➺ 2.✍︎
𝓚𝙰𝙵𝙵𝙴𝙴 𝙵𝚄̈𝚁 𝓛𝙸𝙻𝙰
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🄴in kleiner, hölzerner Nachtisch, ein Schrank, ein Schreibtisch und auf meiner Seite des Zimmers ein unbezogenes, auf bedrückende Weise leer wirkendes Einzelbett. Mehr gab es zukünftig nicht für mich.
Schwer und etwas unbehaglich saß ich auf der Kante des Zellenbettes und obwohl ich es ungern zugab, fühlte ich mich plötzlich sehr allein. Meine Ziehmutter war fort und ich hockte in irgendeinem fremden Internat, weit weg von allem, was ich kannte. Irgendwie ein trostloses Gefühl. Und vermutlich war ich innerlich einer Waise nie näher gewesen.
Ich kratzte versonnen an meinem Arm.
Die Käfer, die in meinem Blut blubberten, ließen mich selbst jetzt nicht in Ruhe.
Im Hintergrund führte Cecilia ohne ihr Wissen ein Selbstgespräch. Irgendetwas über ihre frühere Mitbewohnerin und ihre Schlafgewohnheiten, allerdings zogen all ihre Worte haltlos an mir vorbei.
Für einen Moment stand die Welt ungewöhnlich still. Erst ein neuer, physischer Reiz vermochte ihn zu durchbrechen, indem Cecilia sich neben mir auf die Matratze plumpsen ließ und ihre Hand auf meine Schulter legte.
„Alles okay?"
Ich blinzelte, als diese zwei Worte durch den Nebel meines Hirns brachen und schüttelte mich ein wenig wach.
„Ja... ja klar. Tut mir leid, ich habe nicht zugehört", ging ich davon aus, dass sie mich etwas gefragt hatte und durch meine fehlende Antwort letztlich darauf gekommen war, dass ich mit meiner Aufmerksamkeit woanders war.
„Schon gut, der Anfang war für uns alle schwer. Aber man stellt sich ein Leben im Internat schlimmer vor, als es ist, glaub mir."
„Mag sein. Aber ich habe trotzdem nicht vor, lange hier zu bleiben. Nimm es mir nicht übel", war ich ehrlich, stand auf und schnappte mir die gefalteten Bettbezüge, um etwas zu tun zu haben und dem kleinen Seelsorge-Versuch Cecilias zu entkommen.
„Oh... Achso?"
„Ich bin in einer Woche achtzehn und darf endlich mit meinem Leben anfangen, was ich will. Dann bin ich hier weg."
„Weg?", wiederholte Cecilia überrascht und etwas unbeholfen. „Du bist doch gerade erst angekommen. Was hast du denn vor? Wo willst du hin?"
„Ich weiß noch nicht. Ich finde schon was für den Übergang."
Das Mädchen stutzte und schien das erstmal verarbeiten zu müssen, unterdessen hatte ich das Spannbettlaken an den hinteren Ecken befestigt und bewegte sie dadurch zum Aufstehen.
„Das ist... ganz schön mutig. Ich glaube, ich könnte das nicht. Mein Vater würde mich für verrückt erklären."
Das glaubte ich ihr sofort.
„Wer weiß, vielleicht ist es auch verrückt und ich schieße mir damit selbst ins Bein, aber ich halte das alles nicht mehr aus. Ich will raus. Mein eigenes Leben führen."
Das Spannbettlaken saß und ich war gerade mit Kissen und Decke fertiggeworden, da unterbrach jemand unser Gespräch. Ein rothaariges Mädchen mit wilden Locken streckte den Kopf zur Tür herein und sprach dazwischen: „Hey, wir wollen rüber in den Ort, ein Eis essen und etwas stöbern. Kommt ihr mit? Wir treffen uns gleich am Eingang."
Sie wartete erst gar nicht auf eine Antwort, nickte nur in Richtung Treppen und war dann schon wieder auf dem Flur verschwunden, um die Nachbarzimmer zu informieren.
Ich glaube, dass es Cecilia ganz gelegen kam. Sie fühlte sich sichtlich unwohl bei unserem Gespräch und realisierte langsam, dass es schwer werden würde, zu mir einen Draht zu finden. Ich machte es ihr wirklich nicht leicht, aber ehrlich gesagt hielt ich es für unnötig, hier Bekanntschaften zu vertiefen, wenn ich ohnehin nicht lange bleiben würde.
Trotzdem interessierte mich dieser 'Ort'. Sicherlich gab es dort die nächste Busverbindung. Für meine Geburtstagspläne war es gut, sich mal umzusehen.
„Welcher Ort?", hakte ich also nach und schmiss dabei das fertig bezogene Kissen aufs Bett.
„Der Ort, der hier neben dem Internat liegt. Es ist nicht weit bis da, deswegen gehen wir nach dem Unterricht schonmal rüber und essen was oder so", erklärte mir Cecilia, ehe sie zögerlich hinzufügte: „Willst du hin?"
Erst zuckte ich mit den Schultern, bewegte die Lippen hin und her, bis ich schließlich nickte. „Doch, ja."
Cecilias Miene schien sich wieder aufzuhellen. Ihr Grinsen kehrte zurück und sie begann sofort, die Uniform gegen ebenso schicke Alltagskleidung zu wechseln und sich eine kleine Tasche umzuhängen.
„Ich spendiere dir ein Eis bei Giordano's und wenn wir wiederkommen, führe ich dich ein wenig auf Pauli herum. Vielleicht gefällt es dir hier am Ende ja doch", unterbreitete sie mir freudig ihre Pläne und obwohl ihre Art nerven konnte, gefiel sie mir so besser als eben, weshalb ich ihr die Stimmung nicht wieder verderben wollte, indem ich ihr widersprach.
Mit zusammengepressten Lippen brachte ich ihr ein bemüht zustimmendes Lächeln entgegen und beobachtete zufrieden, wie ihr Grinsen ein Stück breiter wurde.
„Klasse! Auf geht's!"
Schmunzelnd schüttelte ich über mich selbst den Kopf, steckte mir einen Zwanziger ein und folgte Cece den Flur entlang und die Treppen hinab zum Eingang.
Draußen begegnete ich wieder der oberen Hälfte des gegossenen Wolfgang Paulis, der die Gruppe an Schülern, die sich vor seinen Augen tummelten, wachsam musterte. Irgendwie tat er mir leid, wie er da so festgeschweißt auf seinem Sockel hockte — vollkommen irrational, denn es handelte sich schließlich um eine leblose Büste. Seufzend klopfte ich ihm trotzdem im Vorbeigehen auf die Schulter, bevor ich etwas abseits darauf wartete, dass sich die Gruppe in Bewegung setzte.
Wenig später schlenderte ich mit aufgezogener Kapuze und in der Tasche meines dunkelgrauen Hoodies versunkenen Händen neben der fröhlich quatschenden Cecilia die Straße entlang. Die Bewegung tat gut, schaffte etwas Abhilfe gegen meine rastlosen Glieder.
Der Himmel hatte sich seit meiner Ankunft zugezogen und versperrte der Sonne die Sicht, was dem warmen Wetter zugutekam und den aufkommenden Frühabend angenehm abkühlte. Abgesehen von den Gesprächen der Schüler um mich herum prägte die Landschaft eine für mich neuartige Ruhe. Es gab kaum Autos, niemand hupte oder beschwerte sich lautstark über Fahrgewohnheiten der Mitmenschen. Es flackerten keine Lichter, nirgendwo gab es Baustellen, auf denen gehämmert und gebohrt wurde. Nur die Vögel zwitscherten im Hintergrund ihre Abendmelodie und die Luft schmeckte frischer und freier.
Gar nicht so übel, wenn man dem Trubel der Großstadt entkommen wollte, aber ich wusste, früher oder später würde ich ihn vermissen.
Der Ort, der neben dem Internat lag, war eine überschaubare Wohngegend mit dürftiger Ausstattung an Geschäften. Ich zählte auf den ersten Blick eine winzige Pizzeria, eine Eisdiele und neben einem Süßwarenstand und ein paar Krimskramsläden noch ein Klamottengeschäft, das vermutlich kein Bürger unter fünfzig besuchte. Ich hätte diesen Ort eher als ein kleines Dörfchen bezeichnet, ein Provinzkaff, doch es wirkte ganz rustikal und nett. Mir reichte es jedenfalls, dass es eine Bushaltestelle am Ende des mittigen Platzes gab, der die Geschäfte um einen Brunnen mit Wasserspiel herumführte.
Was mir allerdings noch vor der Bushaltestelle ins Auge gesprungen war, war ein Starbucks, der links von mir gut beleuchtet auf sich aufmerksam machte. Er wirkte im Gegensatz zum Rest der älteren Häuser viel zu neumodisch und irgendwie fehl am Platz. Ich schnaubte innerlich bei dem Anblick. So gut wie nichts hatten die hier, aber ein bescheuerter Starbucks, der durfte nicht fehlen. Vermutlich lohnte es sich wegen der ganzen Internatsschüler — die Stammgäste in den meisten hiesigen Betrieben. Und wo viele junge Leute waren, da gab es eben einen Starbucks.
Ich hielt normalerweise nicht viel von dieser Kette. Die überteuerten Getränke waren mir viel zu süß und wurden nur gekauft, weil sie toll aussahen und sich gut für Social Media fotografieren ließen. Ein pures Lifestyle-Produkt.
Und obwohl ich nicht viel davon hielt, nicht mal große Lust auf Kaffee hatte, zog mich dieser Laden auf magische Weise an. Jede Faser meines Körpers wollte zu diesem Starbucks, wollte einfach hineingehen, ohne gewissen Grund, völlig unerklärlich.
Was war denn bitte los mit mir?
Die Krabbelkäfer-Armee nahm Formation an und ordnete ihren Marsch in Richtung Starbucks. Meine Muskeln juckten, hätten mich am liebsten über die Türschwelle geworfen wie einen Footballspieler in die Endzone beim Touchdown.
Ich schob es auf das Heimweh. Vermutlich musste mein Unterbewusstsein diesen sehr abgelegenen, sehr ländlichen Tapetenwechsel mit dem städtischen Starbucks-Flair kompensieren.
Meine Beine hielten es kaum noch aus, wollten sich fast schon selbstständig machen und in diesen blöden Laden steuern, weshalb ich mich an Cecilia wandte und ihr Bescheid gab: „Ich hole mir schnell einen Kaffee. Soll ich dir einen mitbringen?"
„Klar, gern. Ich nehm' einen Vanilla Latte, den liiiiebe ich. Wir treffen uns an der Eisdiele", kam es zurück, ehe der blondierte Nachwuchs der Grafs von dem Rotschopf von vorhin gutgelaunt mitgezogen wurde. Ich nickte noch, obwohl sie das sicher nicht mehr mitbekam und schaffte dem seltsamen Verlangen nach diesem Starbucks endlich Abhilfe.
Die Türschwelle übertreten — ja, ich hatte mich gegen Touchdown-Action und für Sinn und Verstand entschieden — ging es mir gleich besser, als hätte ich einen unbändigen Durst mit einem kühlen Glas Wasser gelöscht. Dabei erblickte ich nichts, was meine metaphorische Kehle so ausgetrocknet haben könnte. Es gab nichts Interessantes oder Außergewöhnliches. Ein normaler Starbucks mit den üblichen Getränken auf der Karte und den üblichen, überteuerten Bagels, Küchlein und Muffins in der gläsernen Auslage. Drum herum so einige Schüler Schloss Paulis, zwischengestreut ein paar wenige Ansässige des Ortes.
Schulterzuckend versenkte ich wie so oft die Hände in der Kängurutasche meines Pullovers und stellte mich in die Schlange, die wohlgemerkt fast bis zur Tür reichte. Diese blöde Café-Kette erfreute sich echt überall großer Beliebtheit. Am liebsten hätte ich mich umgedreht und wäre wieder hinausspaziert, doch mich erfüllte immer noch dieses komische Gefühl, hier und jetzt genau richtig zu sein. Also blieb ich stehen. Auch die Krabbelkäfer.
