➺ 16.✍︎
𝓐𝚄𝚂 𝓖𝙻𝙰𝚂 𝚄𝙽𝙳 𝓟𝙾𝚁𝚉𝙴𝙻𝙻𝙰𝙽
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„🅂ehr gut, noch ein wenig mehr, sonst sitzt sie zu locker."
Es war später Nachmittag. Gemeinsam mit Silvius saß ich im Wohnbereich und übte das Beladen des Fesselsiegels. Mein letzter Versuch war schließlich kläglich nach hinten losgegangen und da wir darauf warteten, dass das Abendessen fertig war, füllten wir die leeren Minuten mit einer kleinen Lehrstunde.
„So?"
„Ganz genau. Für die meisten Festnahmen reicht das schon", kommentierte der Magister die Energiemenge, die ich in die Fessel in meinen Händen gepumpt hatte. „Deine letzte nächtliche Dosis wird nur ein DEF für mächtige Fiktive oder Metawesen benötigen."
Peinlich berührt kaute ich auf meiner Unterlippe und nickte. Dass meine letzte Fessel-Darbietung kein rühmenswerter Erfolg gewesen war, hatte mir Atticus bereits sehr deutlich gemacht. Zum Glück trieb sich mein Partner gerade woanders herum.
„Hüter zu sein ist schwieriger, als es aussieht...", sprach ich meine Gedanken laut aus, den Blick hinab auf die schimmernde Fessel in meinen Händen gesenkt. „Es steckt so viel Theorie und Übung dahinter..."
„Oh, in der Tat, die Ausbildung erfordert weitläufige Fertigkeiten. Wir Hüter sind quasi Komplettpakete. Man schickt uns in Buchwelten und erwartet, dass wir jedes Problem lösen, das dort gerade anfällt. Wir sind Hüter, aber auch zeitgleich Ermittler, Entdecker, Diplomaten und Abenteurer", erwiderte Silvius, ehe er ermutigend hinzufügte: „Noch kein Hüter ist vom Himmel gefallen, Lory. Wir alle mussten lange lernen."
Ich bemühte mich eines Lächelns, doch es stolperte nur schief über meine Lippen.
„Ich selbst habe die Verbindung zu meiner Energie erst ein Jahr nach allen anderen Kindern meiner Truppe gefunden", erzählte mir der Magister und ich staunte: „Wirklich?"
Er nickte mit einem theatralischen Seufzen.
„Es war furchtbar. Und dagegen bist du doch ein Naturtalent."
Tatsächlich hellte sich mein Gesicht ein wenig auf und wir schmunzelten uns vergnüglich zu. Jener kleine Moment der Leichtlebigkeit wurde von Atticus' befehlshaberischer Stimme zerstampft, als der Hüter hereinrauschte und dabei beorderte: „Das Abendessen fällt heute aus, Lila. Medialer Alarm."
Überrumpelt starrte ich ihn an. Wieder ein Einsatz?
Mein Magen knurrte unliebsam, als beschwerte er sich höchstpersönlich über die verloren gegangene Aussicht auf eine Mahlzeit.
Der Magister neben mir stand augenblicklich auf und wollte wissen, worum es ging.
„Im Märchen Aschenputtel benötigt man unsere Hilfe. Für unsere Tarnung gab es eine Einladung zum Ball."
„Es scheint dringend", fügte Ozias hinzu, der im Türrahmen erschien und sein Monokel richtete.
Märchen? Ball? Oh Gott... Dafür war ich nicht gemacht...
Plötzlich streckte auch Evelle, die aus der Küche geflattert kam, ihren Kopf in den Raum und setzte mit überflügeltem Enthusiasmus noch einen drauf. „Habe ich da Ball gehört?"
„Es geht um einen Einsatz, Evelle. Niemand wird wie Prinz und Prinzesschen aufgetakelt, klar? Wir wollen nicht auffallen."
Ich wusste, dass Eve sich kein Stück davon beeindrucken lassen würde. Ich würde in einem pompösen Ballkleid enden. Die Vorstellung allein jagte mir einen Schauer über den Rücken.
„Überlasst das mir", ging die Fee kaum auf Atticus' warnende Worte ein, zog sich die Küchenschürze aus, legte den Kochlöffel beiseite und flatterte aufgeregt in Richtung ihres Ateliers. Kurz bevor sie den Flur betrat, drehte sie sich erwartungsvoll zu mir um.
„Allez, Chéri!", animierte sie mich mit einem Händeklatschen zum Aufstehen, worauf ich ihr hastig hinterherstolperte.
Während Atticus die Augen verdrehte, trat Silvius an ihn heran und ich bekam im Augenwinkel noch mit, wie der Magister ihm riet: „Seid vorsichtig. Es geht merkwürdiges in den Reihen der Fiktion vor."
Dann zog mich die Schneiderfee auch schon in ihr Arbeitszimmer und platzierte mich in der Mitte des überfüllten Raumes. An den üblichen, weiß-bauschigen Unterhosen erkannte ich sofort, dass ich mit meiner Vermutung goldrichtig gelegen hatte. Was ich nicht ahnte, war, dass die vorigen Kleider gegen das, was sie diesmal plante, reines Zuckerschlecken gewesen waren.
Offenbar arbeitete sie schon eine Weile an Kleidern für mich, denn den ersten Teil der mir bevorstehenden Höllenfahrt, das Korsett, hatte sie direkt griffbereit.
„Oh, bitte nicht...", jammerte ich beim Anblick des
stocksteifen Schnürleibs, doch Evelle kannte keine Gnade: „Oh, doch. Auf einem Ball wird ein Ballkleid getragen, keine Widerrede."
Die Schneiderfee legte mir das Foltergerät um den Torso, griff sich die ersten Schnüre und zog kräftig zu. Als hätte die Grinsekatze mir durch mein Schild eine Ladung Energie geraubt, blieb mir die Luft weg. Das starre Geschirr griff um meinen Körper wie eine Würgeschlange und ich meinte, meine Rippen in meinem Brustkorb ächzen zu hören. Ich besaß nicht die Chance, mich zu wehren, denn mit jeder Schnüre tiefer presste Evelle kostbaren Sauerstoff aus meinen Lungen und nahm ihnen gleichzeitig die Möglichkeit, neuen einzusaugen. Wollte sie mich erdrosseln?
„Nicht... noch enger...!", sammelte ich jede verbliebene Luft und pumpte sie zwischen meine Stimmbänder, aber es klang wie ein verkorkstes Röcheln.
„Stell dich nicht so an, Chéri!", schimpfte die Schneiderfee, die sich just mit einem Fuß gegen die Kommode stemmte, um mehr Kraft für die engsten Schnüre der Taille zu generieren. Ich fühlte mich wie ein Gaul, den man vor den Karren spannte. In diesem Moment war ich heilfroh, vorher nichts gegessen zu haben.
Als sie fertig war und das Korsett stand, hatte es vermutlich jedes meiner Organe umsortiert. Ich wagte kaum, mich zu bewegen, aus Angst, eines könne platzen. Evelle hingegen schien zufrieden, denn sie nickte sich selbst zu und klatschte die Hände nach getaner Arbeit aneinander ab.
Es folgte ein nicht minder steifes Mieder, das sie mir um den in Form gepressten Oberkörper legte und hinten verband. Vorsichtig berührte ich es, da ich kaum glauben konnte, was meine Augen mir sagten, doch es bestand tatsächlich aus blauem Porzellan. Zur Hüfte hin dunkel, verblasste es oben zur Brust in helles Pastell, während die Konturen meines Körpers aus verspieltem Silber und funkelnden Steinen verbrämt wurden.
Nicht auffallen ging anders.
Ich klopfte mit der Faust dagegen und es machte ein dumpfes, hartes Geräusch. Herrje, das Teil ging ja fast schon als Brustpanzer durch.
Zum Schluss befestigte sie an den Seiten der Brust lange, lockere Virago-Ärmel aus feinem, transparentem Stoff, die erst unter meinen Schultern begannen. Der Rock schloss sich an, wurde unter dem Mieder am Korsett befestigt. Zu meiner Überraschung bildete er einen starken Kontrast zu dem edlen Oberteil. Ohne einen Reifrock oder steifen Tüll fiel er glatt herab. Der tiefe Stoff war so dunkelblau wie der untere Ansatz des Mieders. Darüber legte sich eine transparente Seide, die den Ärmeln nachempfunden war. Nur irgendwie passte es nicht ganz ins Bild. Ballkleider hatte ich mir lächerlich aufgebauscht vorgestellt.
Evelle bemerkte meinen kritischen Blick.
„In den Stoff ist eine Energiereserve eingewebt", erklärte sie mir. „Beim Sprung in die Fiktion lädt der Portalsturm sie auf und das Kleid erblüht. In voller Pracht kämest du hier kaum durch eine Tür."
„Ist ja krass...", blinzelte ich und musste zugeben, dass ich darauf schon gespannt war. Man führte mir hier tagtäglich neue magische Dinge vor.
„Oh, und falls es dich während des Einsatzes stören sollte, kannst du ihm die Reserve jederzeit entziehen", fügte die Schneiderfee stolz hinzu und ich musste ihr diesen hilfreichen Kunstgriff anrechnen.
„Aber das Beste kommt erst noch."
Mit den Worten flatterte die Fee in den Nebenraum und kam mit einem Paar Schuhe wieder heraus, die all mein Staunen erstickten. Der Absatz war dabei mein geringstes Problem.
„Glasschuhe?!", echauffierte ich mich. „Eve, ich bin nicht Cinderella!"
„Wohl wahr. Weit entfernt", erschien Atticus stichelnd im Türrahmen und ich warf ihm einen scharfen Blick zu.
„In den Dingern wird sie nicht laufen können. Gib ihr etwas anderes."
Irgendwie wurmte es mich, dass er mir meine Grenzen aufbaute. Natürlich würde ich in diesen Knöchel-Tötern nicht laufen können, doch das entschied ich immer noch selbst.
„Ich hätte auch noch silberne Pantoffeln...", bot die Schneiderfee an, aber mein Sturkopf nahm ihr ruppig die Glasschuhe aus der Hand.
„Nein, ich krieg' das schon hin", zischte ich böse, schlüpfte in die gläsernen Absätze und stellte mich — nach zwei kleinen Wacklern — demonstrativ gerade hin. Dass ich diese Entscheidung schon nach wenigen Sekunden bereute, ließ ich mir nicht anmerken. Gott, waren die Teile unbequem!
„Aschenputtels gläserne Schuhe wurden vornehmlich von Charles Perraults Version des Märchens geprägt. Ebenso die gute Fee, die aus Kürbissen Kutschen und aus Mäusen weiße Pferde zauberte. In der Version der Gebrüder Grimm trug sie goldene Pantoffeln", eröffnete Atticus uns einige literarische Fakten, wollte uns wohl die angebotenen Pantoffeln schmackhaft machen und ich sympathisierte sofort mit Grimms' Aschenputtel. Im Gegensatz zu mir hatte sie Mitleid mit ihren Füßen gehabt und ihren Stolz heruntergeschluckt. Kluge Frau. Die Pantoffeln waren sicherlich um einiges bequemer gewesen.
„Sollen die Dinger so eng sitzen?", machte ich meiner Qual subtil Luft, doch Evelle verstand den Wink nicht: „Natürlich, sonst hast du keinen Halt!"
Atticus grinste hämisch. „Grimms Stiefschwestern hackten sich Versen und Zehen ab, um in Aschenputtels Schuhe zu passen."
„Ich klebe dir ein paar dünne Polster ein", ignorierte Evelle den bissigen Hüter, ehe sie ihn anwies: „Atty, stell du dich schonmal her, du bist als Nächstes dran!"
Das war mein Stichwort. In dem Wissen, dass er sich gleich wieder schamlos vor mir ausziehen würde, setzte ich mich in den vollgepfropften Nebenraum und ließ mir von Evelles schwebender Bürste das Haar machen, während die Fee sich meinem Partner annahm. Aber da er weder Korsett noch Glasschuhe anbekam, dauerte es nicht lang. Als mein Haar fertig war — die Seiten wurden zurückgeflochten und hinten kunstvoll hochgesteckt —, war auch Atticus fertig, der in seinem taillierten, farblich auf mich abgestimmten Gehrock eine gute Figur machte. Äußerlich konnte man ihn glatt mit einem Märchenprinzen verwechseln, doch ich wusste, was dort hinter den blassgoldenen Haarwellen steckte. Ein Prinz ganz sicher nicht.
Gemeinsam gingen wir hinüber zur Bibliothek, wo Ozias bereits das Portal für uns vorbereitet hatte. Zu meiner Überraschung hatte Atticus noch etwas für mich. Wortlos übergab er mir einen Gurt für meinen Oberschenkel. Daran befestigt waren ein Spurleser, ein Aufnahmegerät, ein Fesselsiegel und etwas, dass aussah, wie ein kleiner, lederner Beutel. Ich bekam meine eigene Ausrüstung!
Zwar fehlte eine Waffe, aber abgesehen davon war alles dabei. Ich wollte keine große Sache daraus machen. Nur ein kleines, zufriedenes Grinsen konnte ich mir nicht verkneifen, als ich mir den Gurt am Bein festzurrte und das kalte Metall der Fessel auf meiner Haut spürte.
„Gut. Gehen wir", trat Atticus an den Portalsturm heran, der uns ins Märchen Aschenputtel führen sollte. Bereit stellte ich mich neben ihn, versuchte auf meinen Glasschuhen nicht zu wackeln, die dank Evelles Polsterung wenigstens keine blauen Flecken mehr in meine Zehen quetschten und signalisierte ihm, dass es losgehen konnte. Furchtlos trat ich mit Atticus in den in die Tiefe ziehenden Strudel, ließ mich von ihm verschlucken und hieß die altbekannte Schwerelosigkeit willkommen.
Wir landeten auf feuchtem Gras. Atticus Hand stabilisierte in meinem Rücken meine Landung, doch ich konnte mit Stolz behaupten, dass ich diesmal wohl trotz leichtem Wanken stehen geblieben wäre.
Der Rasen unter meinen Absätzen war penibel getrimmt und vor uns türmte sich eine ebenso feinsäuberlich in Kastenform geschnittene Hecke auf. Etwas entfernt plätscherte ein verschnörkelter Brunnen, den eine Pracht rosa Lilien säumte. Wir waren offenbar im Schlossgarten gelandet. Zwischen den kleinen Blättern der Hecke funkelten die Lichter der Eingangstreppen hindurch und das knarzende Geräusch vorfahrender Kutschen drang über aufgeregtes Gerede und schnaubende Pferde.
Ich wollte mich gerade auf den Trubel zubewegen, da spürte ich, wie sich der Rock meines Kleides zu regen begann. Perplex hielt ich inne und staunte nicht schlecht, als Evelles Kreation ihrem Versprechen nachkam. Der Rock blühte auf wie eine Rose. Der dunklere Unterstoff bauschte sich auf, während den feinen, transparenten Überzug ein Schimmer durchfuhr. Er kletterte die silbernen Konturen meines Porzellan-Mieders hinauf und rollte wie eine Welle bis über meine Ärmel. Überall hinterließ er ein magisches Glitzern, sodass es aussah, als wäre ein Teil des sternengeschmückten Sternhimmels in meinem Kleid gefangen.
Mit großen Augen hob ich die Arme, sah an mir herab und beobachtete das Schauspiel.
Der Rock besaß nun die perfekte Länge, schwebte gerade so wenig über dem Boden, dass es aussah, als ginge er nahtlos in ihn über. Evelle war eine wahrhaftige Künstlerin. Meine gute Fee.
„Wahnsinn...!", schnaufte ich sprachlos und sah hinüber zu Atticus, der mich ebenfalls gebannt anstarrte, als könne er nicht glauben, was Evelle aus mir gemacht hatte.
„Ist Evelle eine Künstlerin oder was!", fragte ich rhetorisch und als mein Partner mir nicht antwortete, schob ich hinterher: „Atticus?"
Ich war ehrlich: In dem Moment hätte ein Kompliment ganz gut getan. Zuvor noch als gewöhnlich betitelt, erhoffte ich mir eine etwas angenehmere Beschreibung meines Aussehens, doch ich bekam nur dicke Luft.
Der Hüter fing sich blinzelnd und statt eines Kompliments beschwerte er sich murrend: „Nein, Eve hat das Prinzip der Tarnung nicht verstanden."
Der kurze Moment, in dem ich mich wunderschön gefühlt hatte, verflog bei seinem Ärger, von dem ich das Gefühl nicht loswurde, dass er vor allem sich selbst galt. Die Sommersprossen auf meinen Wangen zuckten verstimmt, als ich das Gesicht verzog. Mit verschränkten Armen imitierte ich seine Stimme und legte ihm vorwurfsvoll die Worte in den Mund, die er hätte erwidern sollen: „Oh ja, du siehst wirklich hübsch aus, Lila."
Atticus hob die Brauen, doch ich ignorierte ihn.
„Gehen wir", meinte ich stattdessen genervt und manövrierte meine voluminöse Präsenz an der Hecke vorbei. Ich konnte Atticus' Augenverdrehen regelrecht hören, ließ mich aber nicht beirren. Ihm voraus erreichte ich den kiesbelegten Vorhof. Fein gekleidete Herrschaften stiegen dort aus ihren Kutschen, schritten anmutig von ihrem Partner oder hoffnungsvollen Elternteilen begleitet auf die Schloss Tore zu, stolz, dem Ball am Königshofe beiwohnen zu dürfen.
In der Nähe der Treppen wurde ich langsamer. Wachen kontrollierten die Einladungen. Zögerlich wollte ich mich zu meinem Partner umdrehen, just in dem Moment tauchte Atticus neben mir auf und reichte mir manierlich seinen Arm. Ich tat es den umgebenden Damen nach und ließ mich von ihm zu den Wachen geleiten, obwohl ich ihm den blöden Arm lieber gebrochen hätte.
„Ihre Einladung, werter Herr", verlangte der Empfang.
„Die Fee der Königin erwartet mich", entgegnete Atticus ihm und zeigte dem herausgeputzten Herrn den Porticus auf seiner Handinnenfläche. Mit bedeutsamem Nicken machte man uns Platz und ließ uns passieren.
„Das Medium hier ist die gute Fee...?", raunte ich die Frage meinem Partner zu. Der nickte.
„Halte Ausschau nach ihr. Du erkennst sie, wenn du sie siehst."
Gerade, als ich ihm bedeuten wollte, dass ich verstanden hatte, knickte ich auf den Stufen weg. Meine Sneaker verwöhnten Knöchel waren für diese Art von Schuhen einfach nicht gemacht. Da ich mich bei Atticus eingehakt hatte, fing er mein ungelenkes Manöver ab und zog mich mit einem gereizten Seitenblick wieder zurecht. Ein verlegenes Lächeln trieb mich an den verdutzten Wachen vorbei, während mein Partner mir zuraunte: „Ich sagte doch: Nimm andere Schuhe."
„Und ich sagte: Ich krieg' das schon hin...!", zischte ich zurück, löste mich vorwurfsvoll aus seinem Griff und wählte meine Schritte bedachter.
Wir betraten den Ballsaal des königlichen Palasts, der um einiges prunkvoller war als das Schloss des Wunderlandes. Der Charme eines Märchens steckte in jedem Stein, zwischen jeder Fuge und inmitten jedes Dekors des Gemäuers, ließ es verträumt strahlen. Oben auf der Empore spielte ein kleines Orchester Musik für die Gäste, die in der Mitte des Saals miteinander tanzten. Es waren so viele Leute.
Egal wie oft ich die Menge mit meinen Augen abfuhr, ich konnte niemanden entdecken, der einer guten Fee auch nur nahekam. Obwohl die anwesenden Damen zauberhaft herausgeputzt waren. Ich bewunderte die edlen Kleider, den funkelnden Schmuck und ihre weiß-gepuderte Haut. An Evelles Meisterwerk kam nichts heran, trotzdem stach ich nicht so heraus, wie ich es angenommen hatte. Apropos Evelles Meisterwerk... mit jeder Minute wurden die Schuhe unbequemer und das Korsett einengender. Ich hoffte, wir erledigten bald, was es zu erledigen gab. Leider schien auch Atticus das Medium nicht finden zu können.
„Guten Abend. Darf ich die reizende Dame um den nächsten Tanz bitten?"
Eine fremde Stimme unmittelbar vor mir riss mich aus meiner Suche und ließ mich blinzelnd auf einen jungen Mann in hellem Gehrock starren. Sein dunkles Haar war glatt zurückgekämmt und sein Blick wirkte gleichsam verzückt und hoffnungsvoll.
Sprach er mit mir? Es sah so aus...
Selbst seine Hand und seine angedeutete Verbeugung zielten geradewegs auf mich.
Ich spürte die Überforderung in meiner versteiften Körperhaltung, obgleich ich zugeben musste, dass ich geschmeichelt war. Man wollte tatsächlich mit mir tanzen. Mit mir! Dabei gab es so viele schöne Frauen in diesem Saal.
