9.| G r a c e
Ich kann es nicht fassen. Nachdem mich meine Eltern gestern fast verstoßen hatten, haben sie mich heute morgen an den Tisch gerufen um "ein bedeutsames Gespräch" mit mir zu führen.
Das Ganze hat so lange gedauert, dass ich zu nichts gekommen bin, außer Lilly immer wieder anzurufen. Vergeblich, denn kein einziges mal hat sie abgenommen.
Ich bin traurig und frustriert und eigentlich auch all das hier selber Schuld.
Ich habe keine Ahnung, ob es etwas geändert hätte, wenn ich es meinen Eltern bereits erzählt hätte, als wir frisch zusammen gekommen sind.
Vielleicht hätte es sie nicht wütend gemacht, wenn ich ihnen Lilly erst einmal richtig als meine Freundin vorgestellt hätte.
Vielleicht hätte es sie nicht gestört. Vielleicht war das Problem, dass sie uns beide zusammen gesehen hatten. Ohne jegliche Vorwarnung.
Eigentlich war es jetzt auch egal, wie es dazu gekommen ist. Ich hatte seit gestern nicht mehr mit Lilly gesprochen, und so etwas hatte es in der gesamten Zeit unserer Freundschaft noch nie gegeben.
Ich fühle mich schrecklich ohne sie, und es ist als würde ein Teil von mir fehlen. Als sei ich vollkommen unvollständig.
Mein Herz schreit und weint um Lilly, und aus irgendeinem Grund möchte ich die Hoffnung nicht aufgeben, dass es ihr genauso geht.
Ich bin auf dem Weg zu meiner Uni, denn ich muss heute meine Projektarbeit der letzten Wochen abgeben, bevor die Semesterferien und somit auch der Sommer endlich beginnt.
Lilly und ich freuen uns seit Wochen auf diesen Tag, doch heute habe ich keine Glücksgefühle.
Alles sieht so verdammt düster aus und am liebsten würde ich einfach weinen.
Das Gewitter, was seit Stunden über London tobt, wird immer stärker und ich beschleunige meine Schritte, aus der Furcht ich könnte nicht mehr lebend bei der Uni angelangen.
Als ich endlich vor dem riesigen Gebäude Komplex stehe, beginnt mein Handy zu klingeln und ich zucke nervös zusammen.
Ich schaue kurz auf das Display und sehe das meine Eltern versuchen mich anzurufen.
Eigentlich hatte ich ihnen gesagt, dass ich kurz bei der Uni bin, aber vermutlich misstrauen sie mir und denken ich würde bei Lilly vorbei gehen.
Tatsächlich habe ich auch daran gedacht, aber dann erschien es mir doch sinnlos.
Sie würde nicht mit mir reden wollen, und irgendwie war ich auch nicht bereit dazu.
Ohne wirklich darüber nachzudenken, betätige ich den "ablehnen" Knopf und stecke das Handy zurück in die hintere Tasche meiner Hose.
Ich brauche nun keine Diskussionen, sondern will einfach meine Arbeit abgeben und dann so schnell es geht, denn schlimmsten Teil hinter mich zu bringen.
Das Koffer packen.
Meine Eltern hatten mich heute morgen darüber in Kenntnis gesetzt, dass ich den Sommer dieses Jahr nicht hier in London verbringen würde, sondern in einem Camp mit anderen Jugendlichen.
Ihre Absicht war dabei gewesen, dass es für mich keine Möglichkeit gab Lilly zu sehen.
Sie dachten nicht darüber nach, dass es auch noch ein Leben nach dem Sommer geben würde.
Dass ich irgendwann wieder kommen würde und dafür sorgen würde, Lilly wieder zu sehen.
Sie konnten mich zwar in ein Camp stecken und so dafür sorgen, dass ich Lilly mindestens zwei Monate nicht sah, aber unsere Liebe würden sie damit auch nicht ersticken können.
Durch diesen Abstand, würden sie unsere Gefühle wahrscheinlich nur noch mehr entfachen, aber das sagte ich ihnen natürlich nicht.
Ich würde diesen Sommer einundzwanzig werden, und ausziehen.
Zwischen Lilly und mir würde nichts mehr stehen können.
Ich laufe durch die langen Gänge der Universität, denn ich muss in das Büro meiner Lektorin.
Als ich an der Türe ankomme, atme ich noch einmal tief durch und klopfe dann. Diese Arbeit bedeutet mir viel, denn sie bestimmt meine Zukunft.
Wenn sie schlecht ausfällt, würde ich nicht weiter studieren können. Vielleicht würde ich nie Ärztin werden und meine Eltern erneut enttäuschen.
Irgendwie mache ich mich selbst wütend, dass ich ständig daran denke, was sie richtig finden würden, obwohl es mein Leben ist.
"Herein." , höre ich eine Stimme und trete ein. Meine Lektorin sitzt auf einem teuer aussehenden Stuhl aus Leder. Sie sieht streng und selbstsicher aus.
Irgendwann, da bin ich mir sicher, werde ich auch so auftreten wie sie.
Die Menschen werden mich mit Respekt behandeln und meine Handlungen unterstützen. Nicht so wie es meine Eltern jetzt taten.
In diesem Moment habe ich das starke Verlangen, mich meinen Eltern zu beweisen.
Ich komme auf sie zu, und warte darauf, dass sie mir einen Stuhl anbietet.
Tatsächlich deutet sie mit einem Lächeln auf den Platz vor sich. "Hallo Grace." , sagt sie freundlich und die steife Fassade von vorhin, ist augenblicklich verschwunden.
"Guten Tag." , antworte ich und suche in meiner Tasche nach meiner Hausarbeit. Ich habe lange an ihr gearbeitet, und hoffe auf die Zustimmung für das nächste Semester.
Mit zitternden Finger, schiebe ich ihr die Mappe zu. Sie nimmt sie entgegen und sieht mich dann an. "Ist alles gut? Du siehst besorgt aus." , sagt sie und lächelt freundlich.
Ich bin verwirrt, denn mit so einer Frage habe ich nicht gerechnet. Ich nicke nur, so wie es mir meine Eltern immer gesagt haben.
Dann stehe ich auf und verlasse den Raum.
In meinem Kopf schwirren immer noch lauter wirrer Gedanken umher und ich mache mich auf den Weg nach Hause.
Es ist immer noch am Regnen, aber das Gewitter hat aufgehört.
Ich schaue immer wieder auf mein Handy, in der Hoffnung Lilly würde endlich zurückrufen.
Sie tut es nicht.
Ich habe das Gefühl, ich würde jedes mal in einen riesigen Sturm aus Frust und Enttäuschung gezogen werden.
Ich merke, dass es nichts gibt, was mir mehr bedeutet als Lilly. Nur fällt es mir zu spät auf.
Ich biege in die Straße, die zu meinem Elternhaus führt und bereits jetzt zieht sich mein Magen krampfhaft zusammen. Ich fürchte mich davor, ihnen in die Augen zu sehen. Ich hasse sie für all das was sie mir genommen haben.
Aus der Entfernung erkenne ich, dass meine Eltern in der Türe stehen. Sie reden mit einer weiteren Person. Ich habe keine Ahnung, wer es ist.
Ich beschleunige meine Schritte, und als ich beinahe da bin, erkenne ich Lilly.
Ihre roten Haare sind in zwei Zöpfe geflochten und ihre Kleid ist vollkommen durchnässt.
Mein Herz beginnt noch schneller zu schlagen und ich beginne zu laufen, bis ich vor ihnen stehe. Meine Eltern haben sich vor Lilly aufgebaut und wirken fast wie eine undurchlässige Mauer.
"Was soll das?" , frage ich und stelle mich zu Lilly.
Ich bilde mir ein, zu hören wie sie erleichtert ausatmet.
Ich habe keine Ahnung worüber sie geredet haben, bin mir aber sicher dass meine Eltern nicht freundlich geblieben sind.
Lilly ist der liebenswerteste Mensch den ich kenne. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht denke ich an unsere ersten Jahre zurück.
Lilly rettete damals eine Katze von einem Baum.
Sie war einfach hochgeklettert und hat das Tier mitgenommen. Ich habe sie damals schon unheimlich stark bewundert.
Niemand antwortet mir, aber ich greife nach Lillys Hand.
Für einen Augenblick verkrampfe ich mich. Ich finde es ungewohnt zu wissen das meine Eltern es sehen können.
Das wir ihnen unsere Liebe zeigen. Als Lilly ihre Hand wieder aus meiner ziehen will, sehe ich sie an.
"Nein. Es ist gut." , flüstere ich und blicke meinen Eltern direkt in die Augen. Sie scheinen genauso überrascht zu sein, wie ich es noch bis gerade eben war.
Niemand wird uns je wieder trennen können.
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