Zuerst sah ich mir die Karte an, um herauszufinden, was ich mir überhaupt bestellen sollte, schließlich kannte ich mich kaum aus. Doch irgendwann schweifte mein Blick aus Langeweile ein wenig durch den Laden. Am Fenster saßen zwei ältere Damen und tratschten über die Enkelin einer Bekannten. Etwas entfernt erkannte ich dann Cecilias Bruder. Er saß mit drei seiner ebenso dämlich wirkenden Kollegen gut sichtbar am mittigsten Tisch, trank Eistee oder sowas in einem mit dem grünen Logo bestückten Plastikbecher und spielte Karten. Die dicken, goldenen Uhren an ihren Handgelenken musste man noch in hundert Meter Entfernung aufblitzen sehen. Wahrscheinlich konnten die vier sich damit als Fluglotsen auf einen Landeplatz stellen und die Flugzeuge einwinken. Lächerlich.
Wer den drei Großverdiener-Sprösslingen hinsichtlich Auffälligkeit um nichts nachstand, war wiederum ein Typ, der ganz sicher kein Schüler auf Pauli war. Nicht nur, dass er für einen Schüler ein wenig zu alt war — ich schätzte ihn auf Anfang, Mitte zwanzig —, er hatte auch so eine Ausstrahlung, die niemand besaß, der zur Schule ging und gerade noch unsicher aus seiner Pubertät herausstolperte. Obwohl er elegant wirkte und in seinen schicken Sachen eine gute, schlanke Figur machte, wand sich über seine Weste ein ausgeflipptes, buntes Muster, das sich sehr deutlich von dem weißen Hemd darunter abhob und so gar nicht zu seinen makellosen Oxford-Schuhen passen wollte. Zudem versteckte knapp unter seinen leichten, blassblonden Locken eine altmodische Sonnenbrille mit feinem Gestell und dunklen, bläulich getönten Gläsern seine Augen. Gerade als ich mich fragte, warum man bitte in einem Café mit aufgesetzter Sonnenbrille saß, fiel mein Blick auf die gelbe Armbinde mit den drei schwarzen Punkten, die mir bei seiner bunten Weste erst gar nicht aufgefallen war. Gleich darauf bemerkte ich auch den eingeklappten, weißen Stab neben seiner Tasse auf dem Tisch liegen. Ach, der Kerl war blind. Das erklärte so einiges.
Nichtsdestotrotz warf es neue Fragen auf, mit denen ich mich nicht gerade konstruktiv beschäftigte, indem ich nur aus sicherer Distanz starrte. Dieser Blinde war das Spannendste, das ich bisher hier in der Gegend gesehen hatte, nur hatte ich noch nie zu der Sorte Mensch gehört, die andere einfach anquatschte.
Gerade, als mir der frivole Gedanke durch den Kopf ging, dass ich ihn im Gegensatz zu anderen anstarren konnte, so viel ich wollte, er könne es ja eh nicht sehen, bewegte sich sein Kopf in meine Richtung. Erschrocken schossen meine Augen zur Seite.
Hey, der Typ ist blind, was bemühe ich mich so?, erinnerte ich mich. Trotzdem hatte ich das Gefühl, er hätte es irgendwie gespürt. Vielleicht hatten Blinde ja einen sechsten Sinn für sowas.
Hinter mir rief man mich in die Realität zurück.
Der schräge Typ hatte mich dermaßen eingenommen, dass es erst das ungeduldige Pfeifen eines Wartenden benötigte, um mich von ihm zu lösen. Vor mir hatte sich die Schlange ein ganzes Stück voran bewegt und hinter mir wurde es denen, die hereingekommen waren und sie verlängerten, langsam eng. Ich entschuldigte mich knapp, holte auf und vor mir beendete man die Bestellung, sodass ich gegenüber der übermäßig korpulenten Kassiererin zum Stehen kam.
Ich glaube, ich hatte noch nie eine solche Gleichgültigkeit erlebt, dabei hatte mich meine Ziehmutter noch vor wenigen Stunden im Internat abgesetzt und war, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzudrehen, gleich mit ihrer neuen Flamme abgehauen.
Die Dame durchbohrte mich mit derart indolentem Blick, dass man meinen könnte, sie stünde nahe dem Hirntod. Hätte nur noch eine verirrte Mistfliege gefehlt, die um ihr feistes, ausdrucksloses Gesicht kreiste, um dem geistigen Vegetieren einen summenden Heiligenschein zu ziehen, ihm die Krone aufzusetzen.
Summ, summ, summ.
Ihre Haltung war eingesackt, ihre Mundwinkel quetschten zwischen ihren fülligen Wangen nach unten. Die Augen wie blank gefegt, stierte sie regelrecht durch mich hindurch.
Ich versuchte, mich auf meine Bestellung zu konzentrieren und nicht ständig auf ihren gewaltigen Busen zu glotzen, der kaum von ihrem BH und der hässlich geblümten Rüschenbluse gehalten werden konnte. Er sprang mich regelrecht an und machte es mir nicht gerade leicht. Trotz der Klimaanlage bahnte sich ein Schweißtropfen den Weg ihren Hals hinunter, rollte über den linken Hügel ihres fleischigen Gebirges und sammelte sich in der gequetschten Bachrinne in der Mitte.
Summ, summ, summ.
Am liebsten hätte ich die imaginäre Fliege mit der wedelnden Hand verscheucht.
„Willkumme bei Starbugs, dinge Bestellung bitte", leierte sie monoton auf Platt eine Begrüßungsklausel herunter, die ich sonst nur vom Autoschalter des guten Mister McDonalds kannte, doch ich besann mich glücklicherweise und orderte zwei Vanilla Latte. Eigentlich war ich kein Vanille-Fan, nur hatte ich mich viel zu kurz mit der Karte beschäftigt und fühlte mich irgendwie von der misslaunigen Lethargie und den zwei sehr dürftig angeleinten Rundungen unter Druck gesetzt, weshalb ich mich Cecilias Wahl kurzerhand anschloss.
„Name?", blaffte sie und als ich schnallte, dass sie den Namen ja immer auf die Becher kritzelten, erwiderte ich: „Lorien."
„Wat?", kam es direkt zurück und ich wiederholte bemüht deutlich: „L o r i e n."
Sie grummelte irgendetwas unverständliches und schob die Becher dann zu ihrer Kollegin weiter, die die Bestellungen nach und nach befüllte. Ich war mir ziemlich sicher, dass sie meinen Namen nicht richtig verstanden hatte, beziehungsweise sich nicht darum bemüht hatte, ihn zu verstehen, und nach kurzer Wartezeit wurde der Beweis laut durch den Laden gerufen.
„Zwei Vanilla Latte für... äh... L-i-l-a?", las man nicht gerade subtil für alle das falsche Gekritzel der mürrischen Kassendame ab und genervt trat ich vor, um die beiden Plastikbecher entgegenzunehmen.
Lila? Ernsthaft?
So mühelos hatte nicht einmal der Empfangsdrache Schloss Paulis meinen Namen abgetan und dem hatte ich eine Drogenkarriere geheuchelt.
Nach diesem bisher echt furchtbaren Tag brachte mich diese kleine Sache innerlich ungeahnt auf die Palme. Nun war ich so weit, dass ich wirklich aus diesem Laden rauswollte. Ich schnappte mir schnell die Becher, klemmte mir den Strohhalm zwischen die Zähne und steuerte Richtung Tür. Doch gerade, als ich mich nach ein paar rückwärtigen Schritten umdrehen wollte, stieß ich mit jemandem zusammen und erstarrte.
Warme, süß-klebrige Flüssigkeit durchtränkte binnen Sekunden die gesamte Vorderseite meines Hoodies. Ich spürte, wie mir Tropfen an Hals und Dekolleté herunterliefen und der Geruch nach Kaffee und Vanillesirup stieg in meine Nase. Beide Becher waren mir beim Zusammenprall entgegengekommen.
Geschockt waren meine Augen auf dem Schlamassel festgefroren. Der Strohhalm fiel mir aus dem Mund und ich begann fassungslos zu blinzeln, während der Rest des Ladens mich in plötzlicher Stille ansah.
Das konnte jetzt nicht wahr sein.
Aus Wut spannten sich die Muskeln meiner Hände an, festigten den Griff um die Becher und zerdrückten sie wie eine Schrottpresse. Es quoll noch ein Rest des Vanilla Lattes heraus, doch das scherte mich nicht. Dieser Scheiß-Tag brachte mich an meine nervlichen Grenzen und wer auch immer es gewagt hatte, da noch einen drauf zu setzen, war jetzt dran. Peripher hatte ich jemand Großen unmittelbar vor mir ausgemacht.
Na warte.
„Scheiße, verdammt! Im Ernst?! Mach die Augen auf und guck, wo du hinläufst!", platzte es aus mir heraus und obwohl es im ersten Moment guttat, dem Ärger Luft zu machen, hob ich anschließend den Blick und sah auf edlen, bunt-gemusterten Stoff, dann in dunkle, bläulich getönte Gläser.
Mir gegenüber stand der blinde Kerl und sofort bereute ich, was ich gesagt hatte.
Auch der Rest des Ladens hielt gefühlt die Luft an und die älteren Damen am Fenster echauffierten sich im Flüsterton über meine Taktlosigkeit.
„Leider nicht möglich", schwang mir unbeeindruckte Gelassenheit entgegen, ehe der junge Mann seine Brille zurechtrückte und meine Reue verblassen ließ, „vielleicht beruhigen Sie sich erst einmal und beherzigen Ihre eigenen Ratschläge, L-i-l-a."
Jegliches Mitgefühl oder das geringste Verständnis waren genauso schnell verflogen, wie sie aufgekommen waren.
Wie bitte?
Der Typ stieß mit mir zusammen, hatte keinen einzigen Tropfen Kaffee auf seiner bescheuerten Klamotte, während ich quasi darin gebadet wurde, und besaß nicht einmal den Anstand, sich zu entschuldigen?
Blind hin oder her, der konnte mich mal.
Aufgebracht schmiss ich die Becher in den Müll und rauschte an ihm vorbei. Einige kicherten, doch ich kümmerte mich nicht länger darum, sorgte stattdessen dafür, so schnell wie möglich aus diesem verfluchten Café herauszukommen.
Draußen atmete ich einmal tief durch und versuchte, mich zu beruhigen. Und gerade, als ich meinen Pullover in die Hände nahm, um den Kaffee auszuwringen, donnerte über mir der Himmel los.
Erst trafen mich einige wenige dicke Tropfen, dann begann es wie aus Eimern zu schütten und mich vollends zu durchtränken.
Meine Schultern sackten eine Etage tiefer.
Nein, heute war wirklich nicht mein Tag.
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„Mann, dieser Platzregen kam wirklich aus dem Nichts."
Ich konnte Cecilia nur zustimmen, wie ich da triefend nass in unserem Zimmer stand und schniefte. Ich war froh, dass wir wegen des Regens zum Internat zurückgekehrt waren und mir so das Eis erspart geblieben war. Denn nach dem Starbucks-Fiasko war meine Laune im Keller gewesen.
Gleichsam die Laune der Krabbelkäfer. Sie waren zurück.
„Hier, trockne dich ab, sonst erkältest du dich noch", klang meine Zimmergenossin wie eine besorgte Mutter — eine Stelle, die bei mir vor kurzem freigeworden war. Ich nahm das Handtuch entgegen, das sie mir reichte, und fuhr mir damit durch Gesicht und Haar. Wieder fühlte ich mich elend. Ein gelungenes Ende für diesen Tag, an dem einfach nichts Gutes geschehen wollte.
Man hatte mich mitten im Nirgendwo in einem Internat abgesetzt, meine Mutter scherte sich einen Dreck um mich, ich war wie eine Drogensüchtige behandelt worden, ich hatte einen Blinden angeschnauzt, der wiederum hatte mich mit Kaffee übergossen vor versammelten Gästen, die mich für eine 'Lila' hielten und zu guter Letzt war der Himmel auf die Idee gekommen, den Versuch zu starten, mich zu ertränken.
Definitiv ein Spitzenreiter in der Kategorie 'Größter Scheißtag', weswegen ich froh war, wenn ich endlich im Bett lag und ihn mit einer Mütze Schlaf hinter mir lassen konnte. Cecilia allerdings hatte andere Pläne, wie sie mich erinnerte: „Gut, trockne dich ab und zieh dich in Ruhe um. Aus dem Eis wurde ja nichts, aber die kleine Führung durch Pauli kann uns der Regen nicht vermasseln."