Intuitiv begann ich zu lächeln und bestärkte unwillentlich die Hoffnung des jungen Mannes, der kurz darauf harsch von Atticus zurückgewiesen wurde: „Die Dame tanzt bereits mit mir."
Überrascht über den scharfen Tonfall wurde ich Zeuge eines Duells der nadelspitzen Blicke zwischen den beiden Männern. Dass ich das Objekt des Streits darstellte, realisierte ich kaum. Ich wusste, dass Atticus die Mission verteidigte, aber das konnte man doch auch gepflegter regeln.
„Ich sehe euch nur herumstehen und eure wundervolle Begleitung langweilen", kam es mit einem provokant manierlichen Lächeln über die Lippen des fremden Herrn. Er konnte froh sein, dass Blicke nicht töten konnten, sonst hätte Atticus' eisiger Blick ihn gnadenlos hingerichtet.
Mein Partner ging nicht mehr auf ihn ein. Wortlos drehte er sich zu mir um und bot mir seine Hand an.
Forderte er mich zum Tanz auf?
Ich schaffte es nicht mehr, die schmeichelhafte Einladung des fremden Gasts höflich abzulehnen. Ich war regelrecht gebannt von den hellen, grau-blauen Augen des weißblonden Hüters, während ich meine Hand in seine legte und mich von ihm auf die Tanzfläche führen ließ. Geübt in seinem Tun platzierte er unsere Hände neben uns in der Luft und legte seine Freie an meine Hüfte. Es fühlte sich anders an als bei Caspian. Viel bestimmter, wie die Resonanz seiner groben Art. Doch als er zu tanzen begann, verschwand seine Schroffheit. Seine Bewegungen wurden flüssig, anmutig.
Verdammt! Warum tanzte er wie ein junger Gott?!
Gab es auch etwas, dass die ihm drunten in der Hölle nicht beigebracht hatten?!
Plötzlich wurde ich wieder nervös. Im Vergleich zu ihm war ich ein Trampeltier. Ich erwischte seine Füße viel zu oft und konnte kaum mithalten. Langsam kehrte die grobe Ader zurück in seine Berührungen, während er versuchte, mich hinter sich herzuziehen.
„Du tanzt grauenvoll", brummte er angestrengt.
„Danke, das weiß ich selbst! Ich kann nicht tanzen!", zischte ich angespannt zurück, worauf Atticus forderte: „Du bist stocksteif und viel zu verkrampft. Lass locker, nimm den Takt in dir auf."
„Nimm den Takt in dir auf", äffte ich ihn verzweifelt nach. „Das ist genauso hilfreich wie: Spüre die Energie in dir. Wenn ich wüsste, wie man das macht, sähe ich anders aus!"
Der Hüter schnaubte, hörte auf zu tanzen und zog mich an den Rand der Tanzfläche. Sich vor mich positioniert, zog er mich näher und packte meine Schultern, um sie leicht durchzuschütteln. Anschließend sog ich scharf die Luft ein, da seine Hände um meine Hüften griffen, um mich dort aufzulockern.
Damit fertig trat er um mich herum und korrigierte meine Haltung. Rücken gerade, Schultern runter, Kopf aufrecht.
Ich hörte seine raue Stimme nahe an meinem Ohr: „Schließ die Augen."
„Wieso?", schoss es aus mir heraus, fast wie ein Reflex.
„Augen schließen."
Ich seufzte, tat aber, was er von mir wollte.
„Und jetzt hör einfach auf die Musik."
Ich konzentrierte mich auf die Melodie des kleinen Orchesters, das auf der Empore spielte und spürte, wie Atticus unterdessen meine Hand und Hüfte an sich nahm, um unseren Tanz wiederaufzunehmen. Im ersten Moment hatte ich Angst, ich würde mit geschlossenen Augen stolpern oder ihm nur noch fester auf die Füße treten, doch zu meiner Überraschung funktionierten wir gleich viel flüssiger. Ich folgte Atticus blind über die Tanzfläche, achtete einfach auf die Musik und den Takt, den sie uns vorgab. Ich bekam das Gefühl, regelrecht zu schweben und lächelte, ehe ich meine Augen wieder öffnete.
„Besser", kommentierte er trocken, trotzdem wusste ich, dass das ein Kompliment gewesen war. Ich konnte mein Gesicht nicht vom Lächeln abhalten. Freudig tanzte es mit mir über das Parkett und sammelte sich warm in meinen Wangen.
Atticus wirkte irgendwann fast belustigt von meiner kindlichen Freude. Seine Hand löste sich von meiner Hüfte und brachte Abstand zwischen uns, um meinem Rock Platz zu schaffen. Dann ließ er mein Kleid in einer eleganten Drehung um meinen Körper wirbeln und ich spürte die Blicke der Herren um uns herum an mir kleben. Ich hatte mich selten so feminin und ansehnlich gefühlt. Ich war es nicht gewöhnt.
Und obwohl ich es genoss, musste ich den angenehmen Fluss des Tanzes schweren Herzens unterbrechen, als meine Augen oben auf der Empore an einer schimmernden Dame hängenblieben. Ihre Flügel verrieten mir sofort, um wen es sich handelte, und ich machte Atticus auf sie aufmerksam. Der Hüter hielt inne und schaute zu ihr auf, ehe er schnellen Schrittes von der Tanzfläche zu den Treppen ging. Die Dame verschwand wissentlich und ich begann, hinter meinem Partner herzueilen.
Den riesigen Rock gerafft, beförderte ich mich mühselig in das obere Stockwerk des Palasts und erreichte Atticus, als er bereits auf die hiesige gute Fee gestoßen war.
„Danke, dass ihr so schnell kommen konntet", hörte ich sie reden. „Hier entlang."
Sorge durchtränkte die glockenklaren Worte der Fee, floss durch ihre Augen und die gesamte Haltung ihres Körpers. Darunter mischte sich noch etwas.
Angst.
Alles schien bisher so märchenhaft wie ich es erwartet hatte. Keine Spur von Störfaktoren. Was also ging hier vor?
Ich tauschte einen kurzen Blick mit Atticus, dann eilten wir ihr nach. Sie führte uns in ein anliegendes Zimmer, einen kleinen Salon mit Balkon. Doch es ging weder um die Räumlichkeiten noch um irgendwelche Fremdkörper. In der Mitte des Salons, auf einer der Couches, lag ein Mann. Ein Diener, seiner Kleidung nach zu urteilen. Und obwohl kein Fremdkörper weit und breit zu sehen war, beschlich mich dasselbe düstere Gefühl bei seinem Anblick.
Seine Haut war leichenblass. Der kalte Schweiß rann ihm an den Schläfen hinunter und ließ sein Haar dunkel und strähnig erscheinen. Sein Atem ging schwer und seine glasigen Augen wanderten erratisch umher. Etwas stimmte nicht mit ihm, fernab jedweder biologischen Erklärung. Als sich seine Hände schmerzvoll in die Tagesdecke unter ihm krallten, fiel mein Blick auf seine Fingerspitzen. Sie waren beinahe durchsichtig.
„Jeffrey, der Kammerdiener unseres Königs, verschwand vor kurzem. Als er wieder auftauchte, fanden wir ihn verwirrt im Garten. Er behauptete, er könne sich nicht erinnern, wieso und wohin er verschwunden war. Abgesehen von leichter Schwäche ging es ihm gut. Seit zwei Tagen verschlechterte sich sein Zustand dann zunehmend. Wir dachten anfänglich an eine schwere Grippe, doch heute Morgen fielen mir seine Hände auf...", erzählte die Fee mit furchtsamer Stimme.
Auf der Stirn meines Partners bildeten sich tiefe Falten. Mit einem düsteren Ausdruck auf dem Gesicht kniete er sich zu dem Kammerdiener, inspizierte ihn von oben bis unten und nahm seine Fingerspitzen unter die Lupe. Der leidende Mann nahm nicht wahr, was um ihn herum geschah. Er war voll und ganz Gefangener seines fieberhaften Deliriums.
„Was geschieht nur mit ihm...?", wisperte die Fee und ich ahnte bereits, was Atticus diagnostizierte: „Er vergeht."
„Wie bitte? A-Aber wie ist das möglich? Er befindet sich in seiner eigenen Welt...!", japste die geflügelte Dame entsetzt.
Atticus zückte seinen Spurleser. Mir war bereits beim letzten Mal aufgefallen, dass sein Gerät anders aussah als meines oder das, das Evelle mir einst demonstriert hatte. Komplexer. Womöglich besaß er ihn noch aus DEF-Zeiten. Ein Artefakt, das uns nun zugutekam.
Der Hüter begutachtete die Ergebnisse und schüttelte kritisch den Kopf. Sein Masseter zuckte unliebsam um seinen Kiefer.
„Irgendetwas stimmt mit seiner Energiespur nicht. Als hätte man daran herumgepfuscht."
„Herumgepfuscht?", wiederholte ich und zog sogleich Parallelen zu dem zuletzt aufgetauchten Fremdkörper.
„Ihn kann nicht genügend Energie durchfließen. Seine Materie löst sich auf."
„Hat man wieder versucht, seine Spur zu ändern?"
„Wieder?", mischte sich die Fee nervös ein. „Was soll das heißen, 'wieder'?"
„Wir hatten bereits ähnliche Fälle", informierte mein Partner sie, „aber nie an Lebewesen."
„Das ist ja grauenvoll..."
Die Fee musste sich setzen. „Was soll ich denn nur meiner Königin sagen? Sind wir in Gefahr?"
Atticus antwortete ihr nicht. Die Stirn noch immer in Falten, fixierte er einen beliebigen Punkt in der Luft und dachte nach.
Der vergehende Kranke neben ihm stöhnte gequält. Ein heiseres, kraftloses Husten schüttelte seine schwache Lunge und er klammerte sich fester an die Decke unter ihm.
„Kann man denn nichts für ihn tun?", flehte die Fee, die seine Qual nur schwer ertrug.
Ich kam näher, damit ich mir ebenfalls ein Bild der Situation zu machen. Den Energiefluss meines Kleides stoppte ich dafür, um den großen, störenden Rock zusammenfallen zu lassen.
„Können wir ihn nicht fürs Erste ins Zellenwerk stecken?", schlug ich vor, da ich mich an meine Unterrichtsstunde über die drei großen, energetisch parallelen Werke erinnerte. „Ozias hat mir erzählt, dass sich die Verließe dort an ihre Häftlinge adaptieren, wenn sie nicht zur Vergängnis verurteilt sind."
Hoffnung für den Mann keimte auf, doch Atticus schielte Ernst zu mir hinüber. Seine Augen sprachen Bände, wollten mir bedeuten, still zu sein. Denn das schwache Kopfschütteln, das seinen Blick begleitete, sollte heißen, dass jene Hoffnung aussichtslos war.
„Seine Spur ist völlig verstümmelt...", raunt er mir zu. „Die Umgebung ist nicht das Problem."
Mit anderen Worten: Dieser Mann würde sterben und wir konnten nichts dagegen tun.
Blanke Angst flimmerte in den trauernden Augen der guten Fee, die abseits auf einem Sessel hockte und hilflos ihren gläsernen Stab umklammerte. Keine ihr mächtige Magie konnte den Kammerdiener retten.
Meine Augen sahen mit Bedauern auf die Transparenz der Finger des Mannes, die sich langsam, aber sicher, auf die Hände ausbreitete. Schon bald würde sie seine Arme erfassen und schließlich seinen gesamten Körper auflösen.
Ich wollte meinen Blick bereits von dem Unglück abwenden, da fiel mir etwas unter dem weißen Hemd des Mannes auf. Dunkle Konturen zeichneten sich darunter ab und ich konnte mir nicht vorstellen, dass die Diener in diesem Märchen Tätowierungen besaßen.
„Was hat er da am Arm?", teilte ich meine Verwirrung mit meinem Partner, der meiner Gestik folgte und die Ärmel des Hemdes hochschob.
Zum Vorschein kam irgendetwas kleines, rundes, das an einen silbernen Knopf erinnerte. Das Teil wirkte metallisch. Man hatte es ihm in die Haut gestanzt, die Ränder waren noch rot und gereizt von den feinen Verletzungen, die es verursacht hatte. In der Tiefe schien es ihm etwas injiziert oder eine Art von Fortsätzen ausgebreitet zu haben, denn sie schimmerten dunkel durch die Haut, ausgespreizte in alle Richtungen wie schwarze Tentakel. Wie eine Spinne, die ihre langen Beine tief in seinen Arm gegraben hatte, starrte uns dieses knopfrunde Gerät entgegen und gab uns Rätsel auf.
„Was... Was ist das?", bewegten sich meine Lippen wie von selbst, perplex und etwas angeekelt.
Atticus griff danach und versuchte, es vorsichtig herauszuziehen, doch der vergehende Diener ächzte gequält und zappelte aus Gegenwehr, erwischte den Hüter dabei mit der Faust am Kinn. Sofort zog Atticus seine Hand und seinen Kopf weg und fasste mit ärgerlich zusammengepressten Lippen an seinen Kiefer. Langsam bewegte er ihn hin und her, um ihn nach dem unbeabsichtigten Schlag zu lockern.
„Was auch immer es ist, es scheint mit seiner Energiespur verbunden zu sein", knirschte mein Partner und deutete auf die Transparenz seiner Hände, die nun auch seine Unterarme in die eines verrottenden Geistes verwandelte. „Ich nehme an, man hat es benutzt, um seine Spur zu ändern. Oder es zumindest zu versuchen."
„Jemand experimentiert mit Geräten, die in Spuren eingreifen?"
„Und das offenbar eher erfolglos, wenn man das Resultat betrachtet", murrte Atticus, zückte erneut seinen Spurleser und analysierte das Gerät am Arm des Dieners, der sich langsam wieder beruhigt hatte und zurück in sein Delirium gesunken war.
„Es scheint, als wäre das Ding das einzige Tor, durch das noch ein wenig Energie in ihn fließt. Nicht genug, aber wenn ich es entferne, ist er in wenigen Sekunden tot", kommentierte der Hüter das Ergebnis seiner Untersuchung. „Ungünstig, denn ich will es unbedingt mit zurück nehmen, damit Maze einen Blick darauf werfen kann. Schließlich betreibt er Forschung auf dem Gebiet."
Richtig, auch Maze erforschte Energiespuren und worin sich Wappenlose von Wappenträgern unterschieden. Er wollte einen Weg finden, das fehlende Wappen für diejenigen, die keines geerbt hatten, zu ersetzen. Jedem die Möglichkeit bieten, Hüter zu werden, unabhängig von ihren Genen. Ich hatte gehört, dass er dafür eingehende Spurenforschung betrieb. Sicher konnte er mehr mit diesem Gerät anfangen als wir. Es zu ihm in die Detektei zu bringen war äußert wichtig. Ethisch im Weg stand, dass wir den vergehenden Diener beim Entfernen umbringen würden.
Atticus und ich sahen uns zweifelnd an. Uns war klar, dass der Mann seinem Schicksal so oder so nicht entkam, trotzdem konnten wir ihm seine letzte Lebensquelle, so klein sie auch sein mochte, nicht gewaltsam herausreißen. Es wäre, als risse man ihm das schlagende Herz aus der Brust.
„Wartet, bis die Vergängnis ihn vollends geschwächt hat. In wenigen Stunden dürfte er nichts mehr mitbekommen...", mischte sich die Fee ein, doch Atticus wirkte nicht begeistert.
„Er quält sich. Es wäre ein Gnadenstoß, ihn zu erlösen", sprach der Hüter wie ein Jäger, der verletztes Wild von seinem Leid befreien wollte.
„Doch unter welchem Schmerz? Ein Gnadenstoß ist schnell, aber unser armer Jeffrey schrie bereits, als ihr geringste Kraft aufwendetet", setzte die Fee entgegen und flehte: „Ich bitte euch, wartet, bis er das Gerät schmerzlos hergibt. Ich mache ihm die letzten Stunden so angenehm wie möglich."
Letztendlich stimmte Atticus zu und wir schickten eine Nachricht an Ozias, dass wir ein paar Stunden bleiben würden und er sich nicht sorgen sollte. Die Fee machte dem Diener unterdessen kalte Wickel, brachte ihm Wasser und holte sein liebstes Buch, um ihm vorzulesen.
Atticus verbrachte lange an seinem Spurleser und versuchte, so viel Information aus dem spinnenartigen Gerät herauszuholen, wie möglich. Ich hatte mich allein in einen Sessel gepflanzt, die Glasschuhe von den Füßen gestreift und die Beine angezogen. So hörte ich melancholisch der Geschichte der guten Fee zu, die von einem Abenteurer erzählte, der hinaus in die Welt zog, um nach dem Unbekannten und der Liebe zu streben. Ein Traum, der für den vergehenden Kammerdiener nie mehr Wirklichkeit werden würde.
Stunden vergingen und der Trubel des Balls, der in den unteren Stockwerken einen grotesken Kontrast zu der Trauerfeier unseres Zimmers bildete, verblasste allmählich. Langsam näherte sich der frühe Morgen und die aufgehende Sonne tauchte den Horizont in ein tiefes Pink, obwohl sie selbst noch nicht zu sehen war.
Meine müden, gedankenversunkenen Augen hoben sich von meinen Knien, als Atticus aufstand und hinaus auf den Balkon ging. Erst zögerte ich, doch nach einer Weile stand ich auf und folgte ihm leise. Barfuß tapste ich über den kühlen Stein und lehnte mich neben meinen Partner, der seine Arme auf das kunstvoll gemeißelte Geländer stützte. Sein Blick hing am Horizont, genoss die Farben des heranbrechenden Tages. Unter uns verließen die letzten Gäste nach und nach das Schloss, stiegen am Ende einer langen, amüsanten Festnacht erschöpft und wankend in ihre Kutschen und ließen sich davontragen.
Die hatten es gut, schoss es durch meinen Kopf, die wurden ihre steifen Mieder und viel zu eng geschnürten Korsetts los, während sie mir noch immer die Rippen brachen. Ich wusste, mein Leid war nicht mit dem des armen Mannes auf der Couch vergleichbar, doch so langsam tat dieses verfluchte Korsett nur noch weh. Es drückte und ziepte und machte mir das Atmen schwer. Meine Daumen wanderten immer wieder unter das Mieder und versuchten, es anzuheben, um an die Schnüre zu kommen — ohne Erfolg. Das Porzellan saß knalledicht und wortwörtlich wie angegossen. Es war Folter und ließ mir keine Ruhe, da sich meine Brust ohnehin schon vor Mitleid eng zog.
Atticus schielte zu mir herüber. Wortlos zückte er sein Messer und ich hob abwehrend die Hände.
„Wow. Ich weiß, du kannst mich nicht leiden, aber lass uns da nochmal drüber reden", scherzte ich, da ich nicht wusste, was er damit vorhatte. Der Hüter verdrehte die Augen, packte mich einfach am Arm und drehte meinen Rück zu sich. Geschickt kappte er zu beiden Seiten die Haken des Mieders, zog mir die Hälften des Panzers aus und lockerte anschließend die Schnüre des Korsetts.
In dem Moment, in dem ich spürte, wie der krallende Griff des steifen Schnürleibs nachgab, atmete ich erleichtert auf.
„Gott sei Dank. Das Ding hat mich zerquetscht wie eine Boa Constrictor", seufzte ich befreit. „Wie können Frauen nur so etwas tagtäglich tragen?"
Ich streckte mich ausgiebig, rieb mir die müden Augen. Als ich das Porzellan-Mieder am Boden liegen sah, schlich sich schwach das schlechte Gewissen in mein Bewusstsein. „Ich hoffe, Evelle ist nicht böse, dass das Kleid kaputt ist."
„Es stand dir ohnehin nicht", wehte ein direkter, unsensibler Wind aus Atticus' Richtung.
Ich hob die Brauen. „Wie bitte? Ich sah toll aus!"
„Es war viel zu viel, machte aus dir etwas, das du nicht bist."
„Eine schöne Prinzessin? Na vielen Dank auch, Prinz Charming", blaffte ich, doch zu meiner Überraschung entgegnete der Hüter: „So war das nicht gemeint."
„Ach nein? Wie war es gemeint?", forderte ich spitz und die hier in der Fiktion klaren, grau-blauen Augen meines Partners wanderten geradewegs zu mir. Dann sagte er etwas, womit ich nie gerechnet hätte: „Solche pompösen Kleider lenken nur von wahrer Schönheit ab."
Ich war baff. Sollte das heißen, ihm gefiel das, was in dem Kleid steckte, besser als die Hülle aus Stoff?
Nein, da interpretierte ich zu viel hinein.
Oder?
Für einen flüchtigen Moment sahen wir uns an und ich meinte, irgendetwas zwischen uns zu spüren, da wandte er sich wieder ab und zerstörte jede Spur von Wertschätzung: „Für eine Prinzessin hast du sowieso viel zu schlechte Manieren, ganz zu schweigen von deiner Ausdrucksweise und deinem Körpergefühl. Da hilft das Kleid auch nicht mehr viel."
„Aaah, und da schießt er wieder geradewegs an einem Kompliment vorbei. Haarscharf und doch mit Wucht ins Aus!", mimte ich einen Sportkommentator und nahm es mit Humor, da er mein beleidigtes Schmollen ja doch ignorieren würde.
Atticus schnaubte leise und widmete seinen Blick dem Himmel, aber ich meinte, einen Hauch Amüsement auf seinen Lippen zu erkennen.
Belustigt lehnte ich mich wieder neben ihn aufs Geländer und folgte seinen Augen gen Horizont. Dem tiefen Pink mischte sich langsam ein warmes Orange bei, als die Sonne ihre runde Stirn über die Baumwipfel streckte.
Der Ausblick war wundervoll, tauchte Aschenputtels Königreich in melancholische Farben wie ein Gemälde der Romantik. Ich hörte Atticus neben mir einen schweren Atemzug nehmen.
„Die Farben vermisse ich jedes Mal...", murmelte er irgendwann und ich wusste sofort, er meinte die Blindheit, die ihn erwartete, sobald wir zurückkehrten.
„Vielleicht fehlen Farben, aber ich bin sicher, du kannst durch die Energien so viel mehr sehen als das bloße Auge", erwiderte ich und mein Partner zuckte resigniert die Brauen.
„Schemenhaft. Ohne Lunfloss bin ich vollends blind. Und der Fluch bleibt. Die Realität ist schwarze Dunkelheit."
Ich glaube, bis zu diesem Zeitpunkt hatte er noch nie von sich aus etwas Persönliches mit mir geteilt. Obwohl ich nicht mehr dazu kam, etwas zu antworten, war dieses Gespräch ein Meilenstein für mich. Von drinnen rief uns die Fee hinein.
In trüber Stimmung verließ Atticus den Balkon, um nach dem Bediensteten zu sehen. Ich blieb für einen kurzen Moment zurück und sah in den bunt schmelzenden Sonnenaufgang, dann riss ich mich los, hob die getrennten Teile meines Mieders auf und schlich hinterher.
„Ich glaube, er spürt nichts mehr...", sprach die trostlose Fee, in ihren Händen noch das Buch, aus dem sie vorgelesen hatte. Ich wagte mich nicht weiter in den Raum hinein. Stillschweigend beobachtete ich, wie Atticus zu der jämmerlichen Ruine des Kammerdieners trat. Seine Haut waberte transparent, sein Blick war glasig. Er ähnelte einer Wasserleiche, die schon zu lange am Ufer angespült unter der Sonne gelegen hatte. Der Anblick bereitete mir Gänsehaut, doch für Atticus schien es nicht das erste Mal zu sein.
Ohne zu zögern griff er nach dem knopfrunden Gerät, lockerte es mit feinen, rotierenden Bewegungen und zog es vorsichtig heraus. Die Haut des Dieners bot kaum Widerstand und tatsächlich kamen unten lange, fadenartige Fortsätze zum Vorschein. Die gruseligen Dinger glühten noch schwach nach und bestärkten den Verdacht, dass sie innen eine Verbindung mit der Energiespur ihres Wirts eingingen.
Nun wurde ich doch neugierig. Ich näherte mich meinem Partner und beäugte skeptisch den winzigen Spuren-Verstümmeler.
„Abartig...", rutschte es angewidert über meine angespannten Lippen, allerdings wurde ich das seltsame Gefühl nicht los, so etwas schonmal gesehen zu haben. Woher kam es mir bekannt vor?
Ich musste es mit irgendetwas verwechseln, denn mir fiel beim besten Willen nichts dergleichen ein, wenn man die Sci-Fi-Alien-Filme ausnahm, die ich als Kind heimlich versteckt hinter der Couch meines Stiefvaters mitgeschaut hatte.
„Maze soll es unter die Lupe nehmen", meinte Atticus und wandte sich anschließend an die Fee. Während er mit ihr darüber sprach, wie es weitergehen würde, sah ich zu, wie das energetische Glimmen der langen Fühler schwächer und schwächer wurde, bis es vollkommen versiegte. Seiner Energiequelle entzogen wirkte es, als würde die Materie des Geräts urplötzlich instabil. Erschrocken weiteten sich meine Augen.
„Atticus!", versuchte ich meinen Partner noch im letzten Moment zu warnen, aber ich war nicht schnell genug. Der Hüter bemerkte zu spät, wie heiß das Gerät wurde. Er schüttelte es ab, doch noch in der Luft, in Nähe seiner Hand, zersprang es mit einem üblen Knall und hinterließ nichts als einen feinen Staub bunt glitzernder Partikel.
Die Fee japste erschrocken auf und Atticus gab ein verbissenes Zischen von sich. Hustend wedelte ich mir das zerfallene Pulver aus der Atemluft und suchte mit den Augen hastig nach der Hand meines Partners.
„Alles okay?!"
„Verdammtes Teil...!", hörte ich ihn fluchen und als sich meine Sicht klärte, erkannte ich, dass er sich die linke Hand hielt. Am Gelenk, den Handrücken hinauf bis zum Ringfinger, hatte sich die Hitze durch den Stoff des Handschuhs bis auf die Haut gefressen und rote Verbrennung hinterlassen.
Sofort wollte ich helfen, stellte allerdings fest, dass ich keine Ahnung hatte, was ich tun sollte. Ich griff instinktiv zu seiner Hand, aber der Hüter fing mich mit der Rechten energisch ab.
„Lass es, Lila. Es wird eh Zeit, dass wir zurückreisen", murrte er und verkniff sich jede weitere Reaktion, die Hinweis auf Schmerzen hätte bieten können. Stattdessen wies er mich an, etwas von den bunten Partikeln aufzusammeln und mitzunehmen, sichtlich verärgert darüber, dass das Ursprungsgerät wortwörtlich zu Staub zerfallen war.
Widerwillig ließ ich von ihm ab, nahm den kleinen, ledernen Beutel vom Ausrüstungsgurt und befüllte ihn mit so viel funkelndem Staub, wie ich finden konnte. Unterdessen trat Atticus an die gute Fee heran, die verängstigt Abstand hielt.
„Das Chaos tut mir leid. Ich habe keine Ahnung, womit wir es zu tun haben", gab der Hüter finster zu. „Haltet Jeffrey verdeckt und schreibt seine Vergängnis einer schweren Grippe zu. Panik ist das Letzte, das wir gebrauchen können. Seid wachsam und auf der Hut. Wir werden die Sache eingehend untersuchen."
Die Fee nickte, huschte mit einem Seitenblick zu der glasigen Gestalt des Dieners, der kaum mehr ein Schemen seiner selbst war und blieb letztlich an Atticus' Hand hängen.
„Ihr solltet das behandeln lassen."
Nun war es Atticus, der nickte. Knapp verabschiedete er sich und machte sich zum Aufbruch bereit. Ich hatte gerade noch Gelegenheit, mir die Überbleibsel meines Porzellan-Panzers zu schnappen, da packte er mich schon am Arm und riss mich mit sich in die Schwerelosigkeit.
Der Empfang am Portal war in heller Aufregung, als man sah, dass Atticus sich verletzt hatte. Evelle flatterte sofort los, besorgte etwas zum kühlen und Verbandsachen. Ozias hingegen bewahrte stoische Ruhe, holte das antike Holzkästchen hervor, in dem der Pinsel für Gravuren lag, und aktivierte die weichen Borsten an seinem Relikt.
„Was hat er vor?", fragte ich leise die Schneiderfee, die neben mir geschäftig im Verbandskasten herumwühlte.
„Er malt ein Wundsiegel."
„Wundsiegel?"
„Die effektivste Heilgravur. Sie wird in die Wunde gezeichnet und schafft einen energetischen Knotenpunkt, also konzentriert Energie zum Fokus der Heilung. Nicht angenehm, aber damit können selbst große Fleischwunden stabilisiert werden", flüsterte sie. „Auch Verbände können graviert und mit Energie beladen werden, die sie sukzessive von außen an die Wunde abgeben, aber die wirken nicht gut in der Tiefe."
Atticus hatte seine Hand achtsam vom Rest des verkohlten Handschuhs befreit. Ich konnte die Narben sehen, die sich kreuz und quer über das erloschene DEF-Cor legten. Die offene Brandwunde fraß sich von der Seite einen hässlichen Weg in das geschundene Bild. Als Ozias den Pinsel hob und in die Wunde setzte, musste ich wegsehen.
„Ein Verband hätte es auch getan", knirschte Atticus unliebsam, doch Ozias brummte unstimmig.
„Du willst doch keine weiteren Narben sammeln."
„Was würde das an der Hand noch ausmachen."
„Nicht, solange ich hier Bibliothekar bin."
Damit war die Diskussion beendet und bald darauf das Heilsiegel fertig. Es überzog die Wunde mit einem transparenten Schimmer, fast wie eine Salbe. Evelle hatte in der Zwischenzeit einen Verband bereitgelegt, den Ozias kurzerhand gravierte und Atticus sich mit ein wenig Energie belud. Anschließend half ihm die Schneiderfee, ihn um die verletzte Hand zu wickeln.
„Was habt ihr bloß angestellt?", wollte sie wissen und der Hüter seufzte gereizt.
„Das bedarf einer längeren Erklärung. Allerdings beschränken sich die Experimente an Spuren nicht länger auf unbelebte Gegenstände."
Evelle sog schockiert die Luft ein.
„Jemand manipuliert die Spuren von Lebewesen?"
„Und leider nicht besonders erfolgreich", erwiderte Atticus und fügte in düsterem Humor hinzu: „Unsere kleine Lila konnte ihre erste Vergängnis miterleben."
„Das ist nicht sehr amüsant, Att."
„Nein, wohl nicht."
Ich sah betreten zu Boden. Der Gedanke an den geisterhaften Diener, der sich zunehmend zur Leiche wandelte, jagte mir noch immer einen Schauer über den Rücken. Seine milchigen, an toten Fisch erinnernden Augen würde ich wohl nie vergessen. Die Fiktion konnte ein finsterer Ort sein.
„Wie kann es sein, dass jemand durch Welten reist, Spuren tauscht und verstümmelt und keinen Alarm auslöst? Da stimmt doch was nicht", hörte ich mich sagen, der Situation nicht ganz mächtig.
„Entweder jemand stört ausgeklügelt die Siegel, oder wir haben es doch mit einem Metawesen zu tun. Einem ungewöhnlich experimentierfreudigem Metawesen", entgegnete Atticus und fuhr sich mit der unversehrten Hand geschafft durch Gesicht und Haar.
„Darüber können wir uns morgen Gedanken machen", fiel Ozias ins Gespräch ein. „Es ist spät... Beziehungsweise schon wieder früh. Und sicher habt ihr Hunger. Das Abendessen ist schließlich für euch ausgefallen."
Essen... das hatte ich glatt vergessen. Mann, diese Welt musste mich ordentlich auf Trab halten, wenn ich meinen Magen nicht spürte.
Mein Blick fiel auf das Porzellan-Mieder in meinen Händen. Das viel zu enge Kleid hatte sicherlich seinen Teil dazu beigetragen, so, wie es meine Organe malträtiert hatte. Mit einem schuldbewussten Lächeln legte ich das Mieder neben den Verbandskasten der Schneiderfee, die schaute mich wiederum entgeistert an.
„Ay, Chéri! Was hast du mit meinem schönen Kleid angestellt?"
„Ich brauchte Luft und das Atmen hat mir irgendwie gefehlt", gluckste ich und kassierte einen trägen, Mund verzogenen Blick von ihr.
Auch Atticus ließ sich einen netten Kommentar nicht nehmen: „Schnür es ihr das nächste Mal noch enger, dann brauche ich mir ihr Gequassel nicht anhören."
„Ach, papperlapapp. Das Kleid war ein Traum. Gib es zu Atty: Sie sah darin wundervoll aus!", trällerte die Schneiderfee und versteinerte die Mimik meines Partners.
„Eine Tarnung solltest du ihr schaffen, nicht sie in Cinderella verwandeln."
„Sie gefiel dir also?", neckte sie den Hüter, dessen Brauen indigniert in die Höhe wanderten. Die Muskeln tanzten gereizt um seinen Kiefer, als er monierte: „Du hörst mir nicht zu, ich sagte: Sie fiel zu sehr auf."
„Sie gefiel dir zu sehr?", stellte die Schneiderfee sich absichtlich dumm und grinste dabei über beide Ohren.
Atticus schien für einen Moment nach seiner Fassung zu suchen. Die blinden Augen des Hüters blinzelten und brachten mich gedanklich zurück auf den Balkon, in die warmen Farben des Sonnenaufgangs, die sich in seinen regnerischen Iriden reflektierten. Jetzt war er zurück in der Dunkelheit, die er so sehr verabscheute. Mit einem zu Staub zermahlenen Beweisstück, einem angehauenen Kiefer und einer verbrannten Hand. Ich glaube, es war das erste Mal, dass ich ihm die genervte Attitüde nachsah, wo Evelle so schamlos mit ihm spielte.
Der Hüter schien keine Lust zu haben, weiter auf die Schneiderfee einzugehen. Verächtlich schnaubend stand er auf, winkte fluchend ab und marschierte aus der Bibliothek.
Evelle blieb kichernd zurück. Ich schüttelte nur schmunzelnd den Kopf, zog den Gurt mit meiner Ausrüstung vom Bein und gab Ozias den ledernen Beutel für Maze mit. Dann war es auch für mich höchste Zeit, den Tag ein Ende zu heißen. Die lange Nacht steckte mir in den Gliedern und mein Magen war bei der Erinnerung an Essen zu grummelndem Leben erwacht. Da Hunger vorging, war die Küche mit den Resten des Abendmahls der erste Stopp. Doch mein verlockend kuscheliges Bett würde nicht lange auf mich warten müssen.
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