78.| L i l l y
Mein Herz beschützen, schallt es in meinem Kopf und die Frage ob es nicht schon zu spät dafür ist, möchte einfach nicht aus meinen Gedanken verschwinden.
"Lass uns wieder runter gehen", sagt meine Mom sanft und nimmt mich bei der Hand. Im Wohnzimmer sehe ich Isla mit meiner Tochter auf dem Sofa sitzen.
Sie schneidet Grimassen und immer wieder höre ich das freudige Quietschen meines Kindes.
Mein Herz macht einen glücklichen Sprung in meiner Brust, doch als mein Blick auf den Boden fällt und ich den Brief sehe verkrampfe ich mich erneut vollständig.
"Ich kann das nicht lesen", sage ich leise und hebe dennoch das Papier auf. Isla steht auf und sieht mich fragend an.
"Nimm sie kurz", sagt sie und reicht mir meine Tochter um sich selbst den Brief zu schnappen.
"Das ist eine Einladung", flüstert sie leise und beginnt zu lesen. Mir wird kalt und warm zugleich und ich kann nichts anderes tun als einfach nur dazustehen und immer wieder zu nicken.
"Sie wollen dass wir zur Beerdigung kommen", sagt Isla leise und erneut laufen Tränen meine Wange hinunter.
Der Gedanke, Grace zu Grabe zu tragen will einfach nicht in meinen Kopf.
"Ihr braucht dort nicht hinzugehen", sagt meine Mutter nun und als ihre Worte bei mir ankommen weiß ich dass es nicht das Richtige ist.
"Ich muss dort hin", sage ich leise und meine Kehle schnürt sich augenblicklich zusammen.
Vermutlich wird es das Schwerste sein was ich je tun werde, und dennoch das Einzige was richtig ist.
"Wann ist das?", fragt Isla und reicht mir erneut meine Tochter. Sie lacht mich an und mein Herz fühlt sich mit einem mal nicht mehr ganz so schwer an.
"Morgen", sage ich leise und halte den Atmen an. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich morgen meine beste Freundin und das Mädchen was ich ewig geliebt habe für immer verlieren werde.
"Dann ist es endgültig", sagt Isla und greift nach meiner Hand. Ich weiß, dass sie immer an meiner Seite sein wird auch wenn es ihr es genauso schwerfällt.
"Ich muss gleich zum Präsidium", erwidere ich vorsichtig und der Blick meiner Mutter verwandelt sich von mittleidig in besorgt und ängstlich.
"Mom, alles gut", sage ich leise und mache eine kurze Pause.
"Sie verdächtigen mich nicht. Sie brauchen nur so viele Zeugen und Angehörige wie möglich", erkläre ich dann weiter und atme tief ein und aus um gegen die aufkommende Anspannung anzukämpfen.
"In Ordnung", sagt meine Mutter erleichtert und nimmt mir meine Tochter ab.
"Geh dich fertig machen", sagt sie liebevoll und schenkt mir ein warmes Lächeln.
"Ich muss auch los", sagt Isla und gibt mir einen letzten Kuss ehe sie aus der Tür verschwindet und nach Hause fährt.
Ohne weiter auf diesen Brief einzugehen, verschwinde ich nach oben in mein Zimmer und durchsuche meinen Schrank nach einem passenden Outfit.
Erneut sehe ich Graces leblosen Körper vor meinen Augen und eine Gänsehaut breitet sich auf meiner Haut aus.
Nervös schiebe ich einen Kleiderbügel nach dem anderen zur Seite und versuche mich darauf zu konzentrieren, endlich etwas passendes für das Gespräch bei der Polizei zu finden.
Letztendlich brauche ich Ewigkeiten, bis ich mich für eine Jeans und eine Shirt entscheide.
Es ist verrückt, dass es draußen langsam kälter wird und sich die ersten Bäume bereits in ein tiefes orange verfärben.
Dieser Sommer ist viel schneller zu Ende gegangen, als wir es alle erwartet hätten und vor ein paar Monaten hätte ich auch nicht nur mit dem Gedanken gespielt Grace zu verlassen.
Doch vielleicht ist das Leben einfach so. Vielleicht müssen wir den Regen akzeptieren um die Sonne wahrnehmen zu können.
"Ich bin beim Termin", rufe ich und durchquere unser kleines Wohnzimmer um mit dem spärlichen Auto meiner Mutter zum Präsidium zu fahren.
"Bis nachher", ruft meine Mom mir hinterher und ich kann sehen dass sie meiner Tochter ein Buch vorliest.
Eigentlich habe ich immer gedacht, dass dieses Kind eine Belastung werden würde doch in meinem Herzen weiß ich dass es genau das Richtige war mich für sie zu entscheiden.
Dieses Wesen zeigt mir jeden Tag, wie viel Liebe ich doch noch in meinem kaputten Herzen habe.
Ich starte den Wagen und stütze mich einen Moment auf dem Lenkrad ab um meine Angst ansatzweise kontrollieren zu können.
Seit dem Tod von Grace überrollt sie mich beinahe jeden Tag wie eine gewaltige Welle die ich auch mit jeglicher Kraft nicht aufhalten kann.
Als ich endlich aus der Einfahrt fahre und meinen Blick auf die Uhranzeige werfe bleibt mir für eine Sekunde das Herz stehen. Ich habe nicht mehr viel Zeit um im Präsidium zu sein.
Nach ein paar überfahrenen Ampeln komme ich endlich an, und ziehe den Schlüssel aus dem Zündschloss.
"Lilly", stelle ich mich bei der Sekretärin am Eingang vor und reiche ihr die Hand. Sie wirft mir nur einen skeptischen Blick zu und deutet dann auf eine der vielen Türen.
Ich folge ihrem Blick und betrete den Raum. Es sieht genauso aus wie in den Filmen und ich brauche erneut einen Moment um mich daran zu erinnern, dass das hier keine Sitcom sondern mein Leben ist.
Ohne auf jemanden zu warten setze ich mich auf einen der Metall Stühle und starre an die Decke, die genauso schwarz und dunkel ist wie meine Gedanken in diesem Moment.
Wie bin ich nur hier hergekommen?, frage ich mich in Gedanken und zucke zusammen als der Inspektor den Raum betritt.
"Lilly", begrüßt er mich und ich bemerke dass er sich bemüht nicht vollkommen kalt auf mich zu wirken.
"Wie geht es dir?", beginnt er die Unterhaltung und in diesem Augenblick wird mir schmerzlich bewusst, dass ich an einem der tiefsten Punkte in meinem gesamten Leben angekommen bin.
"Wollen sie das ehrlich wissen?", frage ich und sehe ihm lange in die Augen.
Der Inspektor nickt und lässt sich ebenfalls auf einen der Stühle fallen.
"Ich bitte darum", sagt er und setzt ein freundliches und doch antrainiertes Lächeln auf.
"Beschissen", entfährt es mir und sobald die Worte über meine Lippen gekommen sind, halte ich mir eine Hand vor den Mund.
"Entschuldigen Sie bitte", beginne ich verzweifelt und sehe zu Boden.
"Nun-", beginnt Mr. Brown und faltet seine Hände auf dem kalten Metalltisch.
"Wieso bist du hier?", fragt er und ich weiß dass er bereits die Antwort auf diese Frage kennt.
"Wusstest du von Graces Schwangerschaft?", fragt er und mein Herz bleibt für einen Moment stehen.
"Wovon spricht er?", schallt es in meinem Kopf wieder.
"Nein", antworte ich und lasse meine Hand immer noch auf meinen Lippen liegen um den schmerzvollen Schrei zu unterdrücken der ansonsten aus mir herausgebrochen wäre.
"Wusstest du von ihrer Affäre mit Noah?", fragt er weiter und ich spüre wie mich eine weitere Welle aus Angst auf den endlosen Boden des Meeres zwingt.
Ich nicke stumm, und ein Gefühl der Leere breitet sich in mir aus.
"Du hast den selben Fehler begangen richtig?", fragt er und zieht eine Augenbraue nach oben.
"Ich weiß nicht, was das zur Ermittlung beiträgt", sage ich und versuche immer noch den Gedanken in meinem Kopf zu verarbeiten, dass wir nicht nur Grace verloren haben sondern auch ein Baby.
"Ich kann dich beruhigen", sagt Mr. Brown und reißt mich damit unsanft aus meinen Gedanken.
"Grace war nie schwanger", fügt er hinzu und auf einmal breitet sich ein unbeschreibliches Gefühl der Erleichterung in mir aus.
"Wieso haben sie das gerade eben behauptet?", frage ich wütend und starre ihn an.
"Weil sie es auch getan hat", gibt der Inspektor zu bedenken und in meinem Kopf beginnt sich alles zu drehen.
Ich versuche mit aller Kraft, aus all dem einen Sinn herauszulesen doch es gelingt mir einfach nicht.
Keine dieser Informationen bringt mich weiter, oder führt mich zu dem Menschen der Grace das Leben genommen hat.
"Wir haben die Person gefunden, der für ihren Tod verantwortlich ist", flüstert der Inspektor nun und holt etwas aus seiner Tasche.
"Was ist das?", fragt er und reicht mir die kleine Kette die ich an dem Todestag von Grace abgezogen habe.
"Du brauchst es nicht erklären Lilly", unterbricht er mich schon bevor ich antworten kann.
Ich wünschte, diese Kette würde es nicht geben.
Sie sollte uns verbinden und nicht auseinander reißen.
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