29.| G r a c e
Ich habe vor, heute noch bei Lilly vorbeizuschauen. Sie wird heute entlassen und eigentlich sollte meine Freude darüber größer sein. Am Nachmittag waren ein paar Freunde aus der Uni hier, und ich habe Lilly nichts davon gesagt. Es hat sich falsch angefühlt, mit diesen Menschen abzuhängen während Lilly alleine im Krankenhaus liegen muss. Ich bin froh, dass es ihr jetzt schon wieder besser geht.
Lilly ist ein sehr liebenswürdiger und hilfsbereiter Mensch. Selbst wenn es ihr so schlecht geht, hat sie sicher nur an Zuhause gedacht, und daran dass ihre Mutter nun alles selbst machen muss.
Ich setze mich nach oben an meinen Schreibtisch und klappe meine Aufgaben auf. Ich habe Lilly nicht nur gesagt, ich würde Zuhause alleine sein. Nein, ich habe auch noch behauptet ich würde an meinen Uni Aufgaben arbeiten. Beides war eine Lüge, und auch wenn es vielleicht besser war ihr nichts zu sagen, fühlt es sich falsch an.
Ich klappe mein Heft auf und greife nach einem Stift, um mit den Aufgaben zu beginnen. Auch wenn das Semester vorbei ist, und auch meine Abgabe gut geklappt hat, habe ich noch nicht in die neuen Aufgaben reingeschaut.
Als ich die ersten Artikel gelesen habe, klappe ich mein Heft zu und stehe auf. Ich will noch ein paar Sachen in meinen Koffer packen, denn das habe ich auch noch nicht getan. Zuerst habe ich überlegt, Lilly noch etwas zum Abschied zu schenken, aber danach soll es sich nicht anfühlen.
Ich will mich nicht von ihr verabschieden müssen.
Mein Handy klingelt und ich ignoriere es. Egal wer es ist, ich möchte mit niemandem reden. Genervt werfe ich meine restlichen Klamotten in meine Tasche und ziehe den Reisverschluss zu. Dann laufe ich die Treppen runter und durchquere unser großes Wohnzimmer. Mein Dad und meine Mom sind immer noch nicht zuhause, und ein Blick auf mein Handy verrät mir, dass es bereits halb sechs ist.
Draußen dämmert es langsam und ich greife nach den Autoschlüsseln die auf dem Küchentressen liegen. Dann schließe ich die Haustüre hinter mir und steige in mein Auto ein. Ich werde schon jetzt zu Lilly nach Hause fahren. Sicher wurde sie schon entlassen und freut sich, wenn ich noch vor meiner Abreise vorbei komme.
Mit meinem Wagen fahre ich durch London und mein Blick bleibt immer wieder auf den schönen Häusern und grünen Parks hängen. Den Sommer nicht hier zu verbringen, tut mir im Herzen weh. Seit ich klein war, war Sommer für mich London.
Aufgeregte Nächte in den Parks und lange Gespräche mit neugierigen Touristen. Ich liebe diese Stadt mit meinem ganzen Herzen und einen Sommer nicht hier zu sein, kann ich mir kaum vorstellen.
Langsam biege ich in die Straße ein, in der Lilly mit ihrer Mom und ihrer kleinen Schwester wohnt. Hier komme ich immer gerne hin, denn ich werde mit offenen Armen empfangen. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie sich Lilly fühlen muss wenn sie mich zuhause besucht.
Manchmal wünsche ich mir, genauso aufgewachsen zu sein wie Lilly. Zwar ohne viel Geld, aber dafür glücklich und geliebt.
Ich stelle mich vor die Türe und klingele. Dann trete ich einen Schritt nach hinten und warte. Lillys Mutter öffnet die Türe und schenkt mir ein angespanntes Lächeln. Sie sieht aus, als hätten sie die letzten Stunden am meisten mitgenommen.
"Hi." , sage ich und trete ein. Lillys Mutter führt mich in die Küche. Am Esstisch sitzt Lilly und füttert ihre kleine Schwester liebevoll. Mein Herz machte einen glücklichen Sprung und ich muss mich zusammen reißen, nicht in Tränen auszubrechen. Der Anblick der Beiden berührt mich und ich schenke Lillys Mom ein freundliches Lächeln.
"Setzt dich doch." , sagt sie und ich stelle mich neben Lilly und ihre kleine Schwester.
"Hi." , sage ich und erst jetzt sieht Lilly mich an. Sie sieht traurig aus und ich bin mir nicht sicher ob es noch am Schock oder doch an mir liegt.
"Hey." , antwortet Lilly unschlüssig und sieht wieder zu ihrer Schwester.
Mir wird klar, dass es definitiv an mir liegt und ich versuche die ganze Situation aufzulockern.
"Du siehst hübsch aus." , sage ich an Lilly gerichtet und jetzt kann ich sehen, dass sie ein Lächeln nicht unterdrücken kann.
"Danke." , flüstert sie und ihre Mutter nimmt ihre kleine Schwester aus dem Hochstuhl und verschwindet aus dem Wohnzimmer. Lilly und ich sind nun alleine und es fühlt sich merkwürdig an. So, als würde etwas zwischen uns stehen.
"Was ist los?" , frage ich und berühre sanft Lillys Hand. Kaum merklich zuckt sie zurück, und hinterlässt mit dieser unscheinbaren Geste eine kleine Narbe auf meinem Herzen.
"Nichts." , flüstert Lilly und schaut zu Boden. Ihr Gesicht ist vor Scharm errötet und noch nie habe ich sie so gesehen. Noch nie so verletzt.
"Jemand war bei dir." , sagt Lilly nun und ich verstehe wieso sie sich so verhält. Sie denkt, ich hätte jemanden hier gehabt.
"Lilly. Es ist nicht so wie du denkst." , sage ich nun und Lilly sieht mich verletzt an.
"Sagen sie das nicht auch immer in den Filmen?" , fragt sie und dreht sich von mir weg.
Ich bin vollkommen überfordert, und habe keine Ahnung was ich tun soll. Wie ich auf ihre Sorgen und Zweifel reagieren soll. Vor allem, weil nichts an ihnen wahr oder begründet ist.
"Es waren nur ein paar Leute aus der Uni hier." , erkläre ich und Lilly wischt sich vorsichtig eine Träne aus dem Augenwinkel.
"Nur." , sagt sie dann und ich merke, wie sich Wut anbahnt. Ich habe mich mit ein paar Freunden aus meinen Kursen getroffen und sie machte daraus direkt eine so große Sache.
"Nur wenn ich mich einmal treffe, werde ich dich nicht gleich verlassen. Ich bin nicht dein Dad!", schreie ich sie an und zucke zusammen als ich verstehe was ich da gerade gesagt habe.
"Grace." , flüstert Lilly und sie sieht aus, als hätte ich ihr gerade einen Dolch in die Brust gerammt. Ich kann die Worte die gerade über meine Lippen gegangen sind selbst nicht richtig glauben.
Noch nie habe ich Lilly so sehr verletzt, und es tut mir selber weh sie so zu sehen.
"Es tut mir leid." , sage ich trete einen Schritt nach vorne, doch Lilly rutscht von mir weg.
Verzweifelt greife ich nach ihrer Hand und sie lässt es zu. Dann schaut sie mir in die Augen.
Ihr Blick ist verletzt und gebrochen.
"Ich will dich nie verlieren." , sagt Lilly nun und mit dieser Antwort hätte ich nicht gerechnet. Lilly beginnt zu weinen und ihr Körper bebt unter all dem Schmerz.
"Ich brauche dich." , flüstert sie und spielt nervös mit einem ihrer Ohrringe.
Ich weiß nicht was ich antworten soll, also lehne ich mich nach vorne und beginne sie zu küssen.
Ihre Lippen sind weich und geben mir ein Gefühl von Geborgenheit. Es fühlt sich an, als würde ich nach Hause kommen. Aufgefangen werden.
Lillys Küsse werden drängender und stärker und ich kann all die Emotionen spüren, die sie in diesen Kuss hineinlegt.
Jede Faser ihrer Angst und Trauer geht in mich über und überschwemmt mich wie eine gewaltige Welle.
"Ich liebe dich." , flüstere ich und zum ersten mal in meinem Leben habe ich das Gefühl zu fliegen.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro