16.| O l i v i a
Meine Tante besteht darauf, dass ich das ganze Haus von ihr gezeigt bekomme, also willige ich ein, und folge ihr in die anderen Zimmer.
Es ist nichts ungewöhnliches dabei, bis auf ein kleines Büro ganz oben, fast schon auf dem Dachboden.
Ein kleiner Schreibtisch steht vor einem Fenster, und es sieht aus, als hätte hier schon Ewigkeiten niemand mehr gesessen.
"Was...was ist das hier?" , frage ich und sehe meine Tante an. Sie bleibt einige Zeit stumm, bis sie mit trauriger Stimme von ihrem verstorbenen Mann erzählt.
Er ist letztes Jahr, gestorben nachdem er den Kampf gegen den Krebs nicht geschafft hat.
Sie sieht so blass und klein aus, während sie von ihm erzählt, und dennoch liegt die gesamte Zeit ein leichtes Lächeln auf ihren Lippen.
Ich kann es nicht beschreiben, aber jedes mal wenn sie seinen Namen in den Mund nimmt, ist es als würde die Zeit für einen Augenblick stehen bleiben.
"Es tut mir leid." , flüstere ich und wieder wird mir schmerzhaft bewusst, wie kurz das Leben ist, und wie schnell es vorbei sein kann.
Irgendwie wirkt dieses Zimmer nicht unheimlich, so wie in all den Filmen und Büchern.
Es hat schon fast etwas friedliches an sich, und ich kann mir genau vorstellen wie mein Onkel noch vor ein paar Jahren an diesem Tisch gesessen hat.
"Er war sicher ein toller Mensch." , sage ich und sehe meine Tante an.
Das Lächeln auf ihren Lippen verwandelt sich innerhalb von Sekunden in ein glückliches Strahlen.
"Dass ist wunderbar." , sage ich und komme dem Schreibtisch langsam näher. Er ist aus einem dunklen Holz und sieht wunderschön und alt aus.
Vorsichtig streiche ich mit meinen Fingern über das weiche Papier.
Neben den Notizen liegt ein Füller.
So, als sei mein Onkel nur kurz draußen. Als wäre er nie gegangen.
Meine Tante nimmt mich an der Hand und zieht mich aus dem Zimmer.
Augenblicklich schäme ich mich dafür, dass ich nicht vorher gefragt habe, sondern einfach so das Papier berührt habe.
"Ich denke, ich lege mich nun schlafen." , sagt sie und lächelt mich ein letztes mal müde an, ehe sie sich auf den Weg in ihr kleines Schlafzimmer macht.
Ich stehe noch einige Zeit unschlüssig auf dem Flur herum. Ich habe keine Ahnung was ich tun soll, und deswegen gehe ich runter in die Küche.
So leise wie möglich, öffne ich den Kühlschrank und nehme eine Packung Milch heraus.
Dann fülle ich eine Tasse mit Tee und gieße die Milch hinein.
Ich setzte mich auf das Sofa, die Tasse in der einen, mein Handy in der anderen Hand.
Dieser Ort ist vollkommen fremd für mich, dennoch fühle ich mich wohl.
Vielleicht war es gut, dass ich hier her gekommen bin.
Weil meine Tante schon viel zulange einsam ist.
Und weil ich es eigentlich auch bin.
Ich entschließe mich dazu, meine Mutter anzurufen, und nach dem vierten Klingeln geht sie auch dran.
Ihre Stimme klingt müde und besorgt.
"Hi", sage ich und fahre mir mit einer Hand durch meine blonden Haare.
"Hallo Olivia." , sagt sie und ich denke an die Zeit zurück, in der ich noch ein gutes Verhältnis zu ihr hatte.
Damals, habe ich ihr alles erzählt. Wir waren wie beste Freundinnen.
"Mir geht es gut hier." , beginne ich und lächele.
Als ich mich in dem kleinen Wohnzimmer umsehe, wird mir erneut bewusst dass ich es eigentlich gar nicht mehr so schlimm finde hier zu sein.
Am anderen Ende der Leitung kann ich ein leichtes Seufzen hören, und ich bin mir sicher dass meine Mutter immer noch besorgt ist.
"Sicher Olivia?" , fragt sie und ich nicke.
Dann bemerke ich, dass sie mich nicht sehen kann und schiebe ein leises "Ja." , hinterher.
"Okay. Melde dich jeder Zeit." , sagt sie und will gerade auflegen, da unterbreche ich sie.
"Wieso habt ihr mir nie von meinem Onkel erzählt?" , will ich wissen und für einen Moment bleibt es vollkommen still.
Es scheint kein Thema zu sein, über das meine Mutter gerne redet.
Das kam leider öfter vor.
"Olivia, lass und später nochmal telefonieren." , will sie mich abwürgen, doch so schnell werde ich nicht locker lassen.
Ich will wissen, wieso sie nie von ihm erzählt hat.
Ich will wissen, wieso mir eine Person meiner Familie nie vorgestellt wurde.
"Nein Mom. Ich will jetzt wissen, wieso ihr nie..." , beginne ich und höre wie meine Mutter am anderen Ende der Leitung zu weinen beginnt.
Ich hätte niemals erwartet, dass sie der Tod meines Onkel so hart treffen würde.
"Mom ich wollte nicht...", sage ich und versuche das Thema doch noch schnell zu beenden, doch es ist zu spät.
Meine Mutter beginnt unter Schluchzern zu erzählen.
"Es ist nur...mein Bruder. Wir haben nie gedacht dass er es nicht..." , sagt sie und ich kann förmlich vor meinen Augen sehen, wie ihr zarter Körper unter all dem Schmerz bebt.
"Es tut mir so leid Mom." , sage ich und meine es auch so.
In diesem Moment, spüre ich eine Art der Zuneigung und Liebe, die ich so noch nie für meine Mutter empfunden habe.
Es ist das erste mal, dass es sich wirklich so anfühlt, als seien wir Mutter und Tochter.
"Ich hab dich lieb." , flüstere ich, ehe ich auflege.
Die Schritte die ich höre, als jemand die Treppe herunter kommt, wecken mich und ich zucke nervös zusammen.
"Tut mir leid, dass ich dich wecke." , sagt meine Tante und lächelt müde.
Ich schüttele nur den Kopf.
"Alles gut. Was machst du?" , frage ich und meine Augen folgen meiner Tante neugierig durch den Raum.
Ich habe keine Ahnung was sie vorhat und versuche nicht allzu sehr zu starren.
"Ich gehe nur kurz raus." , sagt sie und verwundert ziehe ich meine Schuhe an, und eine dünne Jacke über.
Es ist kalt draußen und für diese Jahreszeit weht ein ziemlich ungewöhnlich eisiger Wind.
"Ich will nur etwas Luft schnappen." , sagt meine Tante und setzt sich auf die kleine Bank vor ihrem Haus.
Hier ist es vollkommen still.
Es ist, als würde hier die Zeit anders laufen.
"Es ist wirklich schön hier." , flüstere ich und sehe nach oben.
In London erkennt man auch nachts keinen einzigen Stern, doch wenn man hier in den Himmel blickt, leuchten sie heller als die Sonne am Tag.
Es ist ein überwältigendes Gefühl, und als ich zu meiner Tante sehe, kann ich erkennen dass sich Tränen in ihren Augen spiegeln.
Tränen, die den Sternen über uns gleichen.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro