
➺ 22.✍︎
𝓥𝙴𝚁𝙻𝙾𝚁𝙴𝙽𝙴 𝓙𝚄𝙽𝙶𝙴𝙽
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🄽icht der heimkehrende Sog eines Buchsprungs erwartete mich in der Schwerelosigkeit, sondern die grausame Gewalt hinabstürzender Massen an Dreck.
Blankes Chaos paarte sich mit nackter Angst, als ich Atticus' Arm brutal entrissen wurde.
Sehen und schmecken konnte ich nichts als braune Erde. Die Lawine teilte sich mehrmals an aus dem Abhang ragenden Widerständen und mein Körper überschlug sich unkontrolliert. Ich bekam keine Luft. Panik und Flashbacks aus meiner Nacht im Wunderland rüttelten an meinem Verstand wie die Erdmassen an meinen Gliedern. Ich wollte nur noch, dass es aufhörte.
Die Lawine riss mich ins Verderben, gleichzeitig rettete sie mir das Leben. Der Fuß des Abgrunds lief mehr oder weniger flach aus, sodass mein Körper unten gepolstert von Schlick und Geröll ausrollen konnte. Als ich mich endlich nicht mehr bewegte, blieb ich regungslos liegen. Allein meine Brust wölbte sich empor, gierig nach der erdfreien Luft.
Alles drehte sich. Nach all den Strapazen gab es meinem gequälten Magen den Rest. Ich krampfte mich seitlich zusammen und übergab mich. Lehm und Dreck mischten sich unter die brennende Galle und ich hustete, um den Staub aus meinen Lungen zu bekommen. Spuckend befreite ich meinen Mund von den Überresten, stemmte mich zitternd von der ausgelassenen Qual fort und rutschte gegen den nächstbesten Erdhügel, damit ich mich anlehnen konnte.
Mal abgesehen davon, dass ich von Kratzern und Schürfwunden übersäht war und sich meine Muskeln anfühlten, als hätte man sie durch den Fleischwolf gedreht, schien ich keine ernsthaften Verletzungen davongetragen zu haben. Zwar machte es das Ganze nicht angenehmer — morgen war bestimmt die Hälfte meines Körpers dunkelblau —, doch der Sturz hätte deutlich schlimmer ausgehen können. Tödlicher.
Irgendetwas kribbelte. Zunächst schob ich es auf die Taubheit, bis ich mich kaum noch vom Zucken abhalten konnte.
Im Dämmerlicht sah ich auf meine Hände, deren Haut merkwürdig zu flimmern schien. Auf einmal realisierte ich, dass es Scharen kleiner Käfer waren, die auf mir herumkrabbelten. Ich hatte mich gegen ihr Nest gelehnt. Zuerst setzte ein unbändiger Ekel ein, dann ein unsägliches Brennen, das ihre widerlichen, kleinen Beine auf mir hinterließen. Unter hysterischem Kreischen und unkontrollierten Zitterschüben schüttelte ich die Insekten ab, rutschte dabei hektisch von dem Erdhaufen in meiner Nähe weg und stolperte blind auf die Beine.
Nur wenige Meter weiter, direkt hinter den ersten Bäumen, blieb mir schon wieder der Boden unter den Füßen weg. Diesmal stürzte ich nicht tief. Doch bei meiner Landung hörte ich ein merkwürdiges Knirschen und Klappern unter mir. Im ersten Moment dachte ich, das, worauf ich da lag, war ein Haufen toter Äste. Aber als die Wolken vom Mond rückten und das gespenstische Licht auf mich hinabfiel, starrte ich auf unzählige bleiche Knochen. Die teilweise von Moos bewucherten Schädel sagten mir, dass es sich um menschliche Knochen handelte. Überreste etlicher Leichen. Ein Massengrab.
In eine mächtige, knorrige Eiche, die gegenüber am Rand wuchs, war unsauber eingeritzt worden:
Ich war ein unartiger Junge. Ich bin erwachsen geworden.
Mein Entsetzen war kaum in Worte zu fassen. Von Hysterie getrieben kämpfte ich mich aus der weitläufigen Grube, von der nur Gott wusste, wie tief sie unter den Knochenbergen war, und robbte mich zurück ins Unterholz, bis ich die Kraft fand, mich auf die Beine zu drücken.
Ich hetzte so weit wie möglich von der Todesgrube weg, bis ich an einen Fluss kam, der mir mit seinem silbrig glänzenden Wasser eine Grenze setzte. Am Ufer klappte ich zusammen und wollte nur noch, dass man mich aus diesem wahrgewordenen Horrorfilm befreite.
Mein Unterkiefer bebte im Gleichschritt mit meiner Kehle. Schluckend kämpfte ich gegen den Druck hinter meinen Augen, der sie unweigerlich mit Flüssigkeit füllte. Ich war nicht hierfür gemacht. Ich war nutzlos und ungeschickt und hatte es nicht einmal geschafft, selbstständig zurückzuspringen. Atticus hatte Recht.
Atticus...
Atticus!
Auf einmal war ich hellwach. Mit einem weiten Bogen um das Massengrab lief ich zur Absturzstelle zurück und blickte mich hektisch um. Ich sah Wald, Dreck und den Abhang, bei dessen Höhe und dem Gedanken, dass ich dort hinabgestürzt sein sollte, mir fast wieder schlecht wurde. Doch von meinem Partner fehlte jede Spur.
„Atticus?", erschreckte ich mich vor dem Krächzen meiner eigenen Stimme. Keine Antwort. Er musste woanders gelandet sein.
Wenn wir getrennt werden oder etwas schief läuft, springst du sofort zurück, hast du verstanden?, hallten seine Worte in mir wider und instinktiv nickte ich. Ich sammelte alle restliche Energie in mir zusammen und leitete sie in meinen linken Arm, doch plötzlich hielt ich inne. Was, wenn er verletzt war?
Ich konnte von Glück reden, mit heilem Genick hier zu stehen. Was, wenn er weniger Glück gehabt hatte?
Ich begann, an unserer Abmachung zu zweifeln. Was sollte ich tun?
Ich könnte zurückreisen, schauen, ob Atticus es geschafft hat und wenn nicht, wieder hier zur Unfallstelle springen, um nach ihm zu suchen..., überlegte ich, auf verzweifelter Lösungssuche, gefangen zwischen den Anweisungen meines Partners und meiner Sorge, ihn womöglich verletzt zurückzulassen. Die Möglichkeit, zurückzureisen, um nachzusehen, bestand — doch wen wollte ich hier eigentlich verarschen? Einmal in der Bibliothek würde ich es nie und nimmer schaffen, wieder an diese Stelle zu springen. Ich würde sonst wo landen und vermutlich draufgehen, bevor ich Atticus fand. Wenn er denn überhaupt so lange durchhielt.
„Scheiße!", fluchte ich gestresst, wischte mir über die dreckverschmierte Stirn und zwang mich zu tiefen Atemzügen, um die scheinbar näherrückenden Bäume daran zu hindern, mir die Luft zu rauben. Innerlich nervös und zerrissen fuhr ich mir durchs Haar. Mir war heiß und ich schwitzte.
So eine Scheiße!
Meine Hand streifte die gefüllte Batteriebox und stellte überrascht fest, dass sie noch da war. Tatsächlich, heil und ganz. Am liebsten hätte ich sie genommen und gegen den Fels geworfen. Sie war zwar alles, was mir in dem Moment von dieser Mission geblieben war, nur was brachte ein heiler Container mit einem toten Partner? Obwohl ich in seiner Gegenwart jederzeit etwas anderes beschwören würde: Atticus war mir wichtiger als dieses beschissene Gerät.
Erratisch fuhr mein Blick über das Unterholz, bis ich plötzlich fest die Augen zusammenkniff, die Hände zu Fäusten ballte und tief die feuchte Luft aufsog. Mit aufgeblähten Lungen verweilte ich einen kurzen, leeren Moment, dann entließ ich langsam den verbrauchten Sauerstoff und fasste den Entschluss, nach Atticus zu suchen.
Ich begann, mich in die Richtung durchzuschlagen, in der ich seinen Absturz vermutete. Sicher war ich mir nicht, denn mein eigener Fall und die Panik vor Pans Massengrab hatten mir die Orientierung geraubt. Trotzdem meinte ich, mehr oder weniger richtig zu sein. Leider fehlte von meinem Partner jede Spur.
„Atticus?!", kam es impulsartig aus mir heraus, doch die gruseligen Geräusche des Waldes ließen es mich sofort bereuen, so laut gewesen zu sein. Ich wollte keine Aufmerksamkeit auf mich ziehen. Besser, ich schrie nicht herum wie eine Wilde. Allerdings gingen mir damit die Optionen aus.
Ich war kurz davor, aufzugeben, da meinte ich im weichen Lehm des Waldbodens Spuren zu erkennen. Schleifspuren mischten sich mit Fußabdrücken und ich bekam ein mulmiges Gefühl. Gehörten die zu Att? Entweder, er war verletzt über den Boden gerobbt oder jemand hatte ihn weggeschliffen. Falls sie überhaupt zu meinem Partner gehörten. Aber meiner Einschätzung nach musste er genau hier irgendwo abgestürzt sein.
Angst paarte sich mit Ungewissheit und wirbelten in altbekannter Übelkeit durch meinen Magen. Vorsichtig nahm ich die Verfolgung der Spur auf und hörte schon bald ein stetiges Rauschen. Mit jedem meiner Schritte wurde es lauter, bis ich aus dem Unterholz trat und in einer weitläufigen Lagune das Meer erblickte. Wellen schwappten gegen Felsen der Bucht und trieben schaumig, salzige Gischt vor sich her. Im Sand verlief sich die Spur. Zwischen Muschelsplittern und den Überresten einer toten Krabbe endete der letzte Fußabdruck, wurde bereits Opfer des feinen Sandschleiers, den der raue Wind der See aufwirbelte. Seicht mischte sich ein schwadiger Nebel darunter, der dem einsamen Widerhall der Lagune eine schaurige Atmosphäre verlieh.
Auf einmal erklang eine Stimme. Sie war voll und glockenklar. Gar verführerisch summte sie eine bittersüße Melodie, dann sang sie ein Seemannslied. Eines von denen, die dich fesseln und gleichzeitig einen Schauer über den Rücken jagen.
Im Schutze des Nebels tapste ich durch den Sand, bis ich das Wesen erkennen konnte, das wie eine Sirene die Bucht zum Schwingen brachte. Sie hatte langes, goldenes Haar, tiefblaue, sichelförmige Augen und große, geschwungene Lippen. Die gewölbte Brust hinter gewickeltem Seetang versteckt, war der Rest ihrer schillernden Haut elegant in Szene gesetzt. Und ab der Hüfte abwärts trug sie einen paradiesisch grünen Fischschwanz.
Plötzlich bekam ich einen Schwall Wasser ab. Das salzige Meer brannte in meinen Augen und ich duckte mich automatisch wie unter Beschuss. Kichern tönte durch die Lagune. Zwei weitere Nixen waren auf den Felsen aufgetaucht. Ich hörte Schuppen über Stein schaben.
„Seht mal, ein Mädchen!", unterbrach die singende Meerjungfrau ihre schaurige Ballade. Ihre Schwestern stimmten ein: „Sie ist ganz dreckig. Sie sollte mit uns schwimmen."
„Ich mache sie sauber", machte sich die Dritte über mich lustig und spritzte mir erneut die Gischt entgegen.
„Schwimm mit uns!"
„Ich... Ich kann nicht", brachte ich heiser hervor. „Ich suche... Ich suche einen Jungen."
„Peter Pan?", fragte eine Nixe mit dicken, roten Locken und ich hatte Mühe, bei dem Namen nicht zusammenzuzucken.
„Nein, er ist groß, hat hellblondes Haar..."
„Einen verlorenen Jungen?"
„So in der Art", fand ich die Bezeichnung für Atticus irgendwie passend. Und was sollte ich ihnen schon sagen? Mit der Wahrheit konnten sie nichts anfangen. Zudem flößte mir der vor Hohn triefenden Schabernack ihrer Stimmen Respekt ein. Das Letzte, das ich wollte, war, mit ihnen 'schwimmen' zu gehen.
„Hast du so einen gesehen, Nemona?", wandte sich die Blonde amüsiert an ihre Schwester. Auf Nemonas Lippen lag ein verstohlenes Schmunzeln, als sie zu mir erwiderte: „Nein, aber vielleicht können dir die Piraten helfen."
Verwirrt war alles, was ich noch wahrnahm, ihr lautes Kichern. Dann legte sich wie aus dem Nichts eine große, dreckige Hand auf meinen Mund und der stechende Geruch nach Rumm und Schweiß stach in meine Nase.
Nein!
Ich wollte mich wehren, doch ein schriller, donnernder Schmerz jagte durch meinen Schädel, blitzte durch meine Augen und knipste mir die Lichter aus. Meine Gegenwehr erschlaffte, noch bevor sie begann, und meine Welt versank in tiefer, bewusstloser Schwärze.
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Laut polternd landete Atticus in der Bibliothek der Detektei. Erde rieselte ihm nach, verschmierte seine Klamotten und verfing sich in seinem Haar.
„Verdammt!", fluchte er laut und donnerte mit der geballten Faust gegen den Dielenboden.
Noch im Fall hatte Atticus sich vom Portal zurückziehen lassen und gehofft, Lorien würde dasselbe tun. Es war von einem Anfänger viel verlangt. Trotzdem hatte da dieser Funke Hoffnung geglimmt, der beim Anblick der leeren Bibliothek im Keim erstickte. Ozias' fellüberzogene Gestalt erschien erschrocken im Türrahmen und eilte auf ihn zu. Er griff dem Hüter unter die Arme, zog ihn auf die Beine und musterte ihn wild.
„Atticus! Um Himmels Willen!"
Der Hüter schüttelte die Pranken ab. Er wusste, Ozzy meinte es gut, doch er konnte das gerade nicht gebrauchen.
„Ist sie hier?", fuhr er ihn stattdessen an, ehe sein ahnungsloser Blick ihm die Luftröhre zuschnürte.
„Was... wer...?"
„Lorien! Ist sie hier?!", wiederholte er sich ungeduldig und wurde ungewollt barsch.
„Nein. Was ist passiert?", mischte sich Sorge unter die Stimme des Bären, der ahnte, dass Atticus' Auftritt keiner friedvollen Abreise entsprang.
Der Hüter wischte sich quer durchs Gesicht, starrte zum Portal und presste die Zähne aufeinander, obwohl er wusste, dass er davon nur wieder Kiefergelenksprobleme bekommen würde. Doch er konnte sich nicht helfen. Nicht in diesem Moment.
Komm schon..., fieberte er der Vorstellung entgegen, die kleine Hazy würde ihm endlich folgen, doch das Portal verharrte in grauenvoller Stille.
„Atticus, was ist passiert?", stellte Ozias seine Frage erneut und ließ erzwungene Ruhe mitschwingen. Es ging darum, Herr der Lage zu bleiben. Lösungsorientiert. Doch Atticus befiel die nagende Angst, dass es für den Sturz von solcher Höhe keine Lösung mehr geben würde.
„Wir wurden getrennt."
Die Augen krampfhaft auf das Portal geheftet, dachte er nach. Er hatte zu viel von ihr verlangt. Er hätte wissen müssen, dass sie noch nicht so weit war. All ihr Gerede von mehr Respekt und mehr Vertrauen in ihre Fähigkeiten... er hatte sich beeinflussen lassen. Wäre er nur eine Sekunde schneller gewesen...!
„Wo ist sie?", fragte der Bibliothekar weiter und bereitete schon Verbände mit Heilsiegeln vor.
„Sie hätte längst wieder hier sein müssen!", sprach Atticus aus, was ununterbrochen durch seinen Kopf wirbelte. Das Warten brachte ihn um.
Sie kam nicht.
Ohne länger zu zögern, setzte der Hüter sich in Bewegung, riss im Vorbeigehen ein Wundsiegel vom Schreibtisch und trat entschlossen zurück ins Portal. Noch einen Partner zu verlieren, ertrug er nicht.
Nicht sie.
Die Vorstellung, ihre Leiche vorzufinden, quälte ihn so sehr, dass ihn die Furcht vor dem, was ihn erwartete, nahezu lähmte. Doch er zwang seine Muskeln zum Gehorsam.
Noch nie war ihm die Schwerelosigkeit des Sprungs so endlos lange vorgekommen. Als sie ihn letztlich am Fuße der Klippe rauswarf, türmte sich ihr steiler Abhang bedrohlich über ihm auf und ließ sein Herz höherschlagen. Pures Adrenalin schien durch seine Adern zu pumpen. Es war unangenehm. Wie lange war es schon her, dass er sich das letzte Mal so gefühlt hatte? Er war es nicht mehr gewöhnt, die Jahre in Silvius' kleiner, verschlafener Dorf-Detektei hatten ihn bequem und träge gemacht. Der Unterricht mit Lorien hatte ihm das schmerzlich vor Augen geführt. Und nun das.
Die Erdlawine, die sich oben von der Klippe gelöst hatte, formte kleine Hügel entlang der lehmigen Mauer. Atticus begann, sie wachsam abzulaufen, doch von seiner Partnerin fehlte jede Spur. Kein Lebenszeichen, aber auch kein zu Tode gestürzter Körper. Der schwache Hoffnungsfunke kehrte zu ihm zurück.
Womöglich hatte sie den Fall irgendwie überstanden.
Der Funke entfachte ein Feuer, als er Fußabdrücke im Matsch erkannte. Die Nacht war bewölkt, doch der Mond kämpfte sich immer mal wieder zwischen den klobigen Schwaden hindurch und machte ihm die Verfolgung möglich. Die Spuren führten hin und her und kreuz und quer und der Hüter wurde fast schön ärgerlich, dass das Mädchen ohne Sinn und Verstand herumrannte, ohne auf die Idee zu kommen, zurück durch das Portal zu reisen, wie sie es abgemacht hatten. Doch die unsägliche Erleichterung, dass sie offenbar noch am Leben war, überwog.
Irgendwann gelangte er an die Lagune der Meerjungfrauen. Hier verlief sich ihre Fährte. Atticus überkam ein böses Gefühl. Er kannte diese hinterlistigen Fischweiber. Sie taten den lieben langen Tag nichts anderes, außer anderleuts Verderben zu provozieren oder zu genießen. Helfen würden sie ihm ganz gewiss nicht. Zumindest nicht freiwillig. Für ihre albernen Spielchen hatte er gerade keine Geduld.
Der Hüter drehte unheilvoll das gezogene Messer in seiner Hand, während sich ein düsterer Ausdruck auf seinem Gesicht breit machte. Von oben bis unten in Dreck gebadet, seine Partnerin verloren, hing seine Laune tiefer als diese vermaledeite Klippe.
Wer auch immer sich ihm nun in den Weg stellte, würde seinen Unmut zu spüren bekommen. Egal, ob Indianer, Pirat, Pan oder Nixe. Gerade letztere würden sich vorsehen müssen. Denn sollten sie Lila zuletzt gesehen haben, waren sie ihm Antworten schuldig, die er auf die ein oder andere Weise aus ihnen herausbekommen würde. Er war fertig mit dieser Insel. Und die Nixen würden reden. Wenn ihnen ihre Flossen lieb waren.
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Kälte kroch in meine Knochen. Die Nässe der Umgebung trieb sie mir nur noch tiefer unter die blessierte Haut und betäubte wie ein Nervengift.
Was war passiert? Wo war ich?
Ein tiefes Rasseln erklang, als ich vorsichtig meine bleiernen Schultern bewegte. Als ich blinzelte, hämmerte wilder Kopfschmerz gegen meine Schädeldecke. Scharf sog ich die Luft ein und ächzte gequält. Langsam kam alles zurück.
Meine alkoholreiche Nacht mit Caspian, die plötzliche Mission, Pans Verfolgungsjagd und der Sturz von der Klippe.
Ich war noch immer leicht verkatert und bereute es, nichts gegessen zu haben. Obwohl ich mir längst wieder alles aus dem Leib gekotzt hätte.
Ich wusste nicht, ob die Kopfschmerzen von meiner Wein durchtränkten-Nacht, dem Angriff von Pan, dem Höllensturz oder dem Schlag gegen den Schädel kamen — vermutlich eine ungesunde Mischung —, doch das Brennen meiner aufgescheuerten Handgelenke kam mit Gewissheit von den schweren, eisernen Ketten, die man mir wie einer Verbrecherin angelegt hatte.
Ich wagte einen neuen Versuch, die Augen zu öffnen und atmete in den Schmerz, bis er erträglich wurde. Ich befand mich im Rumpf eines Schiffes. Die flüssigkeitsgefüllten Fässer glucksten und die hölzernen Rippen des Kiels knarrzten, während es unheimlich über das Wasser schaukelte. Die Luft war moderig. Eine säuerlich scharfe Note mischte sich bei, die ich von der Hand meines Entführers wiedererkannte. Die einzige Lichtquelle war eine alte Laterne mit angelaufenen Scheiben, die über mir am Balken hing und mit leisem Quietschen den Wellengang beklagte. Der schwache Lichtkegel begrenzte meine Sicht. Die vagen Umrisse der schmalen Treppe, die hinauf an Deck führte, zeichneten sich nur schemenhaft gegen die Dunkelheit ab und die Bullaugen waren ohnehin so verdreckt, dass sie undurchsichtiger wirkten als die Planken des Rumpfs.
Schwerfällig nutzte ich ein Fass, um mich mit der Schulter daran aufzurichten. Ein leidiges Keuchen entfloh meiner Kehle bei dem gellenden Stich, der dabei durch das Gelenk fuhr. Die Wirkung des Adrenalins ebbte langsam ab und mein ramponierter Körper meldete so einige Baustellen, die nach Versorgung schrieen. Mein Herz hingegen erinnerte mich schmerzlich, dass meine Suche nach Atticus erfolglos gewesen war. Ich fühlte mich so furchtbar nutzlos. Statt ihm zu helfen, hatte ich mich wieder selbst in Schwierigkeiten gebracht. Festgesetzt auf dem Schiff der Piraten, kraftlos, machtlos und in Ketten gelegt. Ich zog die Nase hoch und spürte die taube Kälte meiner Lippen, wenn sie beim Zittern aneinanderstießen.
Ich hatte keine Wahl. Ich musste einfach hoffen, dass Atticus es zurückgeschafft hatte und selbst zurückspringen. Zeit, meine Abmachung einzuhalten. Besser spät als nie.
Ich sammelte alle Restenergie, die ich noch aus meinen Ecken kratzen konnte und ließ sie in meinen Portkey fließen. Das Leuchten der Gravur wirkte ungewohnt hell im schummrigen Rumpf des Schiffs, bis ich die Augen schloss und nach der von mir visualisierten ausgestreckten Hand des Portals suchte. Ich brauchte länger als sonst, um sie zu finden, doch als ich sie endlich zu packen bekam, zögerte ich nicht länger.
Hol mich hier raus, redete ich im Geiste mit dem Portal und spürte mich schon aus den Angeln dieser Welt heben, doch in dem Moment, als der Sprung an meinen Gliedern zog, wurde ich brutal zurückgerissen. Die eisernen Ketten schnitten sich in meine Handgelenke und meine lädierte Schulter schrie höllisch auf. Mit einem dumpfen Prall landete ich wieder auf den feuchten Dielen und jaulte vor Schreck und Schmerz. Das konnte nicht sein... Warum funktionierte es nicht?!
Die ernüchternde Erkenntnis traf mich wie ein Schlag: Mein Körper musste frei sein, um springen zu können. Die Ketten hielten mich nicht nur auf dem Schiff gefangen. Sondern auch in dieser Welt.
Der Lärm sorgte oben für Aufmerksamkeit. Ein lautes Poltern, gefolgt von gedämpften Stimmen drangen zu mir hinab und kurz darauf riss man die Luke zu Deck auf. Wind pfiff hinein und mit ihm die Geräuschkulisse der feiernden Piraten. Im Hintergrund wurde betrunken ein Lied gegrölt, Flaschen klirrten und heisere Kehlen lachten dreckig. Aus dem Gewirr hoben sich zwei Männer, die wohl das triste Los gezogen hatten, nach mir zu sehen.
„Das Weib versaut mir meinen Rumm! Ich sage, wir spielen Kielholen mit ihr!", tönte der Erste, hörbar sauer.
„Mit einer Dame?", war der andere weniger überzeugt und obwohl ich nicht wusste, was Kielholen bedeutete, hatte ich das Gefühl, dass ich es nicht herausfinden wollte.
„Dann eben über die Planke mit ihr!"
Ein wuchtiger Bauch schob sich die schmale Treppe hinab. Die hölzernen Stufen quietschten und bogen sich unter dem Gewicht. Getragen von zwei stämmigen Beinchen tauchte kurze Zeit später auch das knollnasige Gesicht im Laternenschein auf, gefolgt von seinem schlaksigen Kumpanen, dem im Kontrast zu ihm die Knochen wie Dornen unter die Haut stachen.
„Und wer spielt dann unseren Lockvogel, eh?", krächzte das Skelett und sprang klapprig neben ihn.
Ein unheildrohender Schatten erstickte ihre Konversation, als er über die zwei komischen Vögel kroch. Der hochgewachsene Mann, dem er gehörte, machte feste, lederächzende Schritte und ließ sie ehrfürchtig zurückweichen.
„Pan soll sie holen kommen. Wie all seine Mütter", erhob sich seine Stimme düster über seine Männer. „Und mit ihm dürft ihr dann so lange den Kiel holen, wie ihr wollt."
Die Eisenketten rasselten, als ich mich langsam zurück an den Rumpf des Schiffes kauerte. Instinktiv machte ich mich beim Anblick des Mannes klein, der nun bedrohlich auf mich zuschritt. Ein langer, weinroter Mantel wallte um seine schlanke Figur, seine Augenpartie verdunkelte eine graue, rußähnliche Farbe und auf dem strähnigen, ölbraunen Haar thronte ein schwarzer, federgezierter Hut. Mir blieben keine Zweifel, dass das der Captain dieses verlotterten Kahns war, trotz dessen starrte ich ungläubig auf seine zwei intakten Hände. Ich schluckte schwer, als er vor mir in die Hocke ging und mich aus stechenden Augen abfällig ansah.
„Ihr... seid nicht Captain Hook...", entflohen mir die Worte, ehe ich sie zurückhalten konnte und der Pirat schnaubte verächtlich.
„Nein. Hat Pan schon wieder vergessen, wie er seinen alten Rivalen dem Krokodil in den Rachen warf?"
Ich blinzelte unsicher und versuchte, Fassung zu wahren.
„Man nannte mich Moody, ehe ich Captain der Jolly Roger wurde", sprach er weiter. „Ich war einst ein verlorener Junge. Doch dann bin ich erwachsen geworden."
Bilder des grauenerregenden Massengrabs schossen mir durch den Kopf, die eingeritzten Buchstaben schwebten verzerrt über all den Knochen: Ich war ein unartiger Junge. Ich bin erwachsen geworden.
„Ich sollte gelichtet werden, wie sie alle. Mein Zwillingsbruder war zuerst dran. Während Pan damit beschäftigt war, ihn in die Grube am Geisterfluss zu werfen, floh ich zu den Piraten."
Ich schauderte bei seiner Erzählung. Das modrige Holz presste sich in meinen Rücken, als er mir noch ein Stückchen näher kam, um Rum-durchtränkt zu hauchen: „Weißt du, was er sagte, als ich ihn mit meinem Bruder konfrontierte? Er sagte: Ich vergesse sie, sobald ich sie umgebracht habe."
Mein Atem bebte. Gefangen in seinen glühenden Augen war ich zu Eis erstarrt. Erst, als er sich langsam wieder aufrichtete, tauten meine Muskeln auf. Auf seiner Schulter landete treu ein kleines Licht. Ich musste zweimal hinschauen, um den menschlichen Körper und die Flügel darin zu erkennen.
„Du bist einem Monster nachgeflogen, Mädchen. Besser, du wärst in deinem Bett geblieben, als es nachts an dein Fenster klopfte."
Langsam dämmerte mir, dass sie mich für ein Mädchen wie Wendy Darling hielten. Eines, dass dem abenteuerlustigen Peter Pan aus ihren Gute-Nacht-Geschichten ins Nimmerland gefolgt war. Blind und aus Liebe und Fürsorge. Ich hatte nicht vor, ihnen zu eröffnen, wie falsch sie lagen. Denn soweit ich das verstand, war das der einzige Grund, aus dem ich noch am Leben war. Sie wollten mich als Lockvogel. Dass Pan gar nicht nach mir suchte, würde ihnen hoffentlich erst klar werden, wenn ich einen Weg aus diesen lästigen Ketten gefunden hatte.
„Honey, du bleibst hier und stehst Wache", sprach der Captain zu dem kleinen Licht auf seiner Schulter. Die Fee, zu dem es gehörte, schlug die puscheligen Füße aneinander und salutierte zum Befehl, ehe sie sich mit verschränkten Armen auf einem Fass in meiner Nähe postierte. Unterdessen wandte Moody sich harsch an seine Männer: „Und ihr zwei Ratten zurück an Deck! Wir bereiten Long Tom vor. Schließlich erwarten wir Besuch. Und Kanonenfutter ist seine Leibspeise."
Rau lachte der Piratenkapitän in sich hinein, während er auf den Stufen mit den Schatten der Nacht verschmolz, dicht gefolgt von Dick und Dürre, die sich vor lauter 'Ay, Ay, Captain' fast überschlugen. Die Luke knallte zu. Dann war der Trubel wieder hinter Holz und Eisen verstummt und ich war allein mit der argwöhnisch dreinblickenden Fee.
Etwas neugierig betrachtete ich ihre glitzernden Flügel und das orangene Haar, das ihr im Bobschnitt um das runde Kinn fiel. Sie hatte ein wenig mehr auf den Hüften, doch ihrer prallen, sanduhrenförmigen Figur tat das gut. Sie steckte in einem knappen, ausschnittbetonten Kleid aus herbstlichen Blättern, doch um ihre Hüfte hing eine Waffe, die wie das Ende eines Zahnstochers aussah. Honey, so hatte der Captain sie eben genannt. Ob es Tinkerbell überhaupt noch gab?
Schaukelnde, holzknarzende Ruhe kehrte ein. Draußen schwappten die Wellen gegen die Bordseite und ließen die Laterne wippen, deren schwummeriges Licht nun nicht mehr das Einzige war. Die kleine, widerborstige Fee marschierte auf ihrem Weinfass hin und her, dann mal wieder im Kreis und zwischendurch balancierte sie aus Langeweile auf dem schmalen Rand, der für ihre zierlichen Füßchen keine Herausforderung darstellte. Ich versuchte so wenig Geräusche wie möglich zu machen, während ich hinter meinem Rücken probierte, meine Hände aus den Ketten zu quetschen. Obwohl die Schellen Spielraum ließen, bereiteten sie mir Schwierigkeiten. Es war nass, meine Haut war aufgedunsen und die Gelenke von dem ganzen Zerren geschwollen. Manchmal hatte ich das Gefühl, Fortschritte zu machen, doch der Griff des Eisens ließ nicht locker. Wenn ich nur etwas Fett hätte...
Vor mir turnte meine gelangweilte Wächterin von Fass zu Fass und scherte sich nicht um mich. Ihre Aufmerksamkeitsspanne schien kürzer als ihre winzige Nase. Ein Fakt, der mir zugutekam. Zumindest bis ihr Beschäftigungsdrang zu meiner Ausrüstung verführte. Auf einer quadratischen Kiste, die gewaltig nach eingelegtem Gemüse stank, lagen die Sachen, die man mir abgenommen hatte. Die Fessel, der Spurleser und — Ursprung meines Übels — die kleine, mit dem tückischen Gerät befüllte Batteriebox.
Von Neugier getrieben begann Honey, alles gründlich zu inspizieren. Sie drückte auf Knöpfen des Spurlesers herum, den sie ohne Portkey und Energiebeladung ohnehin nicht verwenden konnte, und stemmte mit aller Kraft das eiserne Fesselsiegel nach oben, ehe ihre Muskeln schlapp machten, sie auf ihren Hintern plumpste und die Fessel mit kreisender Bewegung zurück auf den Kistendeckel fiel. Honey schüttelte benommen ihren Kopf und versprühte dabei einen kleinen Nebel Feenstaub. Dann fiel ihr Blick auf die Batterie. Sofort überkam mich ein ungutes Gefühl.
„Lass das in Ruhe, das ist instabil...", sprach ich heiser Warnung — dumme Idee, denn damit fixte ich die Fee nur an. In ihre kastanienbraunen Augen trat ein hinterlistiger Schimmer, während sie gegen die Box klopfte und mich dabei provokant anfunkelte.
„Bitte, du tust dir nur weh..!", flehte ich und unterschlug den Fakt, dass die Explosion des Geräts eine kleine Katastrophe wäre. Für das Schiff, meinen festgeketteten Hintern und unsere Forschung, zu der es hoffentlich noch kommen würde, sobald ich die Ketten überlistet und mich aus diesem beschissenen Buch verfrachtet hatte. Aktuell war ich zuversichtlich, die Schellen hingen nur noch an wenigen Knochen fest.
Honey ignorierte auch die zweite Mahnung und lachte nur spitz. Ihre Stimme klang wie helle Glöckchen, unverständlich fürs Ohr und doch spürte man jede Bedeutung. Hohn triefte darin, als sie kräftig gegen die Box trat und mir die Zunge herausstreckte. Zufrieden beobachtete sie meine verbissene Reaktion, die halb auf ihr perfides Schauspiel und halb auf meine schmerzenden Knöchel zurückzuführen war, die ich nun mit Gewalt durch die Ketten presste. Meine Haut riss auf, doch das Gefühl der Freiheit, als die linke Hand aus der kalten Kralle glitt, war überwältigend.
Die Freude war von kurzer Dauer. Honey versetzt der Box erneut einen Tritt und in Kombination mit dem Stoß des Wellengangs schlitterte sie über den Rand der Kiste und landete klirrend am Boden. Erschrocken sah ich, dass sich der Deckel gelöst hatte. Das Gerät war mit der Flüssigkeit herausgeschwappt und lag wie ein Fisch auf dem Trockenen auf dem feuchten Holz. Während Honey kichernd über den Rand der Kiste lugte, um ihr Werk zu bewundern, weiteten sich ängstlich meine Augen. Oh nein, nein, nein!
Das extrahierte Gerät hatte keine Energiequelle mehr. Wie das letzte Mal begann es zu zittern, zu glühen und energetische Funken zu sprühen. Alles auf einmal und alles ganz schnell. Die Fee realisierte im letzten Moment, was sie getan hatten und flatterte lautstark hinter die Fässer. Ich hingegen spürte nur das limitierende Holz in meinem Rücken. Was auch immer Maze in die Flüssigkeit der Batterie getan hatte, es nährte das Gerät wahrhaft ordentlich. Nachdem es alle sein Metall berührenden Tropfen in sich aufgesaugt hatte, ging es mit einem gehörigen Knall in die Luft.
Aus Reflex schützte ich mich vor der Explosion mit meinem Schild und dankte Gott, dass es der linke Arm mit Portkey gewesen war, den ich kurz zuvor freibekommen hatte. Die Gewalt der Detonation war dank der Batterie kein Vergleich zum letzten Mal. Hätte Atticus das Gerät diesmal in seiner Nähe gehabt, hätte es ihn zweifelsohne zerrissen. Dieser Gedanke schoss entsetzt durch meinen Kopf, als ich mit klingelnden Ohren auf das Loch starrte, das es in den Schiffsrumpf gerissen hatte.
Es gurgelte. Und mein blanker Verstand realisierte etwas über Schiffe mit Löchern: Sie sanken.
Mir blieb keine Zeit mehr für Heimlichkeiten. Ich fuhr herum, packte mit der freien Hand die Kette und zog. Hinter mir schwappte die See unaufhaltsam in den Frachtraum. Ich spürte die ersten Wogen sprudelnd gegen meine Beine quellen und keifte panisch.
Bitte, lass mich frei!
Ich hustete gegen die Luft voller Holzspäne und zerrte immer hektischer an der rechten Handschelle. Warum zum Teufel wollten Buchwelten mich ständig ertränken?!
Oben regte sich das feiernde Deck. Die Luke wurde aufgerissen und die Piraten entdeckten das Chaos.
„Hilfe! Holt mich hier raus!", schrie ich mit allem, was meine brüchige Stimme noch hergab, doch es ging im aufkeimenden Gewusel unter.
„Wir sinken!", jaulte es aus allen Ecken. Niemand verschwendete auch nur einen Gedanken an ihre Gefangene. Man stolperte mit Eimern herunter und trug das Wasser nach oben über die Reling, doch die Mühe war umsonst. Viel zu groß war das Loch, das der Spurenverstümmler in den Rumpf gerissen hatte und der Captain erkannte den Fehler seiner Crew. Auf seine Anweisung hin begannen zwei Männer, die Kisten zu zertrümmern und mit den Planken das Leck zu decken.
Für mich hingegen wurde es langsam knapp. Durch die Kette am Aufstehen gehindert, musste ich bereits den Kopf recken, um Atmen zu können. Während im Hintergrund alles dafür getan wurde, das Schiff über Wasser zu halten, tat ich alles dafür, seiner Todesfalle zu entkommen. Ein letztes Mal holte ich tief Luft, füllte jede mögliche Alveole mit Sauerstoff, dann tauchte ich ab, formte meine rechte Hand so schmal wie möglich und zog gegen die Schelle. Ob es nun an meiner Verzweiflung oder an all dem Wasser lag, diesmal flutschten meine Knöchel aus dem Eisen und ich konnte mich luftschnappend auf die Beine kämpfen.
Ich spuckte Salzwasser aus meinem trockenen Mund, stieß die schwimmenden Fässer beiseite und watete auf die Luke zu. Meine Energie war erschöpft. Ich versuchte zusammenzukratzen, was ging, doch es dauerte. Dauerte zu lang. Ein hereingeschwemmtes, glitschiges Algenkoagel raubte mir unter den Füßen das Gleichgewicht. Platschend landete ich wieder im Wasser und als ich mich am Rumpf nach oben zog, berührte mein Kinn eine kalte Schneide. Die scharfe, gebogene Spitze eines Säbels legte sich an meine Kehle und zwang mich, die Hände zu heben.
„Hier geblieben, du miese, kleine Kröte", schürfte die düstere Stimme des Captains die Luft zwischen uns über Reibeisen und warf mir einen vernichtenden Blick zu. „Niemand, gar niemand versenkt mein Schiff. Pan kann dich vom Meeresboden kratzen, wenn er dich wiederhaben will!"
Meine Kehle bebte, als das kalte Metall meine Haut berührte. Ich bekam die Nervosität nicht unter Kontrolle, bekam keinen Fokus, nicht genügend Energie, um das Portal zu packen. Ich versuchte, mich zum Nachdenken zu zwingen, doch ich konnte nur auf die blitzende Klinge starren, die mir Tod und Teufel drohte.
Auf einmal flatterte Honey auf die Schulter des Captains, fuchtelte wild mit den Händen und klimperte aufgeregt mit ihren Stimmglöckchen.
„Was?", zischte der einstig verlorene Junge, genervt, dass sie ihn unterbrach. Doch ihre Erklärung kam zu kurz. Gerade noch versucht, ihren Captain zu warnen, hechtete sie zurück in die Luft, um dem morschen Balken auszuweichen, den man ihm von hinten über den Schädel zog. Erschrocken riss ich die Augen auf und sah zu, wie der Pirat vor mir zusammensackte und vornüber ins Wasser klatschte.
Die Fee zog ihren Zahnstocher und ging bitterböse auf den Angreifer los, doch dieser setzte sie mit einem einfachen, trocknen Satz außer Gefecht.
„Ich glaube nicht an Feen", rollte seine Stimme durch die Luft, erreichte die hilflose Honey und löschte all ihren Feenstaub, als hätte man einen Eimer Wasser über eine kleine Flamme geschüttet. Die Fee ruderte verzweifelt mit den Armen, doch ohne ihren goldglitzernden Staub war da nichts, das ihre Flügel antrieb oder sie in der Luft hielt. Mit einem deutlich schwächeren Platschen folgte sie ihrem Captain in die ins Schiff gelaufene See und klammerte sich an ein schwimmendes Seilende.
All das zog schwadenhaft an mir vorbei. Seit der Sekunde, als ich seine Stimme gehört hatte, schwebte mein Herz vor Erleichterung. Seine Kleidung war dreckverschmiert und das aschblonde Haar wirbelte zerzaust um seinen Kopf, doch die stahlblauen Augen waren hellwach.
Atticus!
Ich klammerte mich an seinen Blick, wäre ihm am liebsten um den Hals gefallen. Er lebte. Dass er mich mal wieder rettete, war ein warmer Nebenbonus.
„Captain!", hatten die Männer den Eindringling bemerkt und einige stürzten auf ihn zu. Dem ersten schleuderte er den herausgebrochenen Balken entgegen, den zweiten traf er mit einem Tritt im Gesicht und schleuderte ihn rückwärts zurück in den Frachtraum.
„Komm schon, Lila! Raus hier!", pfiff er dabei in meine Richtung und ich fand blinzelnd zur Besinnung. Mann, an meiner kognitiven Schaltfähigkeit musste ich gewaltig üben.
Hastig setzte ich mich wieder in Bewegung, focht mich durch das schwappende Wasser zu den Treppen und wollte mich just von meinem Partner zurück zur Bibliothek ziehen lassen, da schlang ein Pirat seinen knorrigen Arm um seinen Hals und riss ihn rücklings von den Stufen. Ich erkannte die über die blanken Knochen gespannte Haut und den niederträchtigen Ausdruck des dürren Skeletts, das seinen knollnasigen Kumpanen noch vor kurzem unter Deck begleitet hatte.
Triefend klammerte ich mich an die Treppe und sah die beiden unter Wasser verschwinden. Es blubberte und spritzte an der Stelle, an der sie miteinander rangen. Die Zeit, in der sie bereits die Luft anhielten, kam mir quälend lang vor und ich wollte schon hinzuspringen und helfen, da durchfuhr das Wasser eine leuchtende Schockwelle und Atticus — durch sein Schild vom überraschend kräftigen Hungerhaken befreit — tauchte luftschnappend an der Oberfläche auf. Auf einmal sah ich etwas Düsteres in seinen Augen funkeln. Unmut und Zorn paarten sich mit einer glühenden Ungeduld, die eindeutig keine Lust mehr auf all den Terror hatte. Ich konnte sehen, dass Schluss mit lustig war. Und das hagere Skelett, dass sich aufgerappelt und einen neuen Versuch gestartet hatte, bekam dies als Erstes zu spüren. Den Schwung seines Angriffs nutzte der Hüter schamlos aus, potenzierte ihn mit einem energetischen Stoß seines Schildes und beförderte ihn mit einem unangenehmen Wumms gegen den Schiffsrumpf.
Ich konnte gerade noch sehen, wie seine Fäuste in der Magengrube und dem Kinn eines weiteren Seeräubers landeten, da befahl er mir erneut: „Lila, raus!"
Ohne mir das ein drittes Mal sagen zu lassen, wirbelte ich herum und kletterte aus der verfluchten Luke. Kalter Küstenwind schlug mir entgegen. Mit ihm der Geruch nach angefaulten Masten, alten Muschelablagerungen und löchrig nassen Segeln. Auf allen Vieren krabbelte ich an Deck, ehe ich wankend auf die Füße kam. Meine Beine waren schwer und mein Atem rasselte. Über mir grollte ein Donner am Himmel, zumindest hielt ich es für einen Donner, bis ich die fast tonnenschwere Kanone sah, die ein zuvor noch Eimer schleppender Schiffsjunge auf mich ausrichtete. Die Rollen der Lafette polterten über die Dielen und beim Zischen der Lunte blieb mir das Herz stehen. Mit letzter Kraft wollte ich zur Seite hetzen, doch ich schlitterte zu sehr und kam nicht schnell genug von der Stelle. Dann knallte es.
Bevor mich das zur Kugel geformte Eisen erschlagen konnte, spürte ich, wie Atticus sich gegen mich warf und ich mit ihm über Bord fiel. Die Welt um mich herum verstummte, verschluckt von den Wellen des Ozeans, der uns kalt und rau umschlang. Das Salz brannte in meinen Augen, als ich sie öffnete, um nach meinem Partner zu suchen. Es war dunkel, doch nicht dunkel genug, um den riesigen, schuppigen Körper des Ungeheuers zu sehen, der um das Schiff auf Beute lauerte. Ohne das charakteristische Ticken des verschluckten Weckers kam ich fast nicht drauf, doch als seine geisterhaften Augen in meine Richtung schnellten, erkannte ich das Krokodil, dass mehr einem Wassersaurier als einem einfachen Reptil glich. Gierig riss es das gewaltige Maul auf, bereit, seinen massigen Körper auf mich zuzuschlängeln, da spürte ich endlich den Griff meines Partners, der sich um meine Hüfte schlang und mich fort in die Schwerelosigkeit riss.
Ich wusste nicht, ob ich vor Erlösung lachen oder weinen sollte. Überfordert mit allem, was ich hinter mir hatte, ließ ich mich passiv wegziehen. Mit jedem Moment, der im Sog verstrich, entfernte sich das Nimmerland weiter von mir und ich hoffte, nie wieder Urlaub auf dieser Horrorinsel machen zu müssen.
Als uns das Portal endlich in der Bibliothek ausspuckte, schlitterten wir über den Boden und kamen gegen einem Regal zum Halten. Atticus hielt mich noch immer fest umschlungen. Als hätte er Angst, ich würde ihm wieder verloren gehen, verharrte er schweren Atems so mit mir gegen das Regal gelehnt und ich klammerte mich krampfhaft an seinen Arm, nicht gewillt, loszulassen. In diesem Moment wollte ich nie wieder loslassen. Ich spürte sein Kinn seitlich meines Kopfes. Kaum merklich streifte es meine Schläfe, als er leise fragte: „Lila?"
Instinktiv klammerte ich mich fester an seinen Arm, aus Angst, er würde mich freigeben.
„Bist du verletzt?"
Ich schluckte schwer. Meine Schulter stach, die unzähligen blauen Flecke drückten, meine aufgeschürften Hände brannten und mein Kopf pochte. Mein Körper tat an Stellen weh, von denen ich bisher nicht mal gewusst hatte, dass sie wehtun konnten. Doch ich lebte. Und keine meiner Wunden drohte mir Gegenteiliges. Langsam schüttelte ich den Kopf, einfach, weil ich nicht aufstehen und mich ihm so präsentieren wollte. Er glaubte mir nicht. Ich glaubte mir selbst nicht.
Atticus stand auf, behielt seinen Arm um meine Hüfte und zog mich mit nach oben, ehe er ihn nutzte, um mich zu ihm zu drehen. Er stellte mich wie eine Puppe gegen das Bücherregal, hob meine Hände, bewegte meinen Kopf und sah sich an, was von mir übriggeblieben war. Wenn ansehen das richtige Wort war, denn seine Augen trübte der Nebel, der Fluch, der ihm die Farben seiner Realität raubte. Bei jeder Verletzung verfinsterte er sich ein Stückchen mehr. Wütend fuhr er mich an: „Ich hatte dir gesagt, du sollst sofort zurückreisen!"
Nun schluckte ich aus völlig anderen Gründen. Ich hatte alles versucht, ihm eine gute Partnerin zu sein, nach ihm zu suchen, falls er verletzt war und er war allen Ernstes sauer?
In meiner Rage übersah ich die Sorge, die hinter seiner Wut flackerte und biss zurück: „Ich wusste nicht, ob du den Sturz überstanden hast und wollte nur helfen!"
„Helfen? Glaubst du, ich brauche deine Hilfe?", stach er unerbittlicher, als jedes meiner zermarterten Glieder. „Warum schaffst du es nicht einmal, auf mich zu hören? Wir hatten eine Abmachung! Doch ich springe zurück und was stelle ich fest? Du hängst noch im Buch!"
„Ich wollte dich nicht zurücklassen!"
„Aber das hast du!"
Ich biss die Zähne so fest aufeinander, dass mein Kiefer schmerzte. Aber Atticus hörte nicht auf. Was auch immer ich ihm angetan hatte, das ihn so aufwühlte, er dachte nicht daran, mich nach allem zu schonen: „Silvius mag uns zu Partnern gemacht haben, aber Fakt bleibt, dass ich keinen Partner, sondern einen Hüter-Frischling an den Hals gehängt bekommen habe! Verlange so viel Respekt von mir, wie du willst, Lorien, aber ich mache diesen Job schon um einiges länger als du! Und wenn ich dir sage, reise zurück, dann reist du zurück!"
Dass es ihm bitterernst war, merkte ich schon allein daran, dass er meinen richtigen Namen benutzte. Das tat er nie.
„Wäre ich zurückgereist und du wärst nicht da, hätte ich nie mehr alleine zur Absturzstelle gefunden! Glaubst du, ich habe mich aus Trotz dagegen entschieden?!", fauchte ich und war überrascht, wo die Kraft für diesen Streit herkam. Atticus musste irgendeine geheime Reserve in mir anzapfen. Wie immer bei ihm, begann ich regelrecht zu glühen.
„Wohin hat diese Entscheidung geführt?! Du hättest dich beinahe umgebracht und das Gerät ist hinüber! Ich nehme mal an, dass es das war, das ein Loch in eines der Hauptmerkmale unserer Zielwelt gerissen hat!", bedeutete er mir, dass ich einen beträchtlichen Schaden angerichtet hatte, den sich kein normaler Hüter erlauben sollte. Diese Tatsache konnte ich mir nicht schönreden. Doch das, was danach kam, riss die innere Wunde vom Vortag wieder auf.
„Ich will keine Sentimentalität, wir haben einen Job zu erledigen!", hängte er an und weckte meinen Frust über seinen unnahbaren Jähzorn bei jedweder Annäherung.
„Oh ja, das hast du gestern mehr als deutlich gemacht", brachte ich schamlos unser Streitthema von vor der Mission wieder auf und konnte die Spannung seines verpressten Brustkorbs regelrecht hören.
„Nicht das schon wieder!"
„Du warst gemein!"
„Ich war gemein?", wiederholte er und sein Tonfall ließ es fast schon lächerlich klingen. Ich ließ mich nicht beirren. Es war Zeit für Klartext.
„Ja! Das bist du ständig! Ich kann nichts für deinen Fluch oder die Dienststelle, an die er dich verfrachtet hat, aber du lässt es an mir aus! Und weißt du was? Das wär' mir egal, wenn wir wenigstens Fortschritte machen würden! Glaub mir, ich bin Profi im Mauern bauen, aber die Leiter zu deiner lässt du einen nur hinaufklettern, um sie im letzten Moment wieder umzustoßen! Und das ist anstrengend!"
„Du bist anstrengend! Schlimm genug, dass ich dir einen Hüter-Crash-Kurs geben muss, aber du bist eine grauenvolle Schülerin! Du bist stur, du bist quengelig und du hörst nicht auf mich! Ich sagte, wenn wir getrennt werden, reist du zurück! Stattdessen stehe ich allein vor einem kalten Portal!"
„Ich wollte helfen!"
„Ich dachte du wärst tot!"
Mir stockte der Atem. Plötzlich sah ich die Sorge. Nun sprang sie mich regelrecht an, kratzte an meinem Herzen. Meine Streitlust verpuffte wie eine Flamme im Wind. Das erste Mal merkte ich, dass ihm etwas an mir lag.
„Das war eine hohe Klippe, verdammt!", setzte er nach und ich spürte, wie sich seine Hand neben mir ins Regal krallte. Mit jenem Regal in meinem Rücken, klemmte ich zwischen ihm und den Büchern. Beide waren wir noch völlig durchwässert und trieften auf den Dielenboden.
Auf einmal wurde mir bewusst, wie nah er mir war. Das weiße Hemd klebte ihm nass am Körper und die entstandene Transparenz zeigte jeden Muskel. Sein Haar kräuselte sich leicht von der Feuchtigkeit und haftete an seiner Stirn und das schöne Gesicht, das mich immer so genervt hatte, bekam ganz neue Züge. Hitze stieg in mir auf. In meinem Bauch flatterte es und ich schluckte das Verlangen hinunter, auf seine Lippen zu starren. Ich wünschte in dem Moment, ich hätte in seine Augen sehen können, doch selbst blind brachten sie die geringe Distanz zwischen uns zum Knistern.
„Lorien!", wurden wir von Evelle unterbrochen, die unsere Rückkunft als Erste bemerkte und sich zum Flur wandte, um dem Rest Bescheid zu geben. „Sie sind zurück! Beide!"
Sofort löste sich Atticus vom Regal. Fast schon etwas zu hektisch trat er einen Schritt zurück und brachte Abstand zwischen uns. Erschrocken stellte ich fest, dass mich Enttäuschung überkam.
Alle Spannung verflog, als sich die Schneiderfee vollends zwischen uns schob und voller Mitgefühl meinen Zustand inspizierte.
„Sieh dich nur an... Ohje, deine Hände! Mein armes Vögelchen...", beklagte sie jämmerlich meinen Anblick und flatterte zur Tür, um Silvius eines der Handtücher abzunehmen, die er für uns geholt hatte. Eilig legte sie es mir um die Schultern. Schweißperlen glitzerten auf ihrer karamellbraunen Stirn und ihre Hände wirkten noch fahriger als sonst, als sie mir eine Alge von der Schulter fischte. Ozias lief direkt zu seinen Gravurverbänden.
Sie alle mussten sich ihren Gesichtern nach furchtbar Sorgen gemacht haben.
Ich beruhigte sie, sagte ihnen, dass es schlimmer aussah, als es war, und keine Notwendigkeit für Akutversorgung bestand.
„Was ist passiert?", hörte ich Silvius im Hintergrund, der zu Atticus getreten war.
„Ein neuer Fall von Spurenverstümmelung. Ein Metawesen hat diese kleinen Teufelsgeräte Pans verlorenen Jungs eingepflanzt."
„Ein Metawesen?"
„Ich habe es nicht gesehen, aber den Indizien nach habe ich keine Zweifel. Ein Magus. Es tauscht Spuren, um die Geräte einzuschmuggeln. Ich hatte vor, eines mitzubringen."
„Hat die Batterie funktioniert?", tauchte die seelenruhige Erscheinung von Maze auf der Wendeltreppe zum Dachboden auf und glitt lautlos zu uns hinab. Er steckte in denselben grauen Sachen, die er immer trug, das Haar war verwuschelt und sein Shirt zerknittert, doch in seinen Augen funkelte Neugierde.
„Hat sie", erwiderte Atticus knapp und das Funkeln verstärkte sich.
„Wo ist es?"
Unangenehme Stille trat ein. Der Kiefer meines Partners wanderte von einer zur anderen Seite, bis er irgendwann euphemistisch offenlegte: „Wir wurden getrennt und es ging verloren."
Das war eine nette Umschreibung der weniger schönen Wahrheit. Ich schluckte schuldbewusst und spürte, wie Silvius' Blick zu mir wanderte. Verdrossen hob ich die Augen und sah, wie scharf und streng der Ausdruck des Magisters geworden war. Als er sich wieder an Atticus wandte, schwang Unmut in seiner Stimme mit: „Ihr wurdet getrennt... Ist das alles? Sie sieht schlimmer aus als an dem Tag, als sie hier ankam!"
Die Muskeln an Atticus' Kiefer traten unbehaglich hervor, seine Haltung versteifte sich. Es war deutlich, dass er nicht stolz auf den Ausgang dieser Mission war. Und mein Zustand schien besonders an ihm zu nagen. Vor allem angesichts seines Magisters, der meine Ausbildung in seine Hände gelegt hatte.
„Tut mir leid. Ich habe ihr zu viel zugemutet."
Meine Hände ballten sich zu Fäusten bei seiner Entschuldigung an den unzufriedenen Magister. Ich wusste, Silvius lag besonders viel an meinem Wohlergehen aufgrund seiner Beziehung zu meiner Mutter und der Hoffnung, die er in mein Erbe legte. Doch mich wie ein rohes Ei zu behandeln, war meiner Ausbildung nicht zuträglich. Das hatte ich jetzt begriffen. Und Atticus konnte gewiss nichts für meine Entscheidung, in die Lagune der Nixen zu wandern und mich wie eine dumme Gans gefangen nehmen zu lassen. Ich wollte, dass er mir Dinge zumutete. Wie sonst sollte ich ihm als Partnerin je nützlich sein? Der Bibliothek und mir selbst je nützlich sein?
„Nein, hast du nicht", klang meine Stimme rau, als ich sie bestimmt über ihr Gespräch erhob und einen Schritt an Evelle vorbei machte.
„Lila—...", wollte Atticus mich zurückhalten, doch ich ließ ihn nicht.
Mit festem Blick sprach ich zu Silvius: „Ich hatte eine einfache Aufgabe. Ich habe sie vermasselt. Und ich habe Anweisungen ignoriert. Mir tut es leid. Ich werde mich das nächste Mal mehr zusammenreißen."
Silvius' Augen flackerten überrascht. Er sah mich einen Moment lang nur schweigend an, dann sammelte er sich und meinte an uns beide gerichtet: „Gut. Haken wir das ab. Es war eine lange Nacht. Ruht euch aus, alles Weitere können wir morgen besprechen."
Mit den Worten drehte er sich um, versicherte sich mit einem Seitenblick noch bei Evelle, dass sie sich um mich kümmern würde und verließ dann die Bibliothek in Richtung seines Büros.
„Willst du einen offiziellen Bericht?", besaß Atticus einen ominösen Tonfall, als er seinen Magister ein letztes Mal aufhielt. Ich wusste, wir operierten längst ohne Wissen des Ordens und über unseren Zuständigkeitsbereich hinaus. Der Fall wurde immer größer. Nun ging es neben Fremdkörpern und Spurenverstümmelung auch um Metawesen und ein dunkles Gefühl sagte mir, dass das noch nicht alles war.
„Nein", fiel seine Antwort kurz und resolut aus. Der letzte Besuch des Ordens schien ihm gereicht zu haben. Ich hatte mitbekommen, dass eigentlich nach jeder Mission, nach jedem Buchsprung ein detaillierter Bericht geschrieben und archiviert werden musste. Silvius hingegen wollte den Orden augenscheinlich ab sofort raushalten. Mir war es recht.
Als der Magister fort war, schlich Maze zu seinem Mentor, nahm sich den Gravurenpinsel und half ihm, Verbände, Kompressen und Pflaster mit Heilsiegeln zu versehen. Grazil und mit talentierter Gewandtheit führte er die Borsten über den Stoff und ich kam nicht drum herum, es für einen Moment zu bewundern.
Dann meldete sich plötzlich meine Schulter und der Rest meiner Verletzungen schloss sich ihr empört an. Der Müdigkeit, die mich erfasste, war kaum noch standzuhalten. Ich fühlte mich auf einmal ganz schwach, mir war schwummrig und ich wollte mich hinlegen.
Evelle griff mir sofort unter die Arme.
„Komm, Chéri. Wir machen dich sauber und kümmern uns um die Wunden. Danach kannst du so lange im Bett bleiben, wie du magst."
Ich nickte langsam.
Und als ich der Fee ins Bad folgte, entspannten sich meine Muskeln merklich das erste Mal, seit ich zur Mission die Bibliothek verlassen hatte.
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