Herrje... sie hatte mir ja das blöde Internat zeigen wollen, in dem ich für die nächste Woche festsaß. Noch beim Trocknen meiner Haare hielt ich in der Bewegung inne und öffnete meinen Mund, um sie zu bitten, das doch auf morgen zu verschieben, aber sie ließ mich nicht zu Wort kommen. „Super, das wird toll! Ich sage dir, hier ist es gar nicht so übel. Wir haben spitzenmäßige Aufenthaltsräume, eine riesige Bibliothek und nachts schleichen wir uns manchmal in die Küche und stibitzen die Reste vom Nachtisch."
Innerlich seufzend fügte ich mich ihrer Begeisterung, aber nur wegen der Hoffnung, dass wir in besagter Küche vorbeischauten. Eine kleine Nascherei täte meiner geschundenen Seele gut und ich betete für irgendetwas schokoladiges.
Nachdem ich mich umgezogen und meinen mit regen-verdünntem Kaffee besudelten Hoodie gegen ein gemütliches Sweatshirt getauscht hatte, gingen wir los. Cece zeigte mir die Klassenzimmer, die große Aula, den Speisesaal, die Aufenthaltsräume und vom Fenster aus die Außenbereiche, deren Spielfelder und sonstige Angebote durch den Regenschauer unter Wasser standen.
Ich nickte viel, überließ Cece das Reden. Ich war ausgeknockt und eigentlich interessierte mich dieses Gebäude kaum. Das, was mich interessierte, war die Küche, in der wir nach den mehr oder minder sehenswürdigen Räumlichkeiten auch endlich landeten. Und nachdem ich mein Pech für diesen Tag vollständig aufgebraucht hatte, gönnte man mir einen Jackpot: Es hatte heute Schokoladenpudding gegeben. Mir ging es gleich besser, als ich mir einen großen Löffel in den Mund schob.
„Und? Wie gefällt dir Schloss Pauli?", fragte Cecilia mich irgendwann, nachdem wir eine ganze Weile schweigend auf einer Küchenzeile gesessen hatten. Nun, wo ich Schokopudding hatte, kehrten meine Kräfte ein wenig zurück und ich rang mich zu dieser Unterhaltung durch.
„Es ist schön hier."
Cecilia lächelte zufrieden. Umso schwerer fiel mir, es ihr wieder nehmen zu müssen. Aber ich wollte ehrlich sein.
„Ich werde trotzdem nicht bleiben."
Sie sah mich verwirrt und etwas bedrückt an. Ich senkte den Löffel.
„Mir gefällt das Schloss, wirklich, aber ich gehöre einfach nicht hierher. Ich... ich habe das Gefühl, dass etwas anderes auf mich wartet, weißt du."
Witzig, dass ich das in dem Moment so formulierte. Damals, dort auf dieser Küchenzeile, hatte ich damit eigentlich nur eine Ausbildung in der Großstadt gemeint. Dabei hatte ich ja nicht ahnen können, welches Leben tatsächlich auf mich wartete.
Cecilia aber nickte langsam.
„Ja, verstehe... Ich hoffe, du hast trotzdem eine schöne Woche hier."
Wir lächelten uns an, ehe sie mir noch eine Schüssel Pudding anbot, die ich ebenso schnell aufgegessen hatte wie die Erste. Anschließend machten wir uns auf den Rückweg, doch plötzlich gab es wieder eine Störung im Magnetfeld meines Krabbelkäfer-Kompasses.
Ihre unzähligen kleinen Beinchen lockten meinen Blick auf einen Nebenkorridor. Ich bezweifelte, dass sie hier auf Schloss Pauli überteuerte Süßgetränke verkauften und fragte mich, wonach es meine nervtötenden Parasiten diesmal verzehrte.
„Was liegt dort drüben?", wandte ich mich an meine blondierte Reiseführerin, die sich schockiert die Hand vor den Mund schlug.
„Das hätte ich glatt vergessen! Wie konnte ich das vergessen?", schwappte es wie ein Schwall Wasser aus ihr heraus, ehe sie mich aufgeregt mit sich zog. „Komm!"
