ᴋᴀᴘɪᴛᴇʟ 11 - ᴛᴏᴍ
Kurz nach elf trat Freya aus ihrem Zimmer und stieg die Treppe nach unten. Leise Rockmusik war zu hören. Nora stand in der Küche und hob den Blick, als sie die Schritte vernahm und so, wie sie Freya erblickte, legte sich ein breites, zufriedenes Grinsen in ihr Gesicht. Freya selbst zuckte mit den Schultern und ließ ihren Blick zu der Couch wandern. Dort lag Jaxon mit einem Eisbeutel, welchen er auf seine rechte Wange drückte, und maulte leise in sich hinein.
»Schaff dir Kinder an, haben sie gesagt«, murmelte er.
Nora schnaubte und zog ihm im Vorbeigehen an der großen Zehe.
»Lass das«, maulte er, was Nora zum Lachen brachte.
»Du benimmst dich, wie ein Baby. Deine Tochter hat einen Treffer gelandet und du tust, als würdest du unmittelbar vor dem Tod stehen.«
Jaxon nahm den Eisbeutel und hob den Kopf an. Die Haut unter seinem rechten Auge war bereits dunkelblau eingefärbt und sichtbar geschwollen.
»Einen Treffer? Sie hat mir fast das verdammte Jochbein zertrümmert«, motzte er und sah zu Nora, die immer noch lachte.
»Schatz, das überschminken wir morgen und dann wird keiner deiner Brüder etwas davon erfahren«, sagte Nora und versuchte, nicht ganz so schadenfroh dabei zu klingen.
Freya stand mittlerweile hinter den beiden und biss sich auf die Lippen, um sich das Lachen zu verkneifen. Denn eigentlich wollte sie nicht noch mehr Salz in die Wunde kippen. Obwohl sie eigentlich ziemlich stolz auf sich war, denn nach all den Jahren, in denen sie mit ihrem Vater trainiert hatte, war es nie passiert, dass sie einen ernsthaften Treffer landen konnte. Nun, heute hatte sich diese Tatsache geändert. In einem unachtsamen Moment von Jaxon konnte sie seinen Schlag ausweichen und ihr Gegenangriff traf ihn mit voller Wucht. Er verlor das Gleichgewicht, stolperte über seine eigenen Beine und krachte zu Boden. Freya schoss sofort ein Grinsen ins Gesicht. Jaxon hingegen musste sich wohl eingestehen, dass sie ihn besiegt hatte. Das erste Mal und auch wenn es ihm zeigte, dass er die letzten Jahre alles richtig gemacht hatte, musste er diese Niederlage erstmal verdauen. Tja, und wie es sich für so einen richtigen Mann gehörte, ging das natürlich nicht ohne sein Leiden lautstark, jedem mitzuteilen.
Nora schüttelte den Kopf, während Jaxon gerade wieder anfing in sich hineinzumaulen, als die Haustür aufging und Liam das Haus betrat. Freya runzelte die Stirn und sah ihn fragend an.
»Kommst du jetzt erst nach Hause?«
Liam nickte.
»Ja, hab Jan noch geholfen einen Motorblock bei einer Harley einzusetzen. Hat länger gedauert als gedacht«, erwiderte er und sah zu Nora, die immer noch neben Jaxon stand.
»Alles okay?«, fragte er, denn er konnte weder die Miene seiner Mutter deuten noch eine sinnvolle Erklärung finden, warum sein Vater auf der Couch lag.
Tat er nie und schon gar nicht einen Abend vor der großen Feier.
»Lass es dir von deinem Vater erklären oder besser noch, zeigen«, sagte Nora, schmunzelte und ging zurück in die Küche.
Man sah förmlich, wie die Fragezeichen über Liams Kopf aufstiegen, doch im selben Moment setzte sich Jaxon erneut auf, nahm denn Eisbeutel beiseite und sah zu seinem Sohn.
»Heilige Scheiße! Was ist denn mit dir passiert?«, fragte dieser fassungslos.
»Frag deine Schwester«, schnaubte Jaxon und legte sich wieder nieder.
Liam sah mit hochgezogenen Brauen zu Freya, die ihm breit angrinste.
»Ich habe meinen ersten richtigen Treffer im Zweikampf gelandet«, sagte sie und machte dabei Boxbewegungen.
Liam sah zurück zu seinem Vater.
»Tja, Dad. Du wirst nicht jünger. Was?«, sagte Liam und klopfte ihm auf den Oberschenkel.
»Haut einfach ab«, raunte Jaxon seinen Kindern genervt entgegen.
»Denn gefallen tu ich dir mit Vergnügen«, sagte Freya und machte sich auf den Weg zur Haustür.
»Tom?«, fragte Liam.
»Jap«; antwortete sie knapp und zog sich ihre Lederjacke über.
»Ich komm mit«, sagte Liam, machte einen Abstecher zum Kühlschrank und nahm zwei gekühlte Flaschen Bier heraus.
Nora sah ihren Kindern nach und schüttelte den Kopf.
»Essen steht im Herd. Müsst ihr nur nochmal warm machen. Ich nehme den Sandsack da drüben und geh ins Bett.«
»Sandsack?«, wiederholte Jaxon erschüttert, doch Nora winkte nur ab und ging zu ihren Kindern.
»Vorsichtig fahren und macht nicht so lange«, forderte sie und drückte beiden einen Kuss auf die Wange.
»Danke, Mum«, kam es aus beiden Mündern gleichzeitig.
Sie lächelte ihre Kinder an.
»Sagt Tom liebe Grüße und der Tequila liegt im Eisfach«, sagte Nora, während sie schon auf den Weg zurück zu Jaxon war.
»Was würden wir nur ohne dich machen?«, fragte Freya und lachte.
Nora drehte sich zu ihnen und sah ihre Kinder grinsend an.
»Sterben oder zumindest die Kontrolle über euer Leben verlieren«, erwiderte sie und sah zurück zu Jaxon.
»Los, alter Mann. Wir müssen schlafen, die nächsten Tage werden lang«, hörten Freya und Liam noch während sie nach draußen verschwanden.
Das Gelände war schon völlig von der Dunkelheit, der Nacht verschlungen. Das rege Treiben der letzten Stunden war verstummt und es wirkte alles so still und friedlich.
»Die Ruhe vor dem Sturm, was?«, fragte Liam, während er neben Freya zu den Garagen lief.
Diese nickte und gab ein gedankenverlorenes ja von sich.
Genau eine Stunde später betraten Liam und Freya den Flughafen. Dank der späten Stunde war auch hier kaum eine Menschenseele zu finden. Nervosität machte sich in Freya breit, denn das letzte Treffen mit Tom lag fünf Monate zurück. Es fühlte sich aber eher an wie Jahre und sie wollte nichts mehr, als ihn endlich wieder in die Arme zu schließen.
Ungeduldig lief Freya vor der Tafel auf und ab, die ihr seit Minuten sagte, dass Tom jeden Moment vor ihr auftauchen sollte. Es waren schon einige Passagiere aus dem Flieger an ihnen vorbeigelaufen, aber von Tom fehlte noch jede Spur. Genervt, denn ja, Geduld war keine von Freyas Stärken, ließ sie sich auf einer der unbequemen Bänke fallen und tippelte mit dem Fuß auf den Boden.
»Da ist er ja«, sagte Liam plötzlich und sofort schoss Freyas Kopf nach oben.
Ihr Blick musterte die Menschen, die durch die große Tür gelaufen kamen und als sie dieses unsagbar wundervolle Lächeln sah, sprang sie auf und rannte los.
Tom ließ den Rucksack aus seiner Hand gleiten und machte sich bereit Freyas Begrüßung standzuhalten, was bitternötig war. Ohne abzubremsen, sprang sie ihm förmlich in die Arme, schlang ihre Beine um seine Hüfte und vergrub ihren Kopf augenblicklich in seiner Halsbeuge.
»Bei den Göttern. Ich habe dich so vermisst«, raunte sie ihm ins Ohr.
Tom legte seine Arme um ihre Hüfte und drückte sie fest an sich. Wie hatte er das vermisst. Wie hatte er sie vermisst. Manchmal fragte er sich, wie er es überhaupt schaffte, so viele Meilen von ihr und dem Rest dieser Familie zu leben, ohne den Verstand zu verlieren. Er zog die Luft, welche mit ihrem Duft bereichert war, tief in sich ein und ein zufriedenes Lächeln legte sich auf sein Gesicht.
»Ich euch erst«, erwiderte er knapp.
Freya drückte ihm einen festen Kuss an den Hals und lehnte sich dann zurück, um ihn in seine bernsteinfarbenen Augen zu blicken. Pure Freude und Glück leuchteten ihr entgegen, was ihr Herz aufhüpfen ließ. Sie fuhr ihm durch seine kurzen, dunkelbraunen Haare, weiter zu seinem Dreitagebart.
»Steht dir«, sagte sie und Tom lachte.
»Faulheit«, erwiderte er, denn eigentlich gehörte Tom zu den glattrasierten Typen.
Er ließ Freya wieder zu Boden und drückte ihr ebenfalls einen Kuss an den Hals.
»Na sei es drum. Sehr stilvolle Faulheit.«
Liam, der die ganze Zeit geduldig neben den beiden gewartet hatte, schob sich jetzt zwischen sie und schlug mit Tom ein, bevor sie sich gegenseitig in eine feste Umarmung zogen.
»Willkommen zu Hause, Bruder.«
Tom klopfte Liam auf die Schulter und ließ dann von ihm ab.
»Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich mich auf diesen Satz gefreut habe«, sagte Tom und seufzte erleichtert.
Liam schnappte sich den Rucksack, welcher neben Tom am Boden lag, und Freya legte den Arm um Tom.
»Na dann, auf zu den Irren.«
Die drei verließen den Flughafen und während Freya das Auto von dem riesigen Parkplatz fuhr, drehte Liam sich zu Tom, der auf der Rücksitzbank saß.
»Ich hab was für dich«, sagte er und reichte Tom eine der Bierflaschen.
Sofort glänzten Tom seine Augen vor Freude.
»Leck mich doch! Ein Blacks Brewery. Das gute irische Bier. Ich könnte dich glatt knutschen«, sagte Tom, während er nach der Flasche griff.
»Gibt es kein Bier bei euch?«, fragte Liam, der tatsächlich etwas verwundert war über Toms Reaktion.
Tom gab ein verächtliches Schnauben von sich und nahm einen großen Schluck des Biers, bevor er sprach.
»Wein. Diese Spießer trinken nur Wein und nicht eine Flasche am Abend... Nein, ein Glas. Samstagabend. Überleg dir das Mal.«
Erst jetzt stieß er endlich mit Liam an.
»Na ja, deiner Leber schadet es sicher nicht«, sagte Freya lachend.
»Leber am Arsch. Ich saufe jetzt schon immer vor, bevor ich mich mit diesen Idioten treffe, anders ertrage ich dieses Gelaber nicht mehr. Ich weiß wirklich nicht, wie lange ich das noch aushalte«, quasselte Tom und nahm schnell den nächsten Schluck.
»Es sind nur noch zwei Jahre«, sagte Freya, während sie Tom über den Rückspiegel beobachtete.
Wieder schnaubte er.
»Du meinst noch, oder?«
Tom war drei Jahre älter als Freya und Liam und studierte seit drei Jahren Humanmedizin. Noch zwei weitere und er konnte endlich zurück, um seinen Facharzt zu machen. Als er damals mit seinem Studium begann, war er gezwungen nach London zu ziehen. Das lag zwar nur fünf Flugstunden entfernt, aber Uni und Arbeit kosteten ihn so viel Zeit, dass er nicht die Möglichkeit hatte, regelmäßig zu den Shields zu reisen.
Freya biss sich auf die Lippe, denn sie wollte die nächste Frage nicht stellen, aber sie beschäftigte sie schon ein paar Tage und ohne Antwort, würde ihr Kopf niemals Ruhe geben. Sie seufzte leise und starrte auf die leere Straße.
»Hat sich etwas an deinen Zukunftsplänen geändert?«, fragte sie schließlich.
Toms Lippen umspielte ein Lächeln.
»Nein. Niemals. Alles beim Alten«, erwiderte er.
Freya atmete tief ein und sofort spürte sie, wie der Stein in ihrem Magen, der sich immer wieder bei diesem Thema bildete, verschwand.
Tom hatte sich bereits vor Antritt seines Studiums dazu entschieden einmal Arzt des Motorradclubs zu werden. Aktuell gab es zwar jemanden, der die Familie rundum versorgte, ohne Fragen zu stellen, aber dieser ging mit großen Schritten auf die Rente zu und Tom sollte und wollte sein Nachfolger werden. Er fühlte sich beinahe schon dazu verpflichtet, als Dank, für alles, was die Shields für ihn getan hatten.
Die Vergangenheit von Tom war nicht sonderlich schön, mit anderen Worten. Sie war miserabel. Er wuchs in Heimen auf, nachdem seine Eltern bei einem Unfall gestorben waren. Tom war damals erst vier Jahre alt.
Mit sechs Jahren wurde er adoptiert und mit acht Jahren lernte er Liam und Freya in der Schule kennen. Toms Adoptiveltern interessierten sich nicht sonderlich für ihn und waren für jeden Moment dankbar, an denen er nicht zu Hause war. Er fing an mehr und mehr Zeit mit Liam und Freya zu verbringen und so wurden sie nicht nur unzertrennlich, sondern er verbrachte auch bald mehr Zeit mit den Shields als mit seiner eigentlichen Familie. Tom hatte bei ihnen das erste Mal das Gefühl, dass er an einem Ort wirklich erwünscht war und so bedeutete Freya, die Shields und dieser Club ihm mittlerweile alles. Sie halfen ihm dabei seine Vergangenheit aufzuarbeiten. Er konnte jederzeit bei ihnen aufschlagen und bleiben solange er wollte. Sie nahmen ihn mit in den Urlaub und Nora gab sich am Telefon auch mehrfach als seine Mutter aus, wenn sie mal wieder Bockmist gebaut hatten. Das Einzige, was Nora verlangte, war absolute Ehrlichkeit ihr gegenüber und an diese Bitte hatte sich Tom in jeder Situation gehalten.
Er war quasi zum dritten Kind von Nora und Jaxon geworden und genauso wurde er auch heute noch behandelt. Sie liebten ihn und wären fast vor stolz geplatzt, als er ihnen mitteilte, dass er vor hatte Arzt zu werden. Das er, sobald er sein Studium abgeschlossen hatte, in die Dienste des Clubs treten würde, war nur das Sahnehäubchen und etwas, was Nora und Jaxon niemals von ihm verlangt hätten.
Für Tom hingegen war es das einzig Richtige, was er mit seiner Zukunft anstellen wollte.
Es war weit nach zwei Uhr nachts, als sie endlich auf dem Grundstück ankamen, doch an schlafen dachte keiner der drei. Sie hatten das Haus noch nicht mal richtig betreten, da holte Liam bereits die Tequila Flasche aus dem Eisfach und Freya schaltete den Herd an.
»Tequila? Habt ihr nicht morgen Schule?«, fragte Tom, während er sich auf die Couch fallen ließ.
Liam zuckte mit den Schultern und setzte sich neben ihn.
»Haben wir, aber hat uns das jemals vom Trinken abgehalten?«
Tom lachte und schüttelte den Kopf.
»Also alles beim Alten, wie ich sehe.«
»Alles beim Alten«, wiederholte Freya und gesellte sich zu den beiden.
So saßen sie zusammen, aßen und vernichteten einen Shot nach den andern, bis es kurz nach vier war. Liam war der Erste, der versuchte aufzustehen, dabei stolperte und fast zu Boden fiel, wenn ihn nicht der Sessel gerettet hätte.
Sofort brach Gelächter aus.
»Nisch...lache...i...muss...is...Betsch«, lallte Liam vor sich hin und startete einen neuen Versuch des Aufstehens.
Freya nickte vor sich hin, denn sie fühlte sich, wie Liam aussah, und Tom grinste auch nur noch dämlich vor sich hin.
»Bin dabei«, erwiderte Freya und bemühte sich, halbwegs grade aufzustehen.
Tom schwieg, richtete sich einfach nur auf und gemeinsam torkelten sie der Treppe entgegen. Na und, gemeinsam war nichts unmöglich. Sie stützten, schoben und schubsten sich gegenseitig die Treppe hoch und wie durch ein Wunder fiel keiner von ihnen rückwärts wieder nach unten.
Nun, wie heißt es so schön: Betrunkenen und kleinen Kindern passiert nichts. Tja, war wohl deren Glück.
Liam bog in sein Zimmer ab und sie hörten es laut krachen, gefolgt von ein paar lallenden Flüchen und plötzlich eintretender Ruhe. Freya und Tom sahen sich an, zuckten mit den Schultern und stolperten dann in Freyas Zimmer weiter.
Freya lief ohne Umschweife durch das Wohnzimmer, direkt zu ihrem Bett und ließ sich samt ihren Klamotten einfach fallen.
Tom hingegen blieb neben der Couch stehen und sah ihr nach.
»Soll ich die Couch nehmen?«, fragte er extrem langsam, dafür fehlerfrei.
Sie klopfte nur auf die Matratze neben sich. Tom grinste.
»Also immer noch Single?«, fragte er und folgte ihr ins Schlafzimmer.
»Wenn sich was daran ändert, weißt du es zuerst«, raunte sie ihm mit schläfriger Stimme entgegen und so, wie sie spürte, dass die Matratze unter seinem Gewicht nachgab, war sie bereits eingeschlafen.
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