den Wohnbereich, stapfte auf den Flur und bog so eilig um die Ecke, dass ich zu spät sah, dass mir jemand entgegenkam. Nicht nur irgendjemand, sondern der Einzige, der sich ebenfalls frühzeitig vom Detekteitreff abgekapselt hatte. Ich konnte das jetzt gerade nicht, vor allem nicht mit ihm allein sein. Und dann noch so nah. Ich prallte gegen Atticus' Brust, hielt mühselig das Gleichgewicht und klammerte den Block in meinen Arm.
„Langsam, Lila", drang die rau schmelzende Stimme des blinden Hüters an mein Ohr und löste ein Blitzgewitter in mir aus. Erst jetzt spürte ich, dass er sacht um meinen Arm gefasst hatte, um mich zu stabilisieren. Ungewöhnlich sacht, als fasse er mich mit Samthandschuhen an, als wäre ich zerbrechlich nach allem, was bei der letzten Mission geschehen war.
Seine Berührung jagte all die Empfindungen meines letzten Traumes durch meine Gedanken. Ich spürte seine Hand an meiner Hüfte, an meiner nackten Haut, spürte seinen Atem an meiner Wange und sein Gewicht über mir. Meine Beine wurden weich. Wackelpuddingweich.
Ich musste in meiner steifen Haltung ein furchtbar verkrampftes Gesicht gemacht haben, denn Atticus schien der Auffassung, er wäre gegen meine Schulter gestoßen, als er fragte: „Mit deiner Schulter alles in Ordnung?"
„Alles bestens!... A-Also besser! Ich habe mich ausgezogen und Maze hat ein Heilsiegel gemalt... äh... also nicht ausgezogen, ausgezogen, nur den Pulli, ich meine..."
„Lila, bist du krank?", unterbrach er mein wirres Geplapper, das geballt hervorbrechender Nervosität entsprang.
„Was?! Nein... ähm ja!", stotterte ich mir zusammen und schlug mir innerlich selbst vor die Stirn. „N-Noch eine kleine... Gehirnerschütterung. Vom Sturz. Ich sollte mich besser hinlegen... Sofort."
Wie ein Sturm wirbelte ich an ihm vorbei, raste in mein Zimmer und schlug die Tür hinter mir zu. Die plötzliche Stille war erdrückend. Mein Kopf kippte vorwärts gegen die Tür und stieß meine Stirn gegen das kalte Holz. Ich verzog das Gesicht zu einem jämmerlichen Haufen Selbstmitleid und stieß ein gequältes Jammern aus.
Was war nur los mit mir.
Noch nie hatte ich so etwas von mir erlebt. Mich so gefühlt. Es machte mich fertig. Es war, als hätte die letzte Nacht etwas aufgebrochen, das ich bisher unter kontrolliertem Verschluss gehalten hatte. Nun überfiel es mich und wandelte mich in dieses grauenhaft hysterische Huhn. Ich war doch nicht diese Art Mädchen! Mir passierte so etwas nicht!
Ich schlurfte ausgelaugt von meinen eigenen Emotionen zum Bett, ließ mich wie ein nasser Sack auf die Matratze fallen und grub den Kopf in die Kissen. Keine Ahnung, wie lange ich so verharrte, doch irgendwann klopfte es an der Tür.
„Chéri?"
Auch das noch.
„Nein...", quäkte ich in die dämpfenden Daunen, ehe ich bald darauf das leise Quietschen der Scharniere hörte, als Evelle vorsichtig ins Zimmer tapste.
Es klirrte neben mir am Nachttisch. Ich hob mein Gesicht gerade hoch genug, um hinüber auf das Tablet mit den zwei Schüsseln Eis zu schielen, das die Schneiderfee mitgebracht hatte.
„Ich dachte, es wäre mal Zeit für ein bisschen... Girls-Talk."
„Bitte nenn es nicht so...", murrte ich leidgeprüft und hörte sie sagen: „Gut... dann lass uns einfach reden. Dir brennt doch etwas auf der Seele."
Mein Blick fuhr unwillig und vom Kissen zerknautscht zu ihr auf. Die Fee hatte sich zu mir gesetzt, sich eine Schüssel Eiscreme genommen und mir die zweite gereicht.
„Ich habe euch gestern nach der Mission gesehen. Ich habe deine Zeichnung gesehen. Und deine grauenvolle Vorstellung gerade auf dem Flur."
Mein Gesicht landete unter leidigem Stöhnen wieder in den Federn. Ich brauchte einige tiefe Atemzüge, bis ich mich dazu aufraffen konnte, mich aufzusetzen, ihr langsam das Eis aus der Hand zu nehmen und mich ihr gegenüber an den hohen Bettpfosten zu kauern.
„Ich weiß nicht was los ist! Ich fand ihn immer scheiße! Abweisend, kühl... gemein. Ich glaube, ich werde verrückt. Ich glaube, diese ganzen Portalsprünge rauben mir den Verstand."
Ich stieß meinen Löffel gewaltsam in die vor Frost noch ganz harte Eiscreme und hackte ein wenig darauf herum.
„Ay Chéri, man kann nicht steuern, wo die Liebe hinfällt...", begann Evelle belustigt zu observieren und traf mich mit diesem übertriebenen Wort so hart, als hätte sie mir mit einem ihrer Topfdeckel ins Gesicht geschlagen.
„Liebe?! Ohhoho nein, jetzt machen wir mal halblang, ja?", sprudelte es wie irre aus mir heraus und ich schleuderte meinen Kopf von der einen zur anderen Seite. „Doch keine Liebe! Du spinnst ja!"
„Tue ich das?", klang ihre Nachfrage für meinen Geschmack viel zu rhetorisch und ich zeigte drohend mit dem Löffel auf sie.
„Nimm das zurück!"
„Wieso sollte ich?" Die Schneiderfee amüsierte diese Situation eindeutig mehr als mich.
„Weil das keine Liebe ist! Es ist nur... Anziehung."
„Anziehung?"
„Anziehung!"
Ich schob mir geschäftig einen Löffel Schoko-Eis in den Mund und kam während ich so vor mich hermampfte zu einer eigenen Erkenntnis: „Ich kann es nicht erklären, aber da ist diese... diese Anziehung. Du magst mir nicht glauben, aber mit Liebe hat das nichts zu tun..!"
„Ich glaube dir", erwidere Evelle plötzlich völlig ruhig und sah mich offenherzig an. Ich war baff. Ich hatte mit endloser Hänselei gerechnet, kindischem Geplänkel, doch wie ich so in ihre ehrlichen Augen blickte, beruhigte ich mich innerlich. Die Nervosität fiel von mir ab, war kaum mehr als ein kleines Blubbern, wo sie zuvor in reißenden Wasserfällen an meinem ganzen Körper gerüttelt hatte.
Ich sammelte mich einen Moment, dann sprach ich weiter. Viel gefasster und doch noch etwas verhalten. So persönliches hatte ich bisher noch nie mit jemandem geteilt.
„Es ist komisch, wie wehrlos es mich macht. Als würde eine fremde Macht an mir ziehen, verstehst du? Ich glaube, ich bin so ausgerastet, weil ich selbst befürchtet habe, es wäre etwas wie... Liebe..."
Ich konnte dieses kitschige Wort kaum aussprechen. Ich hatte bisher nie viele Berührungspunkte damit gehabt. Nicht in der Realität. Meine letzte Beziehung hatte mit den Worten 'Babe, ich treffe jetzt Olivia. Von Tinder. Kannst ja mitkommen' geendet und es hatte mich nicht mal groß gejuckt. Okay, ich hatte etwas nach dem Scheißkerl geworfen, aber doch mehr aus verletztem Stolz als einem gebrochenen Herzen.
„Aber es ist keine Liebe?", wiederholte Evelle, nun ebenfalls einen Löffel Eis im Mund.
„Nein... da ist irgendetwas anderes... ich weiß nur nicht, was..."
So ungern ich es zugab, doch ich fühlte mich viel besser, wo ich es mir von der Seele geredet hatte. Mein Inneres schien wieder Ordnung anzunehmen. Und ich war dankbar.
„Ich bin sicher, du findest es heraus. Mit etwas Geduld und Ruhe."
Ich schmunzelte und nickte sacht. Ich hörte sie noch sagen, dass sie immer für mich da wäre, wenn die hektische Verwirrung mal wieder Überhand gewann, und ich erinnerte mich noch ganz genau, dass dies der Moment war, in dem ich wusste, dass ich eine wahre Freundin gefunden hatte.
Womöglich eine fürs Leben.
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