Ich bemerkte schnell, dass Cecilia auf diesen Teil der Führung besonders stolz war und schon, als ich den ersten Fuß in den Raum setzte, sah ich auch wieso.
Es war atemberaubend. Die hohe Decke war abgerundet und verziert mit kunstvollen Malereien. Zu beiden Seiten erstreckten sich Reihen über Reihen von Bücherregalen mit unzähligen Werken und an jeder Wand verlief oben eine zweite Etage, die weitere Nischen voll Bücher sowie Tische und Sitzgelegenheiten beherbergte. Alles war in einem ästhetischen, altmodischen Stil gehalten und voller verschnörkelter Muster. Einige Vitrinen boten seltene Stücke zur Auslage und die Gänge bewachten Büsten aus Marmor, die es wohl nicht nach draußen zum oberen Teil Wolfgang Paulis gebracht hatten.
Zweifellos. Die Bibliothek des Internats. Und was für eine.
„Wow..."
Staunend ging ich weiter in den Raum, der bei Tageslicht sicherlich noch beeindruckender gewirkt hätte. Trotzdem war das Meiste zu erkennen und das reichte mir bereits.
„Wahnsinn, oder? Ich bin keine Leseratte, aber die Atmosphäre hier hüllt einen echt ein", erwiderte Cece schmunzelnd, worauf ich nur nickten konnte. Ich hatte es normalerweise auch nicht so mit Büchern, aber in dieser Bibliothek bekamen sie das erste Mal etwas Magisches für mich.
Nach einer Weile der Stille, die ich mit Bewunderung verbrachte, nahm ich plötzlich eine leise Stimme wahr. Es klang wie ein Flüstern, weit entfernt und doch irgendwie unheimlich nah. Ich konnte die Worte nicht verstehen, es war zu wirr, zu verschwommen und außerdem genauso schnell wieder verschwunden, wie es gekommen war. Verwirrt blinzelte ich.
„Hast du das gehört?", wandte ich mich an Cecilia, die die Stirn runzelte.
„Nein. Was meinst du?"
„Ich dachte, ich hätte jemanden Flüstern hören..."
„Flüstern?", wiederholte Cece und sah sich konfus um. „Aber hier ist doch niemand außer uns."
Auch ich ließ den Blick nochmal durch die Bibliothek schweifen, konnte aber nichts und niemanden in den Schatten der hohen Bücherregale ausmachen. Trotzdem war ich mir sicher, dass ich es gehört hatte, dass ich es mir nicht eingebildet hatte.
„Es sei denn, mein Bruder und seine Freunde finden es mal wieder urkomisch, den Mädchen einen Streich zu spielen", überlegte Cecilia, trat einen Schritt vor und rief genervt patzig durch den weitläufigen Raum. „Sehr witzig, Oliver!"
Sie verdrehte darüber die Augen, schüttelte den Kopf und wandte sich dann zum Gehen. Ich hingegen war mit dieser Erklärung nicht befriedigt. Etwas in mir wusste, dass das eben nicht der dämliche Oliver gewesen war. So hatte es sich nicht angehört und ebensowenig angefühlt.
Auf einmal bekamen die vielen Regale und Gänge, die nur vom Mondlicht beleuchtet wurden, das durch die hohen Fenster schien, einen unheimlichen Beigeschmack. Die Magie der Bücher wurde nebensächlich. Stattdessen wuchsen den etlichen Bänden Augen und ich machte mir vor, dass sie mich gemeinsam mit den Wandmalereien und Büsten beobachteten. Ich wusste, das war irrational und schwachsinnig, doch ich wurde das dumpfe Gefühl nicht los, dass sich in den Schatten der vielen Geschichten und Autoren etwas verbarg.
Eilig folgte ich Cecilia auf den Flur und war froh, als ich diese Bibliothek hinter mir lassen konnte. Vielleicht hatte mich dieser ganze Tag einfach zu sehr mitgenommen. Schokopudding hin oder her, ich war ohne Frage ausgelaugt. So echt dieses Flüstern auch gewirkt hatte, es war niemand da gewesen.
Und Bücher konnten schließlich nicht sprechen.
Oder